Im folgenden Kapitel soll herausgearbeitet werden, vor welchem politisch-sozialen Hintergrund die Gruppe der Gießener Schwarzen entstand.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgten in der in zahlreiche „Einzelterritorien“ zerrissenen Landgrafschaft Hessen mehrere Gebiets- und Machtverschiebungen.[12]
Um der Auflösung seines Territoriums zu entgehen, ging der hessische Landgraf Ludwig X. nach dem Einmarsch französischer Truppen in das hessische Staatsgebiet im Jahr 1806 ein Militärbündnis mit Frankreich ein. Durch den Anschluß an den Rheinbund wurde Hessen in ein Großherzogtum umgewandelt.[13] Großherzog Ludwig I. erhielt durch diese „Revolution von oben“ vergleichbar absolutistische Vollmachten, die seinen Souveränitätswillen in der Folgezeit steigern mußten.[14] Diese „Souveränität“ bedeutete jedoch auch Bereitstellung von Geld, Material und Menschen für die Besatzer. Insofern war die Selbständigkeit des Herrschers durch seine Abhängigkeit von Napoleon beschränkt.[15] Dementsprechend mußte der Großherzog in den Jahren 1806 bis 1813 hessische Truppenkontingente für den Krieg gegen Preußen, Spanien, Österreich und Rußland zur Verfügung stellen.[16] Erst im Herbst 1813 schlossen sich die Rheinbundfürsten beinahe unter Zwang den Alliierten an.[17]
Auf dem Wiener Kongreß 1814/15 beschlossen die Siegermächte unter der Führung des österreichischen Staatskanzlers Metternich die Neuordnung der politischen Verhältnisse Deutschlands.[18] Die vielfältigen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Unterschiede innerhalb Deutschlands, die Eigeninteressen der Großmächte und das Souveränitätsbedürfnis der deutschen Kleinstaaten sprachen gegen die Bildung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates.[19] In völliger Übereinstimmung setzten die Großmächte die Auflösung des Reiches (1806) „als irreversiblen Einschnitt“ [20] voraus. Durch die Schlußakte vom 10. Juni 1815 erfolgte daher die Aufteilung Deutschlands in 38 unabhängige, souveräne Einzelstaaten. Dieser unauflösbare Deutsche Bund bildete eine lockere völkerrechtliche Vereinigung. Mit einem Bundestag unter österreichischem Vorsitz knüpfte er in veränderter Form an die Korporationsformen der Rheinbundstaaten an.[21] Der Artikel 13 der Bundesakte sah die Einführung einer landständischen Verfassung in den einzelnen Staaten vor.[22] Braun schließt sich den Ausführungen Soldans an, daß Ludwig I. von Hessen die Bestimmungen des Artikels 13 in seinem Land nicht habe durchführen können, da er aufgrund der erneuten Gebietsveränderungen „erst die Zustände und Bedürfnisse in den neuen Landesteilen kennenlernen wollte“.[23]
Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß der Großherzog die Einführung einer Verfassung gar nicht durchzuführen beabsichtigte, da dies seine souveräne Macht mehr oder weniger einschränken mußte. Diese These wird zudem durch die Tatsache belegt, daß in anderen deutschen Staaten trotz territorialer Veränderungen landständische Verfassungen eingeführt wurden.[24] Die in den folgenden Jahren durch die Bestrebungen zur Wiederherstellung der Stände und der Auswanderungswelle im Hungerjahr 1816/17 gekennzeichnete Situation beruhigte sich erst, nachdem der „widerstrebende“ Großherzog genötigt worden war, den von Staatsrat Heinrich Knaup bearbeiteten Verfassungsentwurf am 17. Dezember 1820 zu billigen.[25]
2.3.1 Exkurs: Die Entwicklung der national-patriotischen Bewegung in Deutschland 1806-1814
Aufgrund der französischen Besatzung Anfang des 19. Jahrhunderts und der damit verbundenen wachsenden Erbitterung über „fremde Bevormundung und Willkür“[26] entstand zu dieser Zeit in Deutschland eine Bewegung, die die „Wiederherstellung der Selbständigkeit Deutschlands und eine nationale Einigung forderte“.[27]
Dabei nahmen sowohl äußere als auch innere Faktoren Einfluß auf das nationale Erwachen.[28] Der wichtigste Faktor für die Entstehung der nationalen Bewegung in Deutschland war der Glaube an die eigene Bedeutung: Man war stolz auf die geistigen Errungenschaften in Literatur, Sprache, Wissenschaft und Kunst, kulturell war man zu einer Nation geworden.
