Wer bin ich?
Kurz gesagt ist Selbstwahrnehmung die Voraussetzung für Empathie und Selbstmanagement, die wiederum Beziehungsmanagement ermöglichen. Das Fundament für emotional intelligente Führung ist also Selbstwahrnehmung.
Daniel Goleman, 2002
In den Seminaren erlebe ich immer wieder Teilnehmer, die noch nie über Fragen wie diese nachgedacht haben: Wer bin ich? Was macht mich als Mensch aus? Zugegeben, das ist nicht Thema in unseren Schulen, Universitäten und Ausbildungen – und vielleicht auch zu wenig in unseren Familien. Aber wie können wir sinnvoll unser Leben gestalten, wenn wir nicht wissen, wer wir sind? Wie sollen wir herausfinden, wohin wir wollen? Wie wollen wir da anderen gute Ratschläge oder vernünftige Anweisungen geben? Sie erinnern sich: Führung beginnt mit Selbstführung. Und für die gibt es nur einen Startpunkt: Selbstreflexion. Also begeben Sie sich auf »Los«!
Die Frage »Wer bin ich?« ist keine simple Angelegenheit. Es ist unwahrscheinlich, dass Sie wie aus der Pistole geschossen eine knappe Antwort finden werden, wenn Sie sie ernst nehmen. Und vermutlich werden Sie diese Frage zu unterschiedlichen Zeitpunkten Ihres Lebens unterschiedlich beantworten. Erinnern Sie sich noch an den Stolz bei der Einschulung: »Jetzt bin ich ein Schulkind!« Oder ein paar Jahre später: »Ich habe Schlag bei Frauen« (oder bei Männern – oder leider wenig Erfolg). Was sagen Sie heute? »Ich bin zielstrebig«? Ergibt das ein vollständiges Bild? Und was ist mit Ihren früheren Selbstbeschreibungen? Wahrscheinlich sind die immer noch in Ihnen lebendig. Die Sache ist also komplex.
Es geht eher um eine grundlegende Haltung der Bestandsaufnahme. Sie schalten für ein paar Momente Ihren Aktionsmodus auf Stand-by und versuchen, den roten Faden zu finden. Was ist wesentlich? Was hat sich verändert, was ist gleich geblieben? Es geht um eine Annäherung. Die letzten 3000 Jahre Geistesgeschichte haben gezeigt, dass wir Menschen vermutlich nicht besonders befähigt sind, endgültige Wahrheiten zu offenbaren. Aber wir sind gut darin, vorläufige Antworten zu finden – und dann zu schauen, wie weit wir damit kommen.
»Erkenne dich selbst!« stand schon im Eingangsbereich des Tempels von Delphi. Die Aufforderung bringt uns jedoch in eine Zwickmühle: Selbsterkenntnis ist von entscheidender Wichtigkeit für unser Leben – sie ist jedoch mit zwei prinzipiellen Schwierigkeiten verbunden, die wir nicht ausschalten können. Niemand kennt uns besser als wir uns selbst. Kein anderer kann unsere Gedanken in Echtzeit verfolgen und unseren jeweiligen Gefühlscocktail eins zu eins mitempfinden. Das macht die Sache aber nicht unbedingt einfacher, sondern in der Regel ziemlich verwirrend. Wie im Büro ist es auch in unserem Innenleben oft nicht leicht, zu sagen, was in dem ganzen Trubel wesentlich und wichtig ist. Es ist allerdings keine gute Idee, deshalb kurzerhand den Empfang nach innen abzuschalten. Zu wenig Informationen sind noch nie hilfreich gewesen. Viele Mitmenschen machen es trotzdem.
Und Schwierigkeit Nummer zwei: Alle unsere Selbstwahrnehmungen sind unerbittlich von einem Standpunkt bestimmt: unserem eigenen. Wir können aus unserer Haut nicht heraus. Wir können uns nicht mal eben ganz entspannt aus der Distanz beobachten. Klar, dass dies Tür und Tor für Wunschdenken, Scheuklappen-Ansichten, Fehlinterpretationen und dergleichen öffnet. Hier können wir uns nur auf die gleiche Weise behelfen, wie wir vor einem Date sicherstellen, dass die berühmte loriotsche Nudel nicht in unserem Gesicht hängt, nämlich mit einem Spiegel.
Das ist natürlich metaphorisch gemeint. Als Spiegel kann uns alles Mögliche dienen: unsere Leistungen (selbstverständlich mit einem ehrlichen Blick auf die Bereiche, in denen wir durchschnittlich abschneiden oder sogar scheitern) oder unsere Lebenspartner und enge Freunde. Die haben den Vorteil, dass sie einen anderen Blickwinkel und einen eigenen Kopf haben, dass sie sprechen und uns ihre Meinung sagen können. Da gilt es die Kunst zu entwickeln, nicht nur das herauszuhören, was man hören will. Interessant kann es auch sein, einmal im Rückblick die eigenen Lebenskonzepte Revue passieren zu lassen: Wie habe ich mich selbst gesehen – mit sechs, mit achtzehn, mit dreißig?
Wir alle haben einen langen Weg hinter uns gebracht bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir jetzt stehen. Einen Weg voller Erfahrungen, die uns geprägt haben, viele davon zu einem Zeitpunkt, bevor unser eigenes Bewusstsein überhaupt erwacht ist. Es macht Sinn, darauf immer mal wieder zurückzuschauen. Manches, was unser Handeln bestimmt, ist uns so selbstverständlich, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen. Ein kleiner Schritt zu mehr Bewusstsein kann einen enormen Fortschritt für unser jetziges Leben bedeuten.
Um einen guten Spiegeleffekt zu erreichen, gibt es eine Menge Tricks, Tools und Verfahren. Wenn das Thema für Sie ungewohnt ist, empfehle ich Ihnen eine einfache Einstiegsübung, die das Abenteuer Selbsterkenntnis emotional verankert und Ihr Interesse weckt, weiterzumachen. Eine für die meisten Menschen ziemlich bewegende Aufgabe ist die ultimative Bestandsaufnahme: Schreiben Sie Ihre eigene Grabrede. Der Spiegeleffekt ergibt sich durch das symbolisch aufgeladene Format der festlichen Rede. In der fiktiven Rückschau treten die wesentlichen Grundzüge ungeschönt zutage. Meist schließt sich nach dem vorgezogenen Rückblick die Frage an: Welches Kapitel muss noch in Angriff genommen werden, damit die Geschichte einen guten Schluss bekommt?
Ich mag es allerdings lieber etwas weniger dramatisch. Deshalb bitte ich meine Klienten häufig, ihren »Lebensbaum« zu zeichnen. In aller Regel sind die Beteiligten nach dem ersten Schock (»Was für ein Kitsch«, »Ich kann nicht zeichnen«) bald vertieft in ihre Werke. Deshalb möchte ich Sie ermuntern, diese Übung jetzt zu machen. Sie brauchen mindestens einen Stift und circa zwanzig Minuten Zeit. Der Spiegeleffekt entsteht durch die Übertragung in die Metapher der Pflanze – und durch die ungewohnte Darstellungsweise. Gerade wenn Sie nicht geübt sind im Zeichnen, gibt Ihnen das die Chance, Dinge zu entdecken, die Sie nicht gewohnt sind zu denken.
Lebensbaum-Übung
Ihr Lebensbaum macht drei unterschiedliche Bereiche anschaulich:
- Die Wurzeln stehen für Herkunft und Vergangenheit, für das, was Sie geprägt hat. Zum Beispiel Heimat, Familie, Schlüsselerlebnisse, wichtige Veränderungsphasen, Ausbildungen, Begegnungen, Vorbilder … Die zentrale Frage lautet: Woher komme ich?
- Der Stamm steht für Ihre persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, welche Schlüsse gezogen, welches Verhalten entwickelt, welche Kernkompetenzen erworben? Die zentrale Frage lautet: Wer bin ich geworden?
- Die Krone gibt Raum für die Frage: Welche Früchte sind in Ihrem bisherigen Leben beruflich und privat sichtbar geworden? Die zentrale Frage lautet: Was habe ich bewirkt?
Lassen Sie sich ein paar Minuten Zeit, die Fragen auf sich wirken zu lassen. Nehmen Sie die Gedanken, die spontan dazu kommen, ernst. Dann skizzieren Sie Ihren Lebensbaum so, dass Sie die entsprechenden Begriffe in der Zeichnung unterbringen können. Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und: Es geht nicht um Kunst, sondern um eine Gedächtnisstütze, mit der Sie Ihre momentanen Gedanken klären können. Natürlich ist so ein Bild auch eine gute Basis, um andere an dem Prozess teilhaben zu lassen, wenn Sie wollen. Jemandem die eigenen Einsichten zu erklären und dann ein aufrichtiges Feedback zu bekommen, schaltet Ihre Selbstreflexion auf Turbo!
Mit ziemlicher Sicherheit wird allein der Rahmen dieser einfachen Aufgabe Ihnen ein paar neue Erkenntnisse vermitteln. Dinge, die Sie vorher nicht präsent hatten, Zusammenhänge, die Sie so nicht gesehen haben. Selbstreflexion ist ein produktiver Prozess, der zuverlässig einsetzt, wenn man ihm den nötigen Raum gibt. Und allein die Tatsache, dass Sie diese Skizze gemacht haben, wird Ihr Hirn weiterbeschäftigen. Es hat nun eine Vorlage, mit der es Ihren Alltag abgleichen kann. Was findet sich wieder? Was fehlt? Wenn Sie in ein paar Wochen oder Monaten wieder eine ähnliche Bestandsaufnahme machen, haben Sie bereits einen Bezugspunkt. Sie bringen Struktur in Ihre Selbsterkundungen und können vergleichen: Was hat sich an meiner Selbsteinschätzung verändert, verbessert, vertieft …? Willkommen in der spannenden Welt der Selbstreflexion!
Sind Sie einmal in Kontakt gekommen mit dieser Herangehensweise, empfiehlt es sich, Ihre Wahrnehmung in professionellen Trainings weiterzuentwickeln. Hier können Sie hilfreiches Handwerkszeug erlernen; und das geht in der gemeinsamen Praxis weit besser als durch einsames Lesen von Fachbüchern. Auf diese Weise wird die Selbstreflexion zum selbstverständlichen Bestandteil Ihres Alltags. Und zwar so, wie es die Situation erfordert. Meist als kurzes Gegenchecken. Manchmal als tiefschürfender Klärungsprozess. Entscheidend bleibt immer wieder Ihre persönliche Erfahrung: Sie erleben einen klaren Schritt zu mehr Durchblick.
Auf dem Markt sind eine ganze Reihe empfehlenswerter Tools zur systematischen Selbsterkundung. Ihren Spiegeleffekt erreichen sie alle auf die gleiche Weise: Sie bieten ein orientierendes Modell von Eigenschaften, Typen oder Anteilen der Persönlichkeit, und sie geben den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich über ausgefeilte Fragebögen oder Ähnliches in diesem Modell zu verorten. Die meisten Ansätze kommen aus der Psychologie, sind aber auf die Erfordernisse des Alltags zugeschnitten. Sie müssen also...