Die moralische Idealvorstellung der Mexicas wurde im Sprichwort tlacoqualli in monequi, „die gute Mitte ist notwendig“, zusammengefasst.5 Dieser Spruch ermahnte zur Mäßigung bei der Kleidung, beim Gehen und Sprechen, beim Essen und in der Sexualität. Dieser Grundsatz wurde durch eine Reihe von ermahnenden Reden ausgedrückt, die „altes Wort“, huehuetlatolli, genannt wurden. Solche Reden waren ein alltäglicher Bestandteil des Familienlebens, nicht nur unter Adligen, sondern auch Handwerkern und macehuales. Dazu gehörten Höflichkeitsfloskeln, Ratschläge, Ermahnungen und Warnungen der Eltern an ihre Kinder.6
| Links: Mexica-Göttin mit der typisch weiblichen Körperhaltung: auf den Knien. Sammlung FCAS, INAH: 1041-210. Rechts: Mexica-Mann mit der typisch männlichen Körperhaltung: stehend. Nationalmuseum für Anthropologie. | |
Ein Herrscher ermahnt sein Volk. Florentiner Codex. |
Es gab in den verschiedenen Klassen Unterschiede in den huehuetlatolli, und das nicht nur in Bezug auf die Rhetorik. Obwohl zum Beispiel die Mäßigung in allen sozialen Schichten gefordert wurde, war es doch die herrschende Klasse, bei der die strengsten Verhaltensregeln durchgesetzt wurden. Sie wollte damit ihren höheren Status gegenüber dem Rest der macehual-Bevölkerung rechtfertigen. Auf diese Weise unterschied sich der Edelmann vom Bauern. Auf einer anderen Ebene trennte dieser Verhaltenskodex die Mexicas von allen anderen ethnischen Gruppen und positionierte den Ausländer in Bezug auf das richtige Verhalten als entgegengesetztes Extrem.
| Ein Vater fordert seinen Sohn zu gutem Verhalten auf. Florentiner Codex. | |
Ein Vater ermahnte seinen Sohn, indem er ihm sagte:
Du musst auf Reisen vorsichtig sein; friedlich, ruhig, still [...] gehst du, nimmst den Weg, reist. Schleudere deine Beine nicht viel, heb sie nicht hoch, spring nicht, es sei denn, du willst dumm und schamlos genannt werden. Geh auch nicht zu langsam und schlurfe nicht mit den Füßen.7 [...] weder zu hastig noch zu gemächlich, sondern mit Ehrlichkeit und Reife [sollst du gehen].8
Andernfalls, so gibt Sahagún an, würden sie ixtotomac cuecuetz genannt.
Die junge Adlige wurde gebeten, ohne Eile zu gehen, das heißt ohne Rastlosigkeit (cuecuetzyotl)9 und auch ohne herumzuschlendern, da sie sonst zu sehr auffallen würde; sie sollte die Straße mit gesenktem Kopf entlanggehen, ohne Stolz zu zeigen; sie sollte den Kopf nicht von einer Seite zur anderen oder nach oben wenden, da dies auf Heuchelei hinweisen würde. Sie sollte auch nicht verlegen handeln und sich den Mund bedecken und keineswegs jemandem direkt in die Augen schauen.10 Weder zu hastig noch zu langsam sollte sie gehen, weder die Füße zu hoch heben, noch sie nachziehen; in einer geraden Linie und ohne sich hin und her zu wiegen.