„Die Überzeugung, daß diese geistige Gemeinschaft auch zu politisch-
staatlichem Zusammenschluß gelangen sollte, brach sich angesichts der
jammervollen Zerklüftung und Ausschaltung Deutschlands [...] Bahn [...].“[29]
Zur Ausbildung dieser Überzeugung trugen dabei die Ideen und Lehren mehrerer gelehrter Persönlichkeiten bei. Fichte forderte dazu auf, das deutsche „Urvolk“ zur wirklichen Gemeinschaft zu erziehen, „damit ein deutscher Volksstaat als Kern des Vernunftreichs der Menschheit entstehe.“[30] Auch Herders Erkenntnisse über die geschichtlichen Eigentümlichkeiten und das organische Wachstum der Völker beeinflußte die Romantiker: Sie entwickelten „philosophisch die Lehre vom Volksgeist als schöpferischen Kern nationalen Lebens“.[31] Gleichzeitig postulierten sie eine religiöse und nationale Besinnung für die Gegenwart durch Rückwendung zum christlich-deutschen Mittelalter.
Eine weitere Anregung gab Friedrich Schleiermacher, indem er von der Erneuerung des protestantischen Christentums sprach und eine sittliche Umkehr predigte. Zudem forderte er die lebendige Teilnahme am „Vaterlandsleben“ und die „bewußte Ausbildung des Nationalcharakters als Voraussetzung für die Wiedererringung der Freiheit [...].“[32]
Maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung dieser Bewegung hatte Ernst Moritz Arndt. In seinem Werk „Geist der Zeit“ (erste Teile 1805/1806) und in mehreren Flugschriften forderte er in allgemein verständlicher Sprache die Liebe zum Vaterland, die Sicherung des Volkstums und die Gemeinschaft des zum Selbstbewußtsein erwachenden Menschen. Seiner Meinung nach sollte der Staat durch die Gesinnung der vaterländisch-sittlichen Gemeinschaft umgestaltet werden. Insbesondere die Jugend sollte für den Patriotismus und nationale Interessen begeistert werden.[33] Mit seinen meinungs- und willensbildenden Liedern und Schriften[34] wollte er das Volk auf die Stunde der Befreiung vorbereiten. Auch Jahn vertrat das von Arndt formulierte Ziel eines deutschen monarchischen Nationalstaates. Durch geistige und körperliche Ertüchtigung (Turnen) gedachte er die Jugend für die Befreiung des Vaterlandes vorzubereiten.
Aus dieser kurzen Skizze wird deutlich, daß die Begriffe der Einheit und Freiheit als Ausdruck einer nationalen Kultur interpretiert wurden und zunächst, durch äußere Umstände bedingt, eine vaterländische, sittliche und religiöse Argumentation und Agitation auslösten, welche letztlich eine realpolitische Bedeutung erhielten.
Als Produkt der hier skizzierten Entwicklung, die durch die Niederlage Preußens ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte, entstanden noch während der Besatzungszeit mehrere oft geheime Organisationen, die den Willen zum Widerstand verbreiten und wachhalten wollten.
Der 1808 gegründete Tugendbund diente der Belebung von Sittlichkeit, Religiosität und des Gemeingeistes.[35] Laut Huber verbarg sich hinter dem Begriff des Gemeingeistes
„das Bekenntnis zu aktivem staatsbürgerlichem Verantwortungssinn und zur
Opferbereitschaft für das Ganze, aber auch der Anspruch auf staatsbürgerliche
Teilnahme an der Staatsgestaltung.“[36]
Eine radikalere Gruppe stellte der von Jahn 1810 ins Leben gerufene Deutsche Bund dar. Seine Mitglieder traten für die politischen Ideale der Einheit und Freiheit ein. Gegenüber den unvolkstümlichen Landmannschaften sollten in dieser Vereinigung eine volkstümliche Ausbildung, akademische Freiheit und gleicher Sinn gefördert werden, um die geistige Einheit des Vaterlandes weiter vorantreiben zu können.[37] Der Bund mußte daher in...