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Form und Funktion der Lyrik der 'Gießener Unbedingten'

AutorStephan Becht
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl150 Seiten
ISBN9783640345656
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 1998 im Fachbereich Didaktik - Deutsch - Literaturgeschichte, Epochen, Note: 1,5, Justus-Liebig-Universität Gießen, Veranstaltung: Staatsexamen L3, Sprache: Deutsch, Abstract: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und während der französischen Besatzungszeit Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Deutschland eine nationale Bewegung, die in erster Linie die Einheit des Vaterlandes und die Befreiung des Volkes von der Fremdherrschaft zu ihren politischen Zielen erklärte. Im Zuge dieser Entwicklung entstand vor und während des Krieges 1813/1814 die 'Lyrik der Befreiungskriege'. In den darauffolgenden Jahren entstanden auf der Basis dieser Lyriktradition im Umfeld einzelner Studentenbewegungen mehrere politische Schriften. Den Ausgangspunkt dieser Bewegungen bildete die in den Jahren 1815-1819 an der Gießener Ludivicana politisch aktive Gruppe der Gießener Schwarzen. Im Jahr 1817/1818 rekrutierte sich aus dem Kern dieser Verbindung der enge Kreis der sogenannten Unbedingten unter der Leitung der Brüder Karl und August Adolf Ludwig Follen. Aus diesem Kreis und dessen Aktivitäten ging eine Anzahl lyrischer Texte hervor, die bis heute in der literaturwissenschaftlichen Forschung nahezu unberücksichtigt geblieben sind. Die Hauptwerke der Lyrik der Unbedingten sind die 1819 in Jena herausgegebene Anthologie Freye Stimmen frischer Jugend und das sogenannte Große Lied. Vor dem Hintergrund der Ideologie, der Ideen, Ansichten, Ziele und Aktivitäten dieser Gruppe ist die Untersuchung ihrer Lyrik hinsichtlich der Frage nach ihrer Form und vor allem ihrer Funktion bislang in keiner Weise befriedigend aufgearbeitet worden. Dieser Umstand wird zum Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit, deren Schwerpunkt bei der Analyse ausgewählter Lieder des Liederbuches Freye Stimmen frischer Jugend liegt. Damit die Form und die Funktionen der Lieder umfassend herausgearbeitet werden können, erscheint eine induktive Vorgehensweise und die Formulierung einer allgemeinen Fragestellung notwendig. Die zentralen Fragen dieser Untersuchung lauten daher: Warum und mit welcher Absicht benutzen die Unbedingten Lyrik und warum insbesondere die Form des Liedes ?

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Leseprobe

2. Historische und geistige Voraussetzungen für die frühe Turn – und Studentenbewegung in Gießen


 

Im folgenden Kapitel soll herausgearbeitet werden, vor welchem politisch-sozia­len Hintergrund die Gruppe der Gießener Schwarzen entstand.

 

2.1. Die politische Situation in Hessen bis 1815


 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgten in der in zahlreiche „Einzelterritorien“ zerrissenen Landgrafschaft Hessen mehrere Gebiets- und Machtverschiebungen.[12]

 

Um der Auflösung seines Territoriums zu entgehen, ging der hessische Landgraf Ludwig X. nach dem Einmarsch französischer Truppen in das hessische Staatsge­biet im Jahr 1806 ein Militärbündnis mit Frankreich ein. Durch den Anschluß an den Rheinbund wurde Hessen in ein Großherzogtum umgewandelt.[13] Großherzog Ludwig I. erhielt durch diese „Revolution von oben“ vergleichbar absolutistische Vollmachten, die seinen Souveränitätswillen in der Folgezeit steigern mußten.[14] Diese „Souveränität“ bedeutete jedoch auch Bereitstellung von Geld, Material und Menschen für die Besatzer. Insofern war die Selbständigkeit des Herrschers durch seine Abhängigkeit von Napoleon beschränkt.[15] Dementsprechend mußte der Großherzog in den Jahren 1806 bis 1813 hessische Truppenkontingente für den Krieg gegen Preußen, Spanien, Österreich und Rußland zur Verfügung stel­len.[16] Erst im Herbst 1813 schlossen sich die Rheinbundfürsten beinahe unter Zwang den Alliierten an.[17]

