DAS GROßE NICHTS UND WIE ALLES BEGANN
Bei mir wurde vor ein paar Jahren Rheuma diagnostiziert. Rheu- ma ist ein Oberbegriff für eine Krankheit mit sehr vielen unter- schiedlichen gemeinen Spielarten. Bei mir hat sich das Rheuma auf Schultern und Hüften kapriziert. Ich will nicht jammern, es hätte mich mit Sicherheit schlimmer treffen können. Sehr viel schlimmer. Aber es ist nichtsdestotrotz schmerzhaft und ausgesprochen lästig. Habe ich Schulterprobleme, kann ich mein Yoga nicht machen, sind die Hüften dran, ist Joggen unmöglich. Auf beides kann man natürlich verzichten – es gibt ein Leben ohne. Das wäre nicht das Problem. Allerdings schränken mich die Schmerzen auch im Alltag ein. Das Gehen schmerzt immer häufiger. Eben mal etwas greifen oder hochheben auch. Ich bewege mich nicht mehr spontan, weil ich Angst habe, dass mein Körper mit Schmerzen reagiert. Je mehr man sich einschränkt – bewusst und vor allem unbewusst –, umso unbeweglicher wird man. Kein guter Kreislauf.
Dass es morgens irgendwo im menschlichen Getriebe mal knirscht oder zwickt, ist absolut akzeptabel. Der Körper ist eine hoch komplizierte und komplexe Maschinerie und ich bin jenseits der 25. Das Material wird halt nicht besser. Darüber bin ich mit Sicherheit nicht begeistert, aber damit kann ich leben. Muss ich wohl auch. Wer alt werden will, sollte lernen, mit normalen Abnutzungserscheinungen klarzukommen. Allerdings sind diese Schmerzen eben keine „normale“ Altersbegleitung und ich habe nicht vor, sie einfach als gegeben zu betrachten. Cortison hat mir geholfen. Aber – wie Guido Maria Kretschmer, der Shopping-Queen-Moderator sagen würde – es hat ansonsten nichts für mich getan. Ich hatte ein ziemlich aufgedunsenes Gesicht und ständig Hunger. Mein Kühlschrank war mein neuer bester Freund. Ich bin manchmal nachts aufgewacht und wie ferngesteuert zum beleuchteten Hort der Lebensmittel getapert. Das ist, habe ich beschlossen, keinesfalls ein Dauerzustand. Vor allem weil ich im Laufe der Zeit gut zwölf Kilo zugenommen habe. Schuld war sicherlich nicht allein das Cortison, sondern auch der Frust, keinen Sport treiben zu können, und der Trost in Form von Essen. Viel Essen. Vor allem viel hochkalorischem Essen. Auch wenn man um die Misere weiß, kann man Verhalten oft nicht stoppen. Man gerät in einen fiesen Kreislauf und je tiefer man drinsteckt, umso schwerer wird es hinauszukommen.
Klar: Zur Not, bevor ich ständig Schmerzen habe, schlucke ich Cortison. Es ist, keine Frage, ein durchaus effektives Medikament. Allerdings auch nicht frei von Nebenwirkungen. Natürlich gibt es neben Cortison andere wirksame Rheumamedikamente. Aber auch hier ist die Liste der Nebenwirkungen lang. Ich habe zwei Packungen zu Hause liegen. Für den Fall der Fälle.
Die Idee, gegen mein Rheuma anzufasten, war eine Art Zufallsfund. Ich hatte eine Dokumentation auf Arte gesehen, eine Fastendokumentation, und war absolut fasziniert (zum Nachgucken: www.youtube.com/watch?v=Nyyb74PHIQs ). Sollte einfaches Nichtessen der Schlüssel gegen mein Rheuma sein? Tatsächlich ein funktionierender Ersatz für Cortison? Kann Nichtessen tatsächlich Heilen? Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen, aber die Doku und die anschließende Recherche zum Thema haben mich neugierig gemacht. Es klang verrückt und gleichzeitig so simpel. Warum nicht mal etwas versuchen? Vielleicht hilft es ja tatsächlich? Und was kann schon passieren? Wer nicht wagt, kann auch nicht gewinnen! Kostengünstig ist es allemal. Im schlimmsten Fall hilft es nicht und der ganze Verzicht war für die Katz.
Der Beschluss steht schnell fest. Ich werde fasten. Ich werde eine längere Zeit auf jegliche feste Nahrung verzichten. Allein der Gedanke macht mir Angst und schlechte Laune – und trotzdem werde ich es auf einen Versuch ankommen lassen.
Was mich an dem Gedanken so ängstigt: Essen ist für mich etwas Essenzielles. Ich habe schon immer einen großen Drang nach Essen. Essen kann mich glücklich machen, Verzicht grämt mich. Generell finde ich die Aussicht auf Verzicht wenig verlockend. Ich bin keine Frau, die nach Askese strebt. Schade eigentlich. Das würde mir im Leben so einiges erleichtern.