Adlige. Florentiner Codex. |
Die Art der Kleidung war gewissermaßen das Sprachrohr, mit dem der Status der sie tragenden Person mitgeteilt wurde: die soziale Schicht, die Ethnie und das Alter. Die Kleidung wies darauf hin, wie man sich gegenüber einer bestimmten Person verhalten und welche Haltung man einnehmen müsse. Es ist möglich, dass die Nahuas bestimmte Kleidung und Schmuckstücke mit spezifischen Verhaltensweisen in Verbindung brachten, da sich die Mäßigung bei der Bekleidung gegenüber der Ausschweifung und der Prunksucht durchsetzte. Weder Männer noch Frauen sollten sich mit auffälliger Kleidung (topallotl) schmücken. Voller Ornamente sein hätte auf Eitelkeit hingedeutet, auf „wenig Hirn und Narretei“. Aber sie sollten auch keine Lumpen tragen (tzotzomatli), für Adlige ein „Zeichen von Armut und Niedrigkeit“ und den Spott des Restes der Gesellschaft herausfordernd.11
Adlige Frauen, die verschiedene Frisuren tragen, ihrem sozialen Status entsprechend. Florentiner Codex. |
Es gab ganz genaue Anweisungen, wie man einen Umhang oder eine Decke richtig tragen sollte. Einem jungen pilli war es verboten, sie auf dem Boden schleifen zu lassen oder so weit unten hängend zu tragen, dass er beim Gehen stolpern würde. Sie war auch nicht zu kurz zu verknoten, so dass sie sehr hoch sitzen würde und auch nicht an den Achseln festzumachen. Vielmehr war sie so zu befestigen, dass sie die Schulter bedeckte.12
Junge Männer wurden auch dazu angehalten, auf Schmuck zu verzichten:
Kämme dich nicht ständig; schau dich nicht immerzu im Spiegel an; schmück dich nicht ständig, putz dich nicht nicht die ganze Zeit heraus; begehre nicht häufig, dich herzurichten, denn dies ist nichts Anderes als die Art des Teufels, Menschen einzufangen.13
Alter Mann mit seinem Umhang auf Achselhöhe geknotet. Codex Mendoza. |
Die Eltern forderten ihre Kinder dazu auf, langsam und bedächtig zu sprechen, nicht zu keuchen oder eine schrille Stimme zu benutzen. Die Anlässe, bei denen ein junger Mensch sprechen durfte, waren streng geregelt. Wenn es dann soweit war, sollte er es vermeiden, nutzlose, leere Worte zu verwenden.14 Diese Ermahnungen betrafen vor allem die Kinder der Adligen. Sie legten großen Wert auf ihre Körpersprache, um sich dadurch klar vom gemeinen Volk zu unterscheiden. Die feine, elegante Sprache (pillatolli) wurde damit einer groben, unhöflichen und eher rustikalen Sprache (cuauhtlatolli) gegenübergestellt.15
Die huehuetlatolli zeigen auch die Beziehung, die es zwischen der Sprache, der Kontrolle der eigenen Leidenschaften und den Herrschern gab. Keiner, der „Possen [riss] und spöttische Worte“ verwendete oder ausfallend wurde, war würdig, eine Position in der Regierung zu besetzen. Wer so sprach, wurde tecuhcuecuechtli genannt, „was ,Gauner‘ bedeutet“. Die Herrscher und militärischen Führer der Mexicas waren dagegen profiliert als diejenigen, die sich dem Gebet und der Andacht widmeten, den Tränen und Seufzern überließen, bescheiden, gehorsam, umsichtig, nicht überheblich und friedfertig waren.16
Fünf Männer unterschiedlichen Alters beim Essen im Inneren eines Hauses. Florentiner Codex. |
Die Steuerung des menschlichen Verhaltens erstreckte sich auch auf die Speisen: „Vor allem beim Trinken und Essen wirst du besonnen sein“. Die Etikette bei der Einnahme der Mahlzeiten schrieb vor, dass Fleisch nicht zu hastig verzehrt werden sollte. Die Tortillas wurden zum Beispiel ganz vorsichtig gehalten, um sie nicht zu zerbrechen.
Sehr viel oder sehr schnell zu essen, wurde als unschickliches Verhalten aufgefasst. Die Nahrungsmenge, die mit jedem Bissen in den Mund genommen wurde, sollte weder sehr groß sein noch unzerkaut geschluckt werden. Das Essen umzurühren war ebenso verpönt wie das Eintauchen in die Schüssel mit Salsa. Jegliches Verhalten, das die anderen zum Lachen bringen oder Spott provozieren konnte, sollte unbedingt vermieden werden.17