 

2.2. Die Beschlüsse des Wiener Kongresses – die Situation in Hessen (1815 - 1820)


 

Auf dem Wiener Kongreß 1814/15 beschlossen die Siegermächte unter der Füh­rung des österreichischen Staatskanzlers Metternich die Neuordnung der politi­schen Verhältnisse Deutschlands.[18] Die vielfältigen politischen, sozialen und ge­sellschaftlichen Unterschiede innerhalb Deutschlands, die Eigeninteressen der Großmächte und das Souveränitätsbedürfnis der deutschen Kleinstaaten sprachen gegen die Bildung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates.[19] In völliger Übereinstimmung setzten die Großmächte die Auflösung des Reiches (1806) „als irreversiblen Einschnitt[20] voraus. Durch die Schlußakte vom 10. Juni 1815 er­folgte daher die Aufteilung Deutschlands in 38 unabhängige, souveräne Einzel­staaten. Dieser unauflösbare Deutsche Bund bildete eine lockere völkerrechtliche Vereinigung. Mit einem Bundestag unter österreichischem Vorsitz knüpfte er in veränderter Form an die Korporationsformen der Rheinbundstaaten an.[21] Der Ar­tikel 13 der Bundesakte sah die Einführung einer landständischen Verfassung in den einzelnen Staaten vor.[22] Braun schließt sich den Ausführungen Soldans an, daß Ludwig I. von Hessen die Bestimmungen des Artikels 13 in seinem Land nicht habe durchführen können, da er aufgrund der erneuten Gebietsveränderun­gen „erst die Zustände und Bedürfnisse in den neuen Landesteilen kennenlernen wollte“.[23]

 

Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß der Großherzog die Einführung einer Ver­fassung gar nicht durchzuführen beabsichtigte, da dies seine souveräne Macht mehr oder weniger einschränken mußte. Diese These wird zudem durch die Tat­sache belegt, daß in anderen deutschen Staaten trotz territorialer Veränderungen landständische Verfassungen eingeführt wurden.[24] Die in den folgenden Jahren durch die Bestrebungen zur Wiederherstellung der Stände und der Auswande­rungswelle im Hungerjahr 1816/17 gekennzeichnete Situation beruhigte sich erst, nachdem der „widerstrebende“ Großherzog genötigt worden war, den von Staats­rat Heinrich Knaup bearbeiteten Verfassungsentwurf am 17. Dezember 1820 zu billigen.[25]

 

2.3. Die geistige Situation


 

2.3.1  Exkurs: Die Entwicklung der national-patriotischen Bewegung in Deutschland 1806-1814


 

Aufgrund der französischen Besatzung Anfang des 19. Jahrhunderts und der damit verbundenen wachsenden Erbitterung über „fremde Bevormundung und Will­kür[26] entstand zu dieser Zeit in Deutschland eine Bewegung, die die „Wiederherstellung der Selbständigkeit Deutschlands und eine nationale Eini­gung forderte“.[27]

 

Dabei nahmen sowohl äußere als auch innere Faktoren Einfluß auf das nationale Erwachen.[28] Der wichtigste Faktor für die Entstehung der nationalen Bewegung in Deutschland war der Glaube an die eigene Bedeutung: Man war stolz auf die gei­stigen Errungenschaften in Literatur, Sprache, Wissenschaft und Kunst, kulturell war man zu einer Nation geworden.

