Komfortzonen verhindern Bewegung. Schaffen Sie einen spannenden Sog, der Mitarbeitende anzieht: Bieten Sie Sinn, erzeugen Sie Resonanz und erleichtern Sie Kongruenz.
In einem Satz:
Eine Absicht ohne Anknüpfungspunkte ist wie ein Brief ohne Anrede.
Wenn Sie führen, dann immer von A nach B: Deswegen lösen Sie unweigerlich immer auch Wandel aus, schaffen Unruhe und erzeugen Unsicherheit. Eine Tatsache, die Führende schon früh in ihrer Karriere als untrennbare Konsequenz ihres Handelns akzeptieren lernen sollten. Menschen mögen keine Veränderungen. Sie sparen ihre Energie, bilden Routinen, bauen Sicherheiten und schaffen sich eine Komfortzone, in der vieles in möglichst berechenbaren, vorhersehbaren Bahnen abläuft. Darin ist ihre Wandlungsresistenz begründet, mit der sich Führende regelmässig konfrontiert sehen – und sie an ihre Grenzen bringt. Wie sollen sie Mitarbeitende bewegen? Wie mit auf eine Reise von A nach B10 nehmen? Viele setzen auf sogenannte „Burning Platforms“. Das sind dringliche Themen und Fragen, die unbedingt angegangen werden sollten, um ein noch grösseres Problem zu vermeiden. Sie sollen den nötigen Druck aufbauen, der Mitarbeitende quasi aus ihren Komfortzonen in Entwicklungszonen schleudert (siehe Abb. 2):
Abb. 2: Das Lernzonenmodell
Ist dieser Druck jedoch zu gross, landen Mitarbeitende nicht etwa in der gewünschten Entwicklungs-, sondern in der Panikzone, wo sie entweder in Schockstarre verharren, fliehen, sich tarnen oder angreifen. Keines der vier Muster ist für den Weg von A nach B wirklich hilfreich. Sie kennen diese Muster übrigens aus der Tierwelt: Eidechsen erstarren, Pferde fliehen, Chamäleons tarnen sich und Löwen greifen an. Sie werden im Führungsalltag allen vier Verhaltensmustern begegnen.
Möglicherweise sind Sie der Meinung, dass in gewissen Situationen Druck die einzige Alternative darstellt, Mitarbeitende zu bewegen. Beispielsweise in einer Krise. Oder wenn Sie mit Ihren bisherigen Veränderungsinitiativen keinen Erfolg hatten. Das ist verständlich. Doch meistens liegen die Ursachen solcher Situationen weiter zurück, waren zwar offensichtlich, wurden trotzdem nicht korrigiert – aus Zeitmangel oder Desinteresse oder blauäugiger Hoffnung auf Selbstheilung.
Beispiel
Jüngst hat mich ein CTO gebeten, mit dem IT-Architekt an dessen Selbstführung zu arbeiten, sodass überfällige Aufgaben endlich erledigt und Resultate stufengerecht im Verwaltungsrat präsentiert würden. Und zudem sollte das Vertrauen in die IT als professioneller Dienstleister innerhalb des Unternehmens gestärkt werden. Schon nach kurzer Zeit war offensichtlich, dass der IT-Architekt diesen Anforderungen weder heute noch in naher Zukunft gewachsen war – Coaching war also das falsche Instrument (wird jedoch von Führenden gerne als Hilfestellung angeboten, obwohl sie selbst besser helfen könnten). Da sich der CTO nie umfassend mit dem IT-Architekt und dessen Fähigkeiten auseinandergesetzt, sondern angenommen hat, dass sich dieser wie andere Führende verhalte, konnte eine für alle involvierten Parteien unglückliche Situation entstehen und wachsen.
Je früher Sie den Wandel als naher Verwandter der Führung akzeptieren, desto einfacher fällt Ihnen der Umgang mit den kleinen Widerständen. Und so sollten Sie sich in der Regel nur sehr selten in der Situation wiederfinden, in der Ihnen nur noch drastische Korrekturmassnahmen und Druck als Führungsinstrument offenbleiben. Burning Platforms sind auch deswegen häufig eine schlechte Wahl, weil sie Angst auslösen und deswegen Gegendruck erzeugen. Dann verteidigen Mitarbeitende ihre Positionen, horten Wissen, misstrauen sich. Darunter leidet die Kooperation, die Sie auf dem Weg von A nach B benötigten.
Vermeiden Sie die Burning Platforms und schlagen Sie stattdessen einen konstruktiveren, positiveren Pfad ein: Legen Sie keinen Flächenbrand, sondern graben Sie ein Wasserloch. Damit erzeugen Sie Sog statt Druck. Vor wenigen Jahren erlebte ich mit meiner Frau in Afrika für ein paar Tage eine Safari-Tour. Eine wirksame Erfolgstaktik, die wilden Tiere auch tatsächlich zu sehen, besteht darin, sich in die Nähe eines Wasserlochs zu setzen. Dorthin wollen ALLE Tiere – früher oder später. Das Schauspiel, das sich uns an diesen Wasserlöchern bot, war schlichtweg einmalig. Und genau da ist mir aufgefallen, dass der Sog zu etwas Positivem mindestens ebenso wirksam ist, wie die Angst vor etwas Negativem – jedoch ohne negative Begleiterscheinungen. Besser, Sie erzeugen eine selbstständige und selbstgewählte Bewegung statt eine panikartige Flucht.
Ein Wasserloch zieht an und löst eine Bewegung aus, die sich auf andere überträgt. So wächst eine Dynamik, die ein ganzes System erfassen kann.11 2004 hat der damals noch kaum bekannte Barack Obama seinem Publikum in äusserst beeindruckender Art und Weise ein „Wasserloch“ angeboten – und seine Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten perfekt vorbereitet.12
Ganz unabhängig davon, auf welchen der beiden Ansätze Sie setzen, sollten Sie möglichst vielen Mitarbeitenden Anknüpfungspunkte zu Ihrer Absicht bieten. Deshalb sind Geschäftsleitungspräsentationen, Presse-Statements oder Strategiepapiere wenig geeignet, auch wenn sie Ihnen den Kommunikationsaufwand auf den ersten Blick erleichtern. Denn in der Regel passen sie nur zu einem bestimmten Zielpublikum. Wenn sich Ihr Zielpublikum jedoch davon unterscheidet, dann sollten Sie Transformationsleistung erbringen und die Unterlagen anpassen. Dadurch wirken Sie, Ihre Absicht und Ihre Präsentation echt und authentisch. Anderenfalls riskieren Sie, an den Mitarbeitenden vorbeizureden. Die Folgen: Die Mitarbeitenden erkennen keine Anknüpfungspunkte, verstehen nicht, wie sie mit den Informationen umgehen sollen. Es geht hier nicht um Ihre rhetorischen Fähigkeiten. Es geht darum, dass Sie Ihr Zielpublikum ernst nehmen, in seine Schuhe schlüpfen und demonstrieren, dass Sie die Bedürfnisse, die Situation, die Ängste verstehen.
Beispiel
Ich vermute, dass fast allen Führenden bewusst ist, dass positives Feedback Mitarbeitende inspiriert und ihr Engagement erhöht. Und obwohl ein positives Feedback weder viel Zeit braucht noch etwas kostet und eine sich selbst multiplizierende Wirkung erzeugt, verzichten viele Führende trotzdem darauf. Möchte ich Führende nun dazu bringen, mehr positives Feedback zu äussern, muss ich verstehen, weshalb sie wider besseres Wissen handeln. Führende scheinen Konsequenzen zu fürchten, die sie nicht kontrollieren können (z. B. vermeintlicher Verlust an Autorität, Angst vor Lohnforderungen). Deshalb fällt es ihnen auch nicht leicht, Herz über Kopf zu handeln und über den eigenen Schatten zu springen. Doch genau das wäre notwendig und deswegen brauchen sie ein Wasserloch und passende Anknüpfungspunkte: „Wenn unsere Mitarbeitenden eigeninitiativ, kreativ und engagiert handeln, entstehen unserem Unternehmen neue Chancen. Dieses Engagement birgt jedoch auch Risiken. Vielleicht wird eine spezielle Belohnung als Gegenleistung erwartet. Oder Mitarbeitende meinen, sich in alle Themen einmischen zu können. Diesen und anderen Risiken begegnen wir, indem wir ausschliesslich chancenverstärkendes Verhalten unterstützen, indem wir es sichtbar machen – durch positives Feedback.“
Bevor ich nun weiter auf die Anknüpfungspunkte Ihrer Absicht eingehe, bitte ich Sie, für sich selbst zu klären, welche Position Sie gegenüber Ihren Adressaten wahrnehmen wollen: Sehen Sie sich als Trainer am Spielfeldrand, als Mitspieler auf dem Spielfeld oder sitzen Sie gar auf der Tribüne? Sehen Sie sich als Retter, als Experte oder General? Oder alles zusammen? Wie auch immer Sie sich sehen (wollen), seien Sie sich Ihrer Position bewusst und insbesondere dem Signal, das Sie aussenden und der Wirkung, die Sie erzielen. Für mich und somit aus der Perspektive der T.I.G.E.R.-Führungsmethode© müssen Führende nicht zwingend inspirierende Visionäre oder umsetzungsstarke Macher sein. Jedoch sollten sie vor allem Chancen schaffen und zwischen diesen Chancen und Mitarbeitenden vermitteln, sodass die Chancen als solche erkannt und wahrgenommen werden. Deswegen sollten Sie sich, wenn Sie Ihre Absicht vermitteln, zurücknehmen. In der Führung geht es nicht um Sie, sondern um Chancen, die sich bieten. Nicht Sie sind der rettende Held, sondern Ihr Publikum.13 Stellen Sie es in den Mittelpunkt. Zeigen Sie ihm, dass Sie seine Bedürfnisse, Hoffnungen und Ängste im Zusammenhang mit der Reise von A nach B verstehen – ganz egal, wie weit A (Start) und B (Ziel) auseinanderliegen. Also: Wo stehen Sie? Wie sehen Sie sich selbst?
Hinweis
In einem Workshop hat mich jüngst eine Vertriebsleitende gefragt, ob sie denn Gutes nicht einfach belassen kann, ohne daran herumzudoktern. Es müsse ja nicht alles auf Biegen und Brechen verändert werden. Das ist selbstverständlich richtig. Führung und Wandel sind nicht Selbstzweck. Nur lehrt uns die Erfahrung, dass Gutes selten gut bleibt und kontinuierliche Weiterentwicklung erfordert. Das gilt beim Lernen einer Sprache genauso wie im Sport oder eben in der Arbeit. Und im Wissen darum sollten Führende die Entwicklungen genau beobachten und auch kleine Korrekturen pro-aktiv anpacken, statt zuzuwarten, bis eine grössere Anpassung notwendig wird. Und nein, es geht an dieser Stelle nicht darum, den grossen Sprung zu schaffen, die alles verändernde Innovation zu finden oder...