Ich liebe Essen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die im Brustton der Überzeugung behaupten: „Essen – das ist mir total egal.“ Ja, es gibt tatsächlich solche Leute. Ich konnte es erst auch nicht glauben. Manche Menschen essen tatsächlich nur, weil es eben dazugehört. Sie verbinden Essen nicht automatisch mit Genuss. Man macht es halt, weil der Körper Nahrung braucht. Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, ob ich diese Menschen beneide, weil man mit einer solchen Grundhaltung natürlich sehr viel leichter sein Essverhalten zügeln kann. Aber der fehlende Genuss spricht gegen eine solche Einstellung. Außerdem ist das, denke ich, keine Frage der Einstellung. Keine bewusste Entscheidung. Es scheint in meinen und unseren Familiengenen zu liegen. Dieser Hang und Drang zum Essen. Ich habe schon als Kind gern gegessen. Ich bin eine ausgesprochen leidenschaftliche Esserin. Gutes Essen ist für mich ein wichtiger Bestandteil eines gelungenen Lebens. Wie schon erwähnt: Ich liebe Essen. Ein schönes Menü, eine frische Brezel, ein Stück Streuselkuchen oder ein herrliches Curry. Ein Schälchen Quark mit Heidelbeeren und Granola, eine Pasta mit Tomatensauce – es gibt sehr wenig Essen, das mir nicht schmeckt. Ich mag eigentlich alles und bin extrem schnell zu begeistern. Schon der Geruch von Essen kann mich in Ekstase versetzen. Selbst der Anblick. An einer Bäckerei vorbeizugehen und nichts, aber auch rein gar nichts zu kaufen ist für mich ein Akt der unglaublichen Selbstbeherrschung. Ich werde einfach magisch von Essen angezogen. Insofern scheint der Gedanke an Fasten geradezu absurd. Ausgerechnet ich soll fasten? Möchte fasten? Eine Frau, die seit Jahrzehnten mit ihrem Speck in der Öffentlichkeit steht? Die immer mal wieder enorm Gewicht verliert, um ihm Monate später wieder ein schönes Zuhause zu bieten.
Ich bin eine Art lebender Speckmagnet. Er scheint sich bei mir ganz besonders wohlzufühlen. Aber ich habe gelernt, das zu akzeptieren. Ich bin ein Speck-Hotspot. Ich werde nie wahnsinnig dünn sein. Wozu auch? Ich strebe nicht nach der berüchtigten Thigh Gap, der hippen Lücke zwischen den Oberschenkeln. Was soll ich damit im Alltag auch anfangen? Und mal ehrlich: Ist man wirklich nur dünn attraktiv? Ich glaube nicht.
Dünn zu sein ist inzwischen zu einer regelrechten Währung geworden, die aber meiner Meinung nach überschätzt wird. Ich habe beschlossen, zu versuchen auf lange Strecke einigermaßen schlank und fit zu sein. Nicht aus optischen Gründen, sondern vor allem um gesund und beweglich zu sein. Ach ja, und ein bisschen auch, um unbeschwerter einkaufen zu können.
Diesmal geht es allerdings nur sekundär ums Gewicht. Sollte ich Gewicht verlieren, bin ich natürlich die Letzte, die sich darüber ärgert – ganz im Gegenteil: Ich wäre verzückt. Aber dem Speck kann ich auch auf andere Art zu Leibe rücken. Abnehmen ist, selbst wenn es heute oft anders dargestellt wird, eine ziemlich einfache Rechenaufgabe. Der Körper bekommt weniger, als er verbraucht. Irgendwann habe ich diese sehr einfache Gleichung begriffen, seither bin ich relativ schlank (im Rahmen meiner Vorstellungen und Möglichkeiten wohlgemerkt) und habe keine extremen Gewichtsausschläge mehr.
Ich bin keine Frau mit Hang zur Esoterik. Fasten hat, wenn man sich im Netz umschaut, jede Menge Spiritualität im Gepäck. Aber auch die Spiritualität ist eher nicht mein Kernthema. Ehrlich gesagt habe ich es auch nicht mit der Homöopathie – dagegen habe ich jedoch auch nichts. Ich glaube einfach nicht daran. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Wirkstoffe, die unglaublich verdünnt werden, noch Wirkung zeigen. Auch wissenschaftliche Studien geben mir mit meiner Skepsis recht. Insofern bin ich, was das Fasten angeht, ausgesprochen verhalten optimistisch. Allerdings hat Fasten rein gar nichts mit Homöopathie zu tun. Fasten gehört in den Bereich der Naturheilkunde. Damit kann ich schon sehr viel mehr anfangen. Außerdem gilt hier wie überall der alte Satz: „Wer heilt, hat recht!“
Ich befrage meine Ärzte. Meinen Orthopäden, die Hausärztin und meine Rheumatologin. Alle sind, was das Fasten angeht, sehr aufgeschlossen. Zum Glück. Es gäbe interessante Ergebnisse und nichts spräche dagegen, es doch mal zu testen, meinen sie. Euphorisch wirken sie nicht, aber grundsätzlich befürworten sie meinen Versuch.
In der Dokumentation heißt es, um eine Wirkung bei Autoimmunerkrankungen zu erleben, müsse man länger fasten. Rheuma kann ein zähes Biest sein, lese ich im Netz. Drei bis sechs Wochen brauche es angeblich, um das Rheuma zu beeindrucken. Der Zeitraum schreckt mich. Das klassische Heilfasten dauert fünf bis sieben Tage, jedenfalls für Einsteiger. Eine Woche kann ich mir in meinen kühnsten Gedanken gerade noch vorstellen. Aber mehr? Soll ich direkt in die Vollen gehen? Oder nicht doch lieber mal klein anfangen?
Mhm, drei bis sechs Wochen? Traue ich mir zu, eine so verdammt lange Zeit nicht zu essen? Kann ich, einer der verfressensten Menschen, die ich kenne (und ich kenne viele Menschen), das wirklich schaffen? Bin ich so diszipliniert? Kann man das überhaupt aushalten? Ich habe in meinem langen Leben bisher genau einmal...