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| WIE GEFÜHLE UNSER LEBEN LENKEN KÖNNEN UND SOLLTEN
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Unser Körper verfügt über sehr sinnvolle und durchaus belastbare Selbstheilungsmechanismen, die tagtäglich dafür sorgen, dass wir im Gleichgewicht bleiben. Einige benachrichtigen uns zum Beispiel dann, wenn wir etwas trinken oder essen sollten, andere greifen im Konfliktfall ein. Wenn wir Stress bekommen durch z. B. Zeitdruck oder Ärger, wird im Körper Energie mobilisiert, die wir im Sinne unserer biologisch evolutionären Entwicklung für einen anstehenden Kampf oder die Flucht davor brauchen. Wir haben dann im wahrsten Sinne des Wortes das Gefühl, unter Strom zu stehen. Diese Reaktion läuft ganz automatisch ab und hilft uns durch unseren Alltag. Was genau bei der Stressreaktion passiert, beschreibe ich in Kapitel 2.
Wie klug und vorausschauend, wie vollkommen und abgestimmt unser Körper vernetzt ist und alle Bestandteile ineinandergreifen und gesteuert werden, das fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Und vor allem: Nichts geht verloren. Gefühle, die im Eifer eines Gefechts verdrängt wurden, tauchen meistens ganz schnell und einfach wieder auf, sodass wir uns ihnen im Nachhinein zuwenden müssen.
In meiner Praxis begegne ich vielen Menschen mit psychosomatischen Krankheiten und Burnout-Syndrom. Als psychosomatische Krankheiten – das Wort setzt sich aus »Psyche« für Seele und »Soma« für Körper zusammen – bezeichnet man Krankheiten, die einen starken seelischen Anteil bzw. Auslöser in ihrer Entstehungsgeschichte haben. Sie entziehen sich den bekannten Behandlungsverfahren und können erst durch die Beschäftigung mit der seelischen Verletzung, die dahintersteckt, kuriert werden. Dabei kann das Symptom in der Regel durch Ort und Art der Beschwerden wichtige Hinweise zu eben jenen Themen liefern. Aber wir werden nicht nur krank durch emotionale Verletzungen oder Stress, sondern auch durch unseren Lebensstil. Viele meiner Patienten wurden auch deswegen krank, weil sie an einem bestimmten Punkt aufgehört haben, auf ihre Gefühle und ihre Impulse aus dem Inneren zu achten, diese wahr- und ernst zu nehmen.
Nichts fühlen oder Gefühle nicht ernst nehmen
Meistens fängt es harmlos an: Am Anfang einer Krankheitsgeschichte steht meistens eine Phase, in der Menschen beginnen, ihre ganz einfachen und lebenserhaltenden Gefühle bzw. Bedürfnisse wie Hunger, Durst und Toilettengang, begleitet von dem Bedürfnis nach Ruhe, Schlaf, Grenzen, zu ignorieren, um in ihrer jeweiligen Lebenssituation funktionieren zu können. Besonders Dauerstress bringt langfristig unser biochemisches Gleichgewicht völlig durcheinander und öffnet Tür und Tor für verschiedenste, darunter auch schwere Krankheiten.
Interessanterweise spiegelt sich bei vielen Menschen im Umgang mit diesen ganz einfachen, man möchte fast sagen banalen und dabei ganz elementaren Bedürfnissen wie Hunger, Durst, Müdigkeit ganz deutlich auch ihr Umgang mit ihren seelischen und emotionalen Bedürfnissen wider. Sie neigen einerseits dazu, sich das Trinken zu verkneifen, wenn sie Durst haben, und verkneifen sich andererseits im selben Maße, ihre Gefühle ernst zu nehmen, weil es beispielsweise nicht in den Arbeitsalltag passt und den Arbeitsablauf stört.
Dadurch geht der Kontakt zu den eigenen Gefühlen mit der Zeit immer mehr verloren. Viele meiner Patienten müssen zunächst ihre Körperwahrnehmung zurückgewinnen. Oft wurden die Gefühle im »Eifer des Gefechts« so lange unterdrückt, dass sie völlig in Vergessenheit geraten sind. Und zwar nicht nur das Gespür für Grenzen, z. B. die Wahrnehmung ihrer eigenen Erschöpfung, sondern selbst so vermeintlich einfache Empfindungen wie Durst oder Hunger. Für diese Menschen gilt der Grundsatz: Nichts fühlen ist auch ein Gefühl. Wer sich so stark von seiner Selbstwahrnehmung abgeschnitten hat, begegnet oft als Erstes dem Eindruck »nichts fühlen zu können«.
Wie ist das bei dir? Verkneifst du dir zum Beispiel Hunger oder Durst, weil die Arbeit fertig werden muss? »Schnell noch diese Seite fertig schreiben, nur noch eine E-Mail beantworten, noch ein Telefonat, ein Gedanke …«, und dann ist plötzlich eine Stunde um oder zwei oder drei. Wer kennt das nicht? Hängst du abends noch lange müde und erschöpft vor dem Fernseher oder Computer, anstatt ins Bett zu gehen und zu schlafen? Was ist der Grund dafür? Wer hat dir das beigebracht? Welche innere Stimme treibt dich an, über deine Grenzen zu gehen? In der Körperorientierten Psychotherapie nennen wir diese innere Stimme auch den »inneren Antreiber«. Bei der Auseinandersetzung mit psychosomatischen Krankheiten spielt er eine sehr wichtige Rolle, deshalb habe ich ihm im späteren Verlauf auch ein ganzes Kapitel gewidmet.
