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Gab es eine Alternative? / Trotzkismus

Band 1

AutorWadim S Rogowin
VerlagMEHRING Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl454 Seiten
ISBN9783886347803
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Beschrieben werden die Auseinandersetzungen in der Kommunistischen Partei von 1922 bis 1927. Die Bildung der Linken Opposition 1923 ist der Beginn des Kampfs gegen den wachsenden Einfluss der Bürokratie in der Sowjetunion.

Wadim S. Rogowin ist Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Anlass zu bisweilen heftigen Kontroversen bieten in der Sowjetunion seine umfangreichen Veröffentlichungen zu Problemen der Sozialpolitik, zur Entwicklungsgeschichte des gesellschaftlichen Bewusstseins und zur Geschichte politischer Bewegungen in der UdSSR. Der Linken Opposition gegen den Stalinismus gilt von jeher sein besonderes Interesse. Die Öffnung zuvor geheimer Archive infolge der Auflösung der Sowjetunion ermöglicht ihm die Vervollständigung seiner Forschungen durch eine Fülle neuer Erkenntnisse.

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Leseprobe

Einführung


Jede große Revolution stellt Zeitgenossen und Nachfahren vor historische Kardinalfragen, über die noch jahrzehntelang Streit geführt wird. Die grundlegendste Frage, die von der Oktoberrevolution und ihren Folgeerscheinungen aufgeworfen wurde, betrifft den Zusammenhang zwischen Bolschewismus und Stalinismus.

Die sowjetische Geschichtsschreibung der 1930er bis 1980er Jahre, die mehr als jede andere Geisteswissenschaft erstickendem administrativen Druck ausgesetzt war, gab auf diese Frage eine eindeutige Antwort. Sie vermied den Begriff »Stalinismus« und stellte die gesamte Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nach der Oktoberrevolution als Umsetzung der Ausgangsprinzipien des Marxismus-Leninismus dar. Jegliche Äußerung, die dieses Postulat in Zweifel zog, wurde als Ausdruck von Antikommunismus und Sowjetfeindlichkeit stigmatisiert. Es wurden so viele Mythen und Fälschungen hervorgebracht, dass man keine der seit Ende der zwanziger Jahre in der UdSSR erschienenen zusammenfassenden Untersuchungen über die Zeit nach dem Oktober als wirklich wissenschaftlich bezeichnen kann.

Die Neubewertung der gesamten sowjetischen Geschichte in den letzten Jahren stellte die Forscher vor eine Grundfrage: Warum entstand auf dem von der Oktoberrevolution bereiteten Boden ein so monströses Phänomen wie der Stalinismus, der die Idee des Sozialismus in den Augen von Millionen Menschen weltweit in Misskredit brachte?

Auf diese Frage gibt es, wie es scheint, nur zwei Antworten. Die eine besagt, dass die Entwicklung von der sozialistischen Revolution zur Terrordiktatur Stalins historisch gesetzmäßig und unvermeidlich gewesen sei und dass es im Rahmen des Bolschewismus keine politische Alternative dazu gegeben habe. Wenn es so wäre, müsste man alle Stadien zwischen der Oktoberrevolution 1917 und der Konsolidierung des stalinistischen Regimes als bedeutungslose Zickzackbewegungen auf dem von der Oktoberrevolution verhängnisvoll vorