Die etwas vollmundig geratene Überschrift dieses Kapitels irritiert zunächst ein wenig, denn auf ein klar formuliertes und somit aussagekräftiges kulturpolitisches Programm konnten sich die konkurrierenden ideologischen Gruppierungen innerhalb der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zu keinem Zeitpunkt verständigen. Einigkeit bestand allerdings von Beginn an in zweierlei Hinsicht: zum einen in der Forderung nach bedingungsloser Wahrung des Primats der Politik gegenüber dem Autonomieanspruch der Künste und zum anderen bei der Definition des Feindbildes, also der Bestimmung all dessen, was als „artfremd“ der deutschen Kultur nicht „wesenseigen“ und daher auszumerzen sei. Das totalitäre Selbstverständnis des Nationalsozialismus als Träger einer politischen und kulturellen Erneuerungsbewegung[3] tritt im folgenden Zitat aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“ (1926) besonders deutlich hervor: „Dieses Reinemachen unserer Kultur hat sich auf fast alle Gebiete zu erstrecken. Theater, Kunst, Literatur, Kino, Presse, Plakat und Auslagen sind von den Erscheinungen einer verfaulenden Welt zu säubern und in den Dienst einer sittlichen Staats- und Kulturidee zu stellen.“[4]
Für jene von Hitler diagnostizierten „Erscheinungen einer verfaulenden Welt“ – also für die kulturelle Moderne schlechthin – prägte die Zwischenkriegszeit ein Schlagwort mit verhängnisvoller Integrationswirkung: den Kultur-bolschewismus. Es verband bürgerliche Urängste vor einem kommunistischen Umsturz nach russischem Vorbild mit der im Bildungsbürgertum mindestens ebenso tief verwurzelten Hoch- bzw. Überschätzung der zivilisatorischen Wirkungen von Literatur, Musik und bildender Kunst. Der überwiegende Teil des deutschen Bürgertums sah das klassisch-humanistische Erbe nun durch die zunehmend erfolgreichen Künstler der Moderne gefährdet, ja er betrachtete die in seinen Augen „entarteten“ modernen Künste gar als wichtigen Bestandteil einer von der „Linken“ besonders arglistig betriebenen „geistige[n] Vorbereitung des politischen Bolschewismus“ (Hitler ; 1926 ).[5]
Genau dies unterstellte der radikalnationalistische Teil des deutschen Bildungsbürgertums auch dem jungen demokratischen Staat – welcher die Avantgarde in seinen Museen, Theatern, Orchestern und Akademien ja schließlich nach Kräften förderte – und bezichtigte ihn deshalb der vorsätzlichen Zerstörung des klassischen Kulturerbes. Der Romanist Ernst Robert Curtius etwa beklagte mit dem „Einbruch der Demokratie in die Geistigkeit“ insbesondere den Verlust einer allgemeinverbindlichen, nationalen Hochkultur. Die neue Vielfalt und Unübersichtlichkeit geißelnd konstatierte er bitter: „Unsere kulturelle Lage ist angewandter Parlamentarismus.“[6] Führende Nationalsozialisten sahen das nicht anders und griffen jene kombinierte Ablehnung von „Weimarer System“ einerseits und „entarteten“ modernen Künsten andererseits von Anbeginn geschickt auf.
Seit Ende der 1920er Jahre gelang es ihnen immer besser, antirepublikanische, antisemitische und antimoderne Ressentiments unter dem Banner des Kampfes gegen den vermeintlich überall lauernden „Kulturbolschewismus“ in Wählerstimmen zu verwandeln; Hitler erschien nun breiten bürgerlichen Kreisen als der kommende „Retter“ der deutschen Kunst, welcher sie endlich von allem „Undeutschen“ und „Artfremden“ befreien würde.[7] Welchen Stellenwert diese „Reinigung“ in der NS-Kulturpolitik einnehmen würde, verriet bereits das Parteiprogramm der NSDAP vom 24. Februar 1920 (erneuert 1926). Dort heißt es: „Wir fordern den gesetzlichen Kampf gegen eine Kunst- und Literaturrichtung, die einen zersetzenden Einfluss auf unser Volksleben ausübt, und die Schließung von Veranstaltungen, die gegen vorstehende Forderungen verstoßen.“[8]
Nach Hitlers Auffassung hatten Literatur, Musik und bildende Künste ausschließlich dem „Erhabenen und Schönen“ zu dienen. Als der „Trägerin des Natürlichen und Gesunden“[9] erwarteten die Nationalsozialisten von der künftigen deutschen Nationalkultur daher keine Projektionen subjektiver Innenwelten oder gar Darstellungen der konfliktreichen Wirklichkeit.[10]
Vielmehr schwebte ihnen das „Ideal (...) eine[r] tiefe[n] Vermählung des Geistes der heroischen Lebensauffassung mit den ewigen Gesetzen der Kunst“ vor.[11] „Heroisch“ handelte nach nationalsozialistischem Selbstverständnis nicht nur der zu allem Notwendigen entschlossene und tatkräftige „Führer“, sondern auch jeder einzelne „Volksgenosse“, solange er nur sein Leben in den Dienst der neuen völkischen Gemeinschaft stellte. Die hier nur angedeutete Entgrenzung des „Erhabenen und Schönen“ aus dem elitären Bereich der hohen Kultur in den zwar von „Heroismus“ geprägten, letztlich aber doch trivialen Lebensalltag der „Volksgemeinschaft“ sollte zumindest tendenziell die bestehende Hierarchie zwischen Höhen- und Massenkünsten im Interesse der Homogenität des deutschen Volkes einebnen: Ob Politik, Rasse, Arbeit oder Freizeit – allem wollten die Nationalsozialisten „Schönheit“ und „Würde“ verleihen und es so zu einer tief im „Volkstum“ verwurzelten Einheit „überhöhen“.[12]
Heroische Schönheit – bezeichnet auch als „stählerne Romantik“ oder „Schönheitsideal nordischer Prägung“[13] – bildete also den nebulösen, auf dem Primat des Politischen fußenden Leitbegriff aller NS-Kulturideologen. Auf welche Weise er zu verwirklichen sei, blieb unter ihnen allerdings bis zuletzt umstritten.
Als Hauptkontrahenten dieses Konflikts standen sich Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg gegenüber. Bis zur Ernennung Goebbels’ zum „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“ am 13. März 1933 gab zunächst letzterer die kulturpolitische Marschrichtung vor.[14] Rosenberg, langjähriger „Hauptschriftleiter“ beim „Völkischen Beobachter“ und Autor des sogar in nationalsozialistischen Kreisen häufig belächelten Buches „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930) – Hermann Göring etwa verspottete es schlichtweg als „philosophischen Rülpser“[15] – verstand sich selbst als kompromissloser Wächter über die Reinheit einer völkisch-mystischen, Germanentum und Mittelalter wirr miteinander vermischenden Kunstidee.[16] Besondere Bedeutung maß er dabei dem Theater zu, in welchem den „Volksgenossen“ mit propagandistischen Stücken wie Hanns Johsts „Schlagether“[17] oder durch gemeinschaftliche Thing-Spiele das „Ideal der nordischen Rasse“ vermittelt werden sollte.[18] Von der „krausen Welt“ solcher „Rückwärts“ hielt Hitler jedoch ebenso wenig wie von den Plänen der zeitweise auch durch Goebbels unterstützten NS-Gruppe „Der Norden“, welche u. a. die modernen Künstler Emil Nolde, Ernst Barlach und Karl Schmidt-Rottluff als Vertreter eines „nordischen Expressionismus“ zur Speerspitze der kommenden „arischen Kulturrevolution“ zu stilisieren versuchte.[19] Neben Tizian, Bordone, Pannini oder Spitzweg favorisierte der „Führer“ stattdessen insbesondere die Genremalerei im Stil des 19. Jahrhunderts mit ihren vormodernen volkstümlichen Sujets und trivialen Allegorien.[20] Richard Wagners Musikdramen suchte Hitler vor allem nach übersteigerten theatralischen Effekten ab – sinfonischen und kammermusikalischen Werken oder gar anspruchsvoller Lektüre zog er stets Operettenaufführungen, Kinoabende oder sentimentale Gesellschaftskomödien vor. Adolf Hitler war also keineswegs ein „praktizierender Bildungsbürger“ (Bollenbeck). Aber in seinen zahlreichen „Kulturreden“, in denen er wiederholt bei Wagner, Chamberlain oder Moeller van den Bruck Angelesenes mit eingeübtem Pathos beschwor, gelang es ihm, sich den alten Bildungseliten als solcher zu präsentieren. Fortan – so versicherte der „Führer und Reichskanzler“ seinen bildungsbürgerlichen Zuhörern wortreich – werde allein wieder das Klassische, Bewährte und Bewahrende die deutschen Theater, Galerien und Kunsthochschulen schmücken.[21]
Daran, am persönlichen Wohlwollen Hitlers und den Wünschen des Massenpublikums richtete der flexible Pragmatiker Goebbels ab 1933/34 die Kulturpolitik des Dritten Reiches aus. Auf diese Weise gelang es dem intelligenten und rhetorisch überlegenen Propagandaminister auch ohne Hausmacht innerhalb der NSDAP, den Einfluss des „unerträglichen“ und „sturen Dogmatikers“ Rosenberg (so Goebbels über seinen Widersacher) kontinuierlich zurückzudrängen.[22]
Zu den Auswüchsen des „Kulturbolschewismus“ rechneten die meisten...