EINE UNBESCHWERTE KINDHEIT
»Wie bist du aufgewachsen, Michèle?«
»Ich bin mitten in Zürich aufgewachsen, zusammen mit einem jüngeren Bruder und einer ebenfalls jüngeren Schwester. Unsere Eltern erfreuen sich immer noch recht guter Gesundheit, obwohl sie beide schon über 83 Jahre alt sind. Wir hatten immer ein inniges Verhältnis. Dieser Liebe im Elternhaus verdanke ich mein starkes Urvertrauen ins Leben.«
»Wie kam es zu deiner Berufswahl?«
»Nach der Sekundarschule musste ich mich entscheiden, welchen Beruf ich erlernen wollte. Kinder und Medizin interessierten mich schon immer, weshalb ich eine Schnupperlehre im Kinderspital Zürich absolvierte. Aber ich erkannte schnell, dass Kinderkrankenschwester nichts für mich war.
Meine Eltern und ein neutraler Berufsberater rieten mir, eine Lehre in einer Arztpraxis zu machen mit der Begründung, dass ich dort mit Erwachsenen und Kindern arbeiten könnte. Beide waren überzeugt, dass dieses Berufsbild meinen Fähigkeiten entgegenkomme.
Sie sollten recht behalten. Die Schnupperlehre begeisterte mich auf Anhieb. Lustigerweise hatte mir meine alte Grosstante vor Jahren vorausgesagt, das Städtchen Cham werde mir Glück bringen. Und tatsächlich fand ich eine Lehrstelle in Cham.«
»Was ist für dich das Besondere an diesem Beruf?«
»Mir gefällt definitiv der Umgang mit den verschiedensten Menschen, ob sie nun gesund oder krank sind. Und da ich von Herzen gern helfe und unterstütze, entspricht die Arbeit in einer Arztpraxis sehr meinen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Ich hätte mir nie vorstellen können, den ganzen Tag auf einem Bürostuhl zu sitzen.«
»Offenbar hast du richtig entschieden, wenn du noch heute Spass an deiner Arbeit hast. Das ist nicht selbstverständlich.«
»Dessen bin ich mir mit grosser Dankbarkeit bewusst.«
LIEBESGLÜCK
Michèle erzählte, dass ihr diese Lehrstelle in doppeltem Sinne Glück gebracht hat. Nicht nur, dass sie die Arbeit liebte und auch nach abgeschlossener Lehre noch viele Jahre in derselben Praxis blieb. Sie lernte dort ausserdem ihre grosse Liebe kennen.
»Habt ihr euch in der Praxis das erste Mal gesehen?«
Michèle lachte. »Genau. Er war Patient bei uns.«
Nach einer kleinen Pause erzählte sie weiter.
»Wir haben eine wirklich wunderschöne Beziehung aufgebaut in diesen Jahren und waren sehr glücklich. Aber eines Tages tat mir mein zukünftiger Ehemann kund, er müsse mir etwas sagen. Er meinte, er könne die Beziehung mit mir nicht weiterführen. Das war schrecklich und überraschend für mich und ich wollte natürlich wissen warum. Wir hatten einen Altersunterschied von sieben Jahren, aber das war nie ein Thema für uns gewesen. Schliesslich gestand er mir, er habe den Bescheid erhalten, an Multipler Sklerose (MS) erkrankt zu sein.
Ich konnte es nicht fassen. Er hatte keinerlei Einschränkungen zu dieser Zeit und meines Wissens noch nie Schübe erleiden müssen. Für mich war er kerngesund und so schlug ich vor, diese niederschmetternde Diagnose zu vergessen und einfach weiterzuleben.«
»Hast du dir keine Sorgen gemacht?«
»Nein. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Mein Partner krank? Unmöglich. Das konnte und das durfte nicht sein. Ich wollte mit ihm zusammen sein, weil ich ihn liebte. Als ich ihm klarmachte, mein Leben mit ihm verbringen zu wollen, war er natürlich erleichtert und einverstanden. Er wollte mich auch nicht verlieren. Für ihn war es wichtig, dass ich Bescheid wusste. Und so haben wir unsere Beziehung weitergeführt.
Ich hatte den Plan, ein Jahr in Genf in einer Arztpraxis zu arbeiten, um meine französischen Sprachkenntnisse zu vertiefen. Als ich mich auf eine offene Stelle meldete, bekam ich die Chance, mich dort vorzustellen. Doch diese Praxis war überhaupt nicht mein Stil, weshalb ich mich klar dagegen entschied. Nach Rücksprache mit meinen Eltern suchte ich eine Familie, um etwas gänzlich anderes zu tun. Ich wollte als Au-pair Mädchen arbeiten. So kam ich in eine Genfer Familie.«
»Wie lange warst du bei dieser Familie?«
»Fast ein Jahr. Das Ehepaar hatte nur ein einziges Kind, das ich zu hüten hatte. Die Mutter arbeitete den ganzen Tag ausser Haus. Ich hatte keinen Haushalt zu verrichten, sondern fokussierte mich ganz auf den Knaben. Der Kleine war mit der Zeit derart auf mich bezogen, dass er seinen Eltern bald nicht mehr die geringste Beachtung schenkte. Sie hatten einfach nichts mehr zu sagen. Für uns alle war es das Beste, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ich brach den Aufenthalt ab und kehrte nach Hause zurück.
