Einleitung
Das Genre des Kriminalfilms
Der Kriminalfilm ist von allen Filmgenres quantitativ das umfangreichste. Darin manifestiert sich seine funktionelle Bedeutung für Individuum und Gesellschaft. Das Kriminalgenre handelt von den Überschreitungen der gesellschaftlich gegebenen Regeln und der Verfolgung und Ahndung des Gesetzesbruchs. Indem es das Verbrechen und seine Aufklärung zum Thema macht, trägt es auf unterhaltende Weise zur Sicherung des Status quo der Gesellschaft bei.
Balance zwischen Verbrechensfaszination und Ordnungssicherung
Neben dem Kriminalroman ist der Kriminalfilm die zentrale mediale Form, in der sich das Genre realisiert und den gesellschaftlichen Veränderungen immer wieder neu anpasst. Grundlegend ist für das Genre eine Balance zwischen der Verletzung der Normen und ihrer Wiederherstellung, zwischen Unordnung und Ordnung, zwischen der Ausübung des Verbrechens und seiner Bekämpfung. Auch wenn sich in einzelnen Subgenres die Gewichte zwischen diesen Polen verschieben können, wenn einzelne Filme ganz auf die Wiederherstellung der Ordnung verzichten, die Existenz dieser Balance bildet den Erfahrungshintergrund des Publikums.
Der Grenzverstoß spricht die heimlichen Bedürfnisse der Zuschauer und Leser nach einem Ausbruch aus der Ordnung, nach dem Ausleben von geheimen Wünschen und dem Beschäftigen mit dem Unerlaubten an. Er setzt uns in Erregung und erzeugt Spannung, weil er eine Gefährdung und damit letztlich etwas Unerhörtes darstellt.
Die Wiederherstellung der Ordnung durch das Aufdecken des Tathergangs und die Überführung des Täters beruhigt und stellt klar, dass sich der Ausbruch aus den gesellschaftlichen Normen nicht lohnt und der Zuschauer in ihrem Befolgen gut fährt und sich auf der richtigen, wenn auch vielleicht langweiligen Seite befindet. Die Erregung der Gefühle soll eben – so eine Hauptaufgabe der Medien – an ein Produkt gebunden bleiben. Die Balance von Unordnung und Ordnung auf der Ebene der Handlung und der Narration entspricht beim Publikum der Balance von Spannung und Entspannung, Erregung und Befriedung der Gefühle. Obwohl die Zuschauer das Schema der Kriminalgeschichten schon hundert- oder tausendmal gesehen haben, bei dem zu Beginn die Regelverletzung (meist ein Mord, der die Fallhöhe steigert) und am Ende die Überführung des Täters steht, obwohl das Muster also mehr als bekannt ist, hat sich die Attraktion des Genres ungebrochen gehalten, sucht das Publikum in immer neuen Variationen nach der Bestätigung des Schemas.
Die modernen Gesellschaften wiederum sind darauf angewiesen, dass die Medien – und hier besonders Film und Fernsehen in der sinnlich attraktiven audiovisuellen Form – den Verstoß gegen die Normen des Zusammenlebens und das erneute Inkraftsetzen der Normen anschaulich und nachdrücklich darstellen und beides wieder und wieder emotional einprägsam vorführen.
Der Kriminalfilm sorgt als massenmediale Form auf unterhaltende Weise für die Stabilität der Verhältnisse, gerade weil er immer wieder aufs Neue ihr Infragestellen durch Einzelne thematisiert. Denn letztlich erzählt jeder Kriminalfilm davon, wie die Verunsicherung durch den Einbruch des Verbrechens in die Welt beseitigt, wie die Wunde am sozialen Körper geheilt wird. Doch die Bestätigung des Bestehenden ist wenig unterhaltend; von der ungebrochenen Fortdauer der Ordnungen zu hören ist langweilig. Deshalb spielt der Kriminalfilm mit den Reizen des Verbrechens als Zeichen einer abenteuerlichen Herausforderung und leuchtet mit Vorliebe in die Abgründe der ausbrechenden Seele, in die Verirrungen der Beziehungskonflikte. Er spielt mit der Vorstellungskraft und der Fantasie der Zuschauer, er schürt die verschiedenen Formen des Begehrens – um sie am Ende umso nachhaltiger zu bekämpfen und zu disziplinieren.
Das zugrunde liegende Schema von Gut und Böse ist nur in den Anfängen des Kriminalfilms bzw. in spezifischen Subgenres, z.B. im Spionagefilm während des Zweiten Weltkriegs, sowie in den comic-haften Figurenzeichnungen einzelner Filme wirklich durchgehalten. Die Geschichte des Genres kennt viele Versuche, den naheliegenden Manichäismus immer wieder zu unterlaufen, nicht ›schwarzweiß‹, sondern eher in Graustufungen zu erzählen, ›gebrochene‹ Helden einzuführen, zu differenzieren und dadurch das strikte Schema abzuschwächen und den Geschichten Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Begann der Kriminalfilm in seinen stummen Anfängen und Filmserien als eine Schilderung des kriminellen Milieus als eines speziellen Sektors im ›Dschungel‹ der Metropolen, so war die eigentliche Botschaft des Kriminalfilms bald danach die, dass es keine spezifisch kriminellen Milieus gibt, sondern dass das Verbrechen überall stattfinden kann und insbesondere unter der Maske des Biedermanns besonders häufig auftritt. Die geordneten Verhältnisse, so erzählt der Kriminalfilm, sind im Kern oft verrottet, das Verbrechen lauert hinter dem schönen Schein – und es bedarf der Beharrlichkeit der Ermittler und Aufklärer, des unbeirrbaren Gerechtigkeitssinns Einzelner, damit die Wahrheit ans Licht kommt.