Und wie gehst du mit deinen Bedürfnissen nach Nähe und Geborgenheit oder auch der inneren Erlaubnis nach Grenzen und Rückzug um? Erwachsene haben ebenso wie Kinder ein Bedürfnis nach Kontakt, Nähe und Geborgenheit, nur eben auf eine erwachsene Art und Weise. Ein großer Unterschied ist, dass wir als Erwachsene selbst dafür verantwortlich sind unsere Beziehungen zu pflegen, uns selbst Geborgenheit zu geben oder zu holen. Dafür zu sorgen, dass wir uns wohlfühlen, indem wir uns Räume für Begegnungen, Berührung und Freude schaffen oder umgekehrt für Rückzug und Erholung. Besonders diese nährenden, positiven Gefühle von seelischer Geborgenheit und Zugehörigkeit stärken unser Immunsystem und damit die Gesundheit.
Der schwierigste Teil auf dem Weg zur Genesung ist oftmals die Auseinandersetzung und Aufarbeitung der großen, ganz persönlichen Themen und Verletzungen, die uns seit der Kindheit begleiten oder uns schon in die Wiege gelegt wurden. Diese »wunden Punkte« beeinflussen unser ganzes Leben und können uns krank machen. Bei tiefen Verletzungen kommt erschwerend hinzu, dass wir sie zunächst oft gar nicht bewusst wahrnehmen können, da sie aufgrund von Selbstschutzmechanismen verdrängt werden. Sie erzeugen aber eine Art Grundrauschen, durch das unser allgemeiner Stresspegel insgesamt erhöht ist. Das macht unseren Körper dann natürlich insgesamt anfälliger für Stress.
Auf solche Themen werden wir oft erst durch Krankheiten gestoßen, die, wie es bei psychosomatischen Krankheiten üblich ist, nicht auf dem »normalen Weg« auskuriert werden können. Vielfach zwingen uns erst diese Krankheiten, genauer hinzusehen und uns mit unseren seelischen Verletzungen auseinanderzusetzen.
Heilung entsteht, wenn wir lernen, wohlwollend mit unseren Verletzungen und Mustern umzugehen und die Gefühle anzunehmen, die damit verbunden sind, auch wenn es uns manchmal sehr schwerfällt.
Das Annehmen dieser Gefühle macht uns authentischer, klüger und stärker.
Gefühle, die unser Leben maßgeblich beeinflussen
Besonders Angst ist ein unbeliebtes Gefühl, aber wenn wir auf sie achten, kann sie uns im entscheidenden Moment schützen. Gefühlter Ärger kann uns dabei helfen, uns rechtzeitig abzugrenzen. Der gefühlte Wunsch nach Nähe und Geborgenheit kann uns davor schützen, in Süchte abzugleiten. Gefühlte Bedürfnisse können uns helfen, ein gesundes Leben zu führen und authentisch zu sein. Bei näherem Hinsehen sind Zufriedenheit und Unzufriedenheit sehr wichtige Gefühle, die oft unterschätzt werden. Sie sind vollkommen individuell und von ganz unterschiedlichen, dahinterliegenden Gefühlen motiviert. Darauf werde ich im Verlauf dieses Buchs noch näher eingehen.
Wir alle haben es mit Sicherheit schon erlebt: Wenn wir uns über einen längeren Zeitraum, in einer schwierigen Situation befinden, entsteht im Inneren eine bohrende Unzufriedenheit. Diese Unzufriedenheit drückt aus, dass Körper und Seele sich unwohl fühlen, dass sich verschiedene Gefühle wie Ärger, Frustration oder Enttäuschung angehäuft haben. Sie treibt uns an, Dinge zu verändern, uns auf den Weg zu machen, etwas Neues zu lernen, nach der Liebe Ausschau zu halten oder uns weiterzuentwickeln. Gehirnbiologisch sind Phasen, in denen wir ein solch inneres Dilemma lösen müssen, immer besonders sinnvoll und effektiv, da das Gehirn dadurch gezwungen wird, neue Strategien zu entwickeln. Die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit ist ebenso ein Gefühl und eine Triebkraft wie Angst, Enttäuschung oder Einsamkeit.
Praxisbeispiel: Eine meiner Patientinnen wurde von einem starken Hautausschlag gequält. Versteckter Auslöser dieser Erkrankung war ein tiefes Gefühl von Einsamkeit, was sie stets mit übertriebener Fürsorge für andere überspielte. Sie war gezwungen, sich mehrmals am Tag einzureiben und sich auf diese Weise endlich mal ganz intensiv sich selber zuzuwenden. Der Ausschlag war anfangs so schlimm, dass sie im Krankenhaus von den Schwestern eingerieben werden musste. So erlebte sie das erste Mal in ihrem Leben...