Zum Glück konnte ich sofort wieder bei meinem ehemaligen Chef in Cham einsteigen und mein Partner und ich bezogen unsere erste gemeinsame Wohnung. Er machte mir einen Heiratsantrag, den ich mit grösster Freude annahm. 1987 haben wir geheiratet. Wir waren überglücklich und genossen die Zeit.«
EINE SCHWERE KRANKHEIT, DIE DENNOCH NICHT ALLES ÄNDERT
»Wie ging es deinem Mann gesundheitlich? Hast du Anzeichen seiner MS-Erkrankung bemerkt?«
»Natürlich konnte ich diese schreckliche Diagnose nicht vergessen, aber sie war nur in meinem Hinterkopf präsent. Zu keiner Zeit hatte mein Mann irgendwelche Symptome. Er war ein aktiver Fastnächtler und zudem Schlagzeuger in einer Band. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er krank sein sollte. Dieser Gedanke war unmöglich und unerträglich. Nein, ich konnte keine Anzeichen erkennen.
Und trotzdem musste er früher Auffälligkeiten gezeigt haben, sonst wäre kein Arzt auf diese Diagnose gekommen. Ein Professor in Zürich hatte ihm bereits ein Jahr vor unserer Hochzeit gesagt, er könnte an MS erkrankt sein. Der Befund war aber nie ganz eindeutig und wir haben schlichtweg nicht daran geglaubt.
Ein Jahr nach unserer Hochzeit, das war im Jahr 1988, erlitt er den ersten schweren Schub. Von einer Sekunde auf die andere war uns klar, dass er tatsächlich an Multipler Sklerose litt. Leider wurde er nach diesem Anfall von Sehstörungen geplagt, die sich noch verschlimmern sollten.
Im Abstand von einem Jahr erfolgte ein weiterer heftiger Schub, der ihm schwer zu schaffen machte.«
«Wie äussert sich so ein Schub?«
»Ganz unterschiedlich. Es gibt Menschen, die unter Lähmungsund Gefühlsstörungen leiden, muskulär wie auch neurologisch. Es sind Attacken, welche die bereits vorhandenen Symptome verstärken und verschlechtern.
Bei einigen Patienten sind beispielsweise nur die Beine, bei anderen nur die Arme betroffen. Bei meinem Mann betrafen die Beschwerden seine ganze rechte Seite, d. h., er hatte Schwierigkeiten mit seinem rechten Arm und Bein. Auch sein Sehnerv war arg beschädigt. Später war zusätzlich seine Stimme betroffen. Er konnte nur noch leise und langsam sprechen. Aber wir konnten uns noch unterhalten. Ich weiss von Fällen, bei denen die Betroffenen nur noch mit den Augen kommunizieren konnten. Mein Mann war bis zum Schluss fähig, sich auszudrücken.«
»Ist er vollständig erblindet?«
»Nicht vollständig, nein. Er hat alles verschwommen gesehen. Ein Buch lesen konnte er nicht mehr, weil die Schrift zu klein war. Deshalb habe ich ihm regelmässig Bücher und Zeitungen vorgelesen, Fernsehen schauen konnte er noch.
Interessant war, wie sein Gehör mit schwindender Sehkraft zunahm. Die Reaktionen des Körpers sind schon erstaunlich. Wir konnten kaum mehr zusammen fernsehen. Er stellte den Ton so leise, dass ich nichts mehr hörte. Wenn die Stimmen für meine Ohren perfekt waren, platzte ihm fast das Trommelfell. Sein Gehör hat die fehlende Sehkraft übernommen. Offenbar ist dieses Phänomen ganz natürlich. Menschen, die nicht gut sehen können, hören dafür besser.«
»Konnte er nach eurer Hochzeit noch ein ganz normales Leben führen?«
»Natürlich, er hat immer ganz normal gelebt. Aufgrund seiner Schübe hatte er mit gewissen Einschränkungen zu kämpfen. Seine rechte Hand konnte er fast nicht mehr bewegen, dementsprechend zittrig wurde seine Handschrift. Statt zu klagen, hat er mit der linken Hand geübt und geschrieben. Den Computer bediente er sehr speditiv1 mit ›links‹. Für ihn war die Umstellung auf links ganz selbstverständlich. Er wollte so lange wie möglich eigenständig bleiben.«
»Hat er fremde Hilfe beansprucht?«
»Gewiss...