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DINGE, DIE ICH NICHT VERSTEHE
Kann es sein, dass die Natur in unserer Zeit den Platz ausfüllt, den zuvor die Religion einnahm?
Ich glaube, ich verstehe ziemlich viel. Es gibt vieles, was ich nicht mag. Aber in der Regel gelingt es mir, es zu verstehen, wenn ich guten Willen an den Tag lege. Und allein bin. Aber es gibt drei Dinge im Leben, die zu verstehen mir wirklich schwer zu schaffen macht.
Religion. Drogen. Und Freiluftleben.
Diese drei haben ja vieles gemeinsam. Sie sind etwas zu stark geprägt von einer Jagd nach der Befriedigung des eigenen Selbst, etwas zu wenig geprägt von Humor, etwas zu stark geprägt von Leuten, die mit Vorliebe über ihre Interessen reden, und wenn du die Grenzen nicht kennst und nicht rechtzeitig aufhörst: lebensgefährlich.
Lassen wir hier die Drogen mal beiseite. Das ist ganz allgemein ein guter Rat. Aber ich habe einen ziemlich seriösen Versuch unternommen, etwas mehr über das Freiluftleben und den Hang zur Natur zu verstehen. Ich habe gelesen, mit Menschen gesprochen, gegoogelt, Filme angesehen, und ich habe versucht, mit einigen der vielen Freunde, die ich an die Natur verloren habe, zu reden. Sie waren gar nicht so leicht zu erreichen, denn die meisten waren emsig damit beschäftigt, Socken zu trocknen und sich zu entscheiden, ob sie #draußenambesten oder #lebenistambestendraußen auf Instagram schreiben sollten, oder ob sie einfach so verrückt sein und beides nehmen sollten. Doch ich bekam sie zu fassen. Und ein bisschen habe ich verstanden. Und es ist im Grunde nicht zu übersehen, wie viel Freiluftleben und Religion gemeinsam haben.
Mache einmal folgenden Versuch: Blättere in einigen der tausend Prachtbände, die jedes Jahr über das gute Leben in der Natur erscheinen. Geh danach das letzte Jahr eines bekehrten Fjellwanderers unter deinen Freunden auf Facebook und/oder Instagram durch. Anschließend kannst du »charismatisches Christentum« googeln. An allen drei Stellen findest du genau das Gleiche: Massenhaft Bilder von verdächtig fröhlichen Leuten, die die Arme zum Himmel strecken.
Möglicherweise ist das etwas zutiefst Menschliches. Vielleicht ist es ein Reflex. Aber es scheint vollkommen unmöglich zu sein, sich auf dem Gipfel eines Berges ablichten zu lassen, ohne die Arme zum Himmel zu strecken.
Selbstverständlich finden sich in all den Prachtbänden und in den sozialen Medien nicht nur gen Himmel gestreckte Arme. So gut wie sämtliche Bilder, in den Büchern wie im Netz, haben jedoch etwas unverkennbar Frischbekehrtes an sich. Die Fröhlichkeit der Menschen kennt keine Grenzen. Sie ist kurz davor, sich zu überschlagen. In die Luft gereckte Daumen. Menschen in nasser Kleidung, die sich umarmen. Die Kinder sind fröhlich, obwohl es kalt ist, denn sie haben sich gut angezogen, und sie sind glücklich, denn sie haben Bewältigung erlebt und gelernt, aus Tannennadeln und Regen Essen und Hütten und Spielzeugautos zu basteln.
Und auch diejenigen unter meinen verlorenen Freunden, mit denen ich hierüber geredet habe, hatten etwas Frischbekehrtes an sich. Unter anderem legten sie den gleichen Missionierungseifer an den Tag wie mancher Frischbekehrte.
Okay, seien wir ein bisschen nett. Nennen wir es Missionierungslust.
Nein, nennen wir es lieber Missionierungsdrang.
Sie möchten uns andere überzeugen, und sie versuchen es auf zweierlei Art. Entweder, indem sie uns erzählen, dass man in der Natur Dinge erlebt, die man nirgendwo sonst erleben kann. Oder – und das ist weitaus bizarrer – indem sie uns erzählen, dass man in der Natur genau das Gleiche erleben kann wie überall sonst auch. Und hier können die Bergwanderer ihre Ähnlichkeit mit jenen Altersgenossen aus unserer Jugend nicht mehr verleugnen, die im christlichen Sommerlager waren und alle davon zu überzeugen versuchten, dass es dort mindestens ebenso hoch herging wie auf Ibiza. Die frisch bekehrten Bergwanderer erzählen dir, wie Teenager, die etwas Geheimes entdeckt haben, von allem, was auf diesen Hütten passiert. Du erinnerst dich an die Hütten? Fokstugu und Myggheim und Styggemanshytta und Kråkebu und Dæven und Rasskatten? Die Hütten. Du darfst nicht glauben, dass es auf diesen Hütten langweilig ist, sagen die frisch Bekehrten mit einem Augenzwinkern. Von wegen. Hütten? Die größeren sind eigentlich mehr wie Hotels. Und da geht es ab. Da gibt es Wein und Essen und – hier machen sie gern eine kleine Pause und blicken um sich, bevor sie fortfahren – ja, Anmache. Es gibt massenhaft Anmache auf diesen Hütten. Das Gebirge? Die größte Anmachszene weltweit. Oh yes, siree.