Zu den master narratives des Genres gehört allerdings auch der unfähige Polizist, die korrupte Behörde, die eine Aufklärung der Tat fast verhindert hätten. Auch hier sind es unbeirrte Einzelne, die gegen allen Widerstand der Institutionen dem Recht doch noch zu seinem Sieg verhelfen. Hinter dem Einsatz dieser Genremuster und Handlungsstereotypen steckt die besondere ordnungspolitische Botschaft, dass selbst bei so schlecht bestallten staatlichen Ordnungskräften das organisierte Verbrechen letztlich keine Chance hat.
Genregeschichte als Mediengeschichte
Wie alle großen Genres ist das Kriminalgenre in sämtlichen erzählenden und darstellenden Medien präsent. Kriminalgeschichten gibt es als Buch und Theaterstück, als Kalendergeschichte, in Illustrierten, als Film, Hörspiel und Radioserie, als Fernsehspiel und Fernsehserie, als Video- und Computerspiel und im Internet. Jedes neue Massenmedium hat sich des Genres bemächtigt und seine eigenen medialen Formen entwickelt.
Verbrechensdarstellungen gibt es seit der Antike in zahlreichen Varianten. Belehrung durch Unterhaltung ist als Konzept nirgends so konkret zu erleben wie in der Kriminalgeschichte. Die eigentliche Ausformung der Kriminalgenres setzt jedoch erst im 19. Jahrhundert ein, als die Erklärung von Tathergang und Täter keine Gottesbeweise und keine Willkür mehr zuließ, sondern auf rationale Nachvollziehbarkeit und Stimmigkeit des Tathergangs, damit auch auf Indizien, Beweise und Geständnisse setzte. Das Genre setzt die Existenz eines zumindest in Ansätzen rational argumentierenden Justizwesens voraus und ist auf strukturelle Weise mit der Durchsetzung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes und eines rationalen Denkens verbunden, ohne dass es selbst deshalb vom Grundgestus der Fiktionalität Abstand nimmt. Die Spuren, die der Mensch bei jedwedem Agieren in der Welt hinterlässt (auch diese hinter dem Krimi stehende Auffassung entspringt dem 19. Jahrhundert), bedürfen des erkennenden Geistes: Das Ingenium des Detektivs – wie z.B. Sherlock Holmes – fügt die am wenigsten zusammenpassenden Details zu einem stimmigen Puzzle zusammen und bringt sie zum Sprechen. Am Ende fügt sich alles zu einem klaren Bild, das aus den zahlreichen Indizien eine – allerdings häufig in kuriosen Volten miteinander verknüpfte – plausible Geschichte entstehen lässt.
Die Geschichte des Kriminalgenres ist über Edgar Allan Poe und Conan Doyle mit der Entwicklung der Massenpresse und des Zeitschriftenwesens verbunden. Wo die Zeitung die neuen Nachrichten über katastrophische und andere Einbrüche in die Normalität der Gesellschaft als aktuelle Nachricht bringt, wo der Bericht über die konkreten Verbrechen auf die Sensationsneugierde eines breiten Lesepublikums stößt, bietet die fiktionale Kriminalgeschichte einen bereits zu seinem Ende gebrachten Fall. In den Verbrechensgeschichten der Journale wird der Einbruch in die Ordnung am Ende immer wieder beseitigt. So wie der Film seit seinen Anfängen nicht nur ein Medium der Fiktionen und Träume, sondern auch eines der Repräsentation der realen Welt war, fand sich im Kino neben den Wochenschauberichten von großen Kriminalfällen immer auch ein Platz für das fiktionale Kriminalgeschehen. Mit dem Film gewann die Kriminalunterhaltung eine neue Erzählinstanz, die zur enormen Verbreitung des Genres in der massenmedialen Unterhaltung beitrug.
Bereits für die Frühgeschichte des Kinos lassen sich Kriminalfilme nachweisen. Die 1910er Jahre kennen die Kriminalfilmserien, die sich an die Detektiv- und Verbrechensgeschichten der Kolportagehefte als Serienliteratur anlehnen. In den zwanziger Jahren bildet das Genre eigene filmische Formen aus: in den USA mit dem Subgenre des Gangsterfilms, in Deutschland mit künstlerisch anspruchsvollen Einzelproduktionen wie M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931).
Die Innovationen im Genre verbinden sich seit seinen Anfängen wiederholt mit den Namen von Autoren und mit der literarischen...