 

Die Überzeugung, daß diese geistige Gemeinschaft auch zu politisch-

 

staatlichem Zusammenschluß gelangen sollte, brach sich angesichts der

 

jammervollen Zerklüftung und Ausschaltung Deutschlands [...] Bahn [...].[29]

 

Zur Ausbildung dieser Überzeugung trugen dabei die Ideen und Lehren mehrerer gelehrter Persönlichkeiten bei. Fichte forderte dazu auf, das deutsche „Urvolk“ zur wirklichen Gemeinschaft zu erziehen, „damit ein deutscher Volksstaat als Kern des Vernunftreichs der Menschheit entstehe.[30] Auch Herders Erkenntnisse über die geschichtlichen Eigentümlichkeiten und das organische Wachstum der Völker beeinflußte die Romantiker: Sie entwickelten „philosophisch die Lehre vom Volksgeist als schöpferischen Kern nationalen Lebens“.[31] Gleichzeitig po­stulierten sie eine religiöse und nationale Besinnung für die Gegenwart durch Rückwendung zum christlich-deutschen Mittelalter.  

 

Eine weitere Anregung gab Friedrich Schleiermacher, indem er von der Erneue­rung des protestantischen Christentums sprach und eine sittliche Umkehr pre­digte. Zudem forderte er die lebendige Teilnahme am „Vaterlandsleben“ und die „bewußte Ausbildung des Nationalcharakters als Voraussetzung für die Wiederer­ringung der Freiheit [...].[32]

 

Maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung dieser Bewegung hatte Ernst Moritz Arndt. In seinem Werk „Geist der Zeit“ (erste Teile 1805/1806) und in mehreren Flugschriften forderte er in allgemein verständlicher Sprache die Liebe zum Va­terland, die Sicherung des Volkstums und die Gemeinschaft des zum Selbstbe­wußtsein erwachenden Menschen. Seiner Meinung nach sollte der Staat durch die Gesinnung der vaterländisch-sittlichen Gemeinschaft umgestaltet werden. Insbe­sondere die Jugend sollte für den Patriotismus und nationale Interessen begeistert werden.[33] Mit seinen meinungs- und willensbildenden Liedern und Schriften[34] wollte er das Volk auf die Stunde der Befreiung vorbereiten. Auch Jahn vertrat das von Arndt formulierte Ziel eines deutschen monarchischen Nationalstaates. Durch geistige und körperliche Ertüchtigung (Turnen) gedachte er die Jugend für die Befreiung des Vaterlandes vorzubereiten.

 

Aus dieser kurzen Skizze wird deutlich, daß die Begriffe der Einheit und Freiheit als Ausdruck einer nationalen Kultur interpretiert wurden und zunächst, durch äußere Umstände bedingt, eine vaterländische, sittliche und religiöse Argumenta­tion und Agitation auslösten, welche letztlich eine realpolitische Bedeutung er­hielten.

 

2.3.2. Erste Organisationsformen der neuen geistigen Entwicklung


 

Als Produkt der hier skizzierten Entwicklung, die durch die Niederlage Preußens ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte, entstanden noch während der Besatzungs­zeit mehrere oft geheime Organisationen, die den Willen zum Widerstand ver­breiten und wachhalten wollten.

 

Der 1808 gegründete Tugendbund diente der Belebung von Sittlichkeit, Religio­sität und des Gemeingeistes.[35] Laut Huber verbarg sich hinter dem Begriff des Gemeingeistes

 

das Bekenntnis zu aktivem staatsbürgerlichem Verantwortungssinn und zur

 

Opferbereitschaft für das Ganze, aber auch der Anspruch auf staatsbürgerliche

 

Teilnahme an der Staatsgestaltung.[36]

 

Eine radikalere Gruppe stellte der von Jahn 1810 ins Leben gerufene Deutsche Bund dar. Seine Mitglieder traten für die politischen Ideale der Einheit und Frei­heit ein. Gegenüber den unvolkstümlichen Landmannschaften sollten in dieser Vereinigung eine volkstümliche Ausbildung, akademische Freiheit und gleicher Sinn gefördert werden, um die geistige Einheit des Vaterlandes weiter vorantrei­ben zu können.[37] Der Bund mußte daher in...

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