Sie sagen dir also, dass du, wenn du sechs, sieben Stunden im Regen bergauf gegangen bist, an einen Ort kommst, wo du, wenn du Glück hast, genau das Gleiche erleben kannst wie jeden Abend überall in allen Städten. Nur, dass dir in der Stadt ein etwas finster dreinblickender deutscher Lehrer in Thermounterwäsche erspart bleibt, der dich anstarrt. Und wenn du dich in einer Stadt langweilst oder kein Glück hast, kannst du einfach das Lokal wechseln oder nach Hause gehen. Das kannst du in den Bergen nicht. Denn das nächste Lokal ist eine Hütte fünfzig Kilometer entfernt. Und heißt Bauchspeicheldrüse.
Im Internet tritt der Missionierungsdrang selbstverständlich am deutlichsten zutage. Missionierung ist natürlich nur ein altmodisches Wort für das, was heute Angeberei genannt wird. Niemand geht in die Natur, ohne dass andere davon erfahren. So viele wie möglich. Mit so vielen Hashtags wie möglich. Viele stellen so viele Bilder mit so vielen Hashtags ein, dass das Netz bald überquillt. Und hier zeigt sich der religiöse Zug. Denn so wie Menschen, die auf andere Weise eine Erleuchtung gehabt haben, zeichnen auch sie sich nicht durch Zurückhaltung oder einen Sinn für Nuancen aus. Es heißt nicht: Ich habe mit etwas Neuem angefangen, aber ich weiß nicht, wie interessant es für andere ist. Nein. Hier wird angegeben, völlig ohne Scham: Seht euch das an! Seht euch an, was ich entdeckt habe! Das ist das Beste, was es gibt! Das ist die Wahrheit und der Weg! #losjunge #runtervomsofa #draußenambesten #meinspielplatz #daslebendraußenambesten #bergesindspitze #ilovenorge #sitznichtdrinnenundkaufwieeinidiot #aufeinemgipfelstehendiearmegenhimmelundnackterunterkörperistderwegzumglück
Und die Menschen haben dort draußen Offenbarungen. Sie gehen in die Natur, um Antworten zu finden. Als Jonas Gahr Støre die Wahl zum Vorsitzenden der größten norwegischen Partei annahm und sich damit praktisch auch bereit erklärte, den Kampf um das Amt des norwegischen Ministerpräsidenten aufzunehmen, erzählte er auf einer Pressekonferenz, er habe die Entscheidung auf einer Bergwanderung getroffen. Ganz allein.
Und viele nicken anerkennend, wenn sie so etwas lesen. Ich aber denke: Wirklich? Du hast ganz allein in den Bergen beschlossen, Ministerpräsident zu werden? Hättest du nicht lieber mit jemandem reden sollen? Einem Erwachsenen beispielsweise? Oder deiner Familie?
Aber Politiker, die zeigen wollen, dass sie stark und erdverbunden sind, und das wollen sie ja, wenden sich der Natur zu. Selbst Angela Merkel wird im Sommer routinemäßig mit einem Wanderstock auf dem Weg in die Bergwelt abgebildet. Auch wenn sie anscheinend wenig Lust darauf hat. Vladimir Putin sendet regelmäßig Bilder in die Welt hinaus, die ihn in der Natur zeigen, mit Angelrute oder zu Pferde, mit nacktem Oberkörper. Und so hoffen sie darauf, dass wir sie für echte Menschen halten, die mit der Natur in Kontakt sind.
Wenn ich einen meiner führenden Politiker mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd sähe, würde ich nicht denken: Was für ein starker Führer. Den wähle ich. Ich würde denken: Was zum Teufel machst du da? Zieh dir was an und regier das Land, du Idiot.
Die letzten drei, vier Wahlkämpfe in den USA haben uns gezeigt, dass das Klischee vom amerikanischen Traum tatsächlich stimmt, wenn auch nicht immer auf genau die Art und Weise, wie wir es gelernt haben: In den USA kann tatsächlich jeder Präsident werden. Sowohl Milliardäre aus dem Reality-TV als auch Menschen mit familiären Wurzeln in Afrika und Hussein als Zwischennamen können in den USA an die Spitze gelangen. Sogar Frauen können es fast ganz nach oben schaffen. Doch wer du auch bist: Du musst vor allem an Gott glauben. Du wirst wahrscheinlich ein Problem bekommen, wenn du dich weigerst zu sagen »God bless America«, weil du nicht glaubst, dass es Gott gibt, und Religion im Grunde ziemlich dumm findest. Bei uns im Norden ist es anders. Hier haben wir atheistische Ministerpräsidenten gehabt, und die Tendenz geht eher dahin, dass du Gefahr läufst, lächerlich gemacht zu werden, wenn du religiös bist. Und unter den potenziellen zukünftigen Ministerpräsidenten und Ministern in Norwegen finden wir alles von gläubigen Christen, religiös Gleichgültigen, über Atheisten bis zu ein paar gemäßigten Muslimen. Du würdest dagegen in Skandinavien Probleme mit der Anhängerschaft bekommen, wenn du öffentlich sagst, dass du nicht begreifst, wozu Wandern gut sein soll, oder dass das Hüttenleben etwas für Verlierer ist.
Kann es sein, dass die Natur in unserer Zeit den Platz ausfüllt, den zuvor die Religion einnahm? Verschiedene Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Menschen in den skandinavischen Ländern zu den am wenigsten religiösen auf der Welt zählen. Brauchen wir in unserem Leben wirklich, wie einige religiöse Menschen behaupten, etwas, das größer ist als wir selbst, das in wechselhaften Zeiten konstant bleibt, etwas, das die Vernunft nicht erklären kann? Falls es so ist, ließe sich festhalten, dass alles, was ich im vorigen Satz geschrieben habe, ebenso die Schilderung eines Gottes wie die eines Berges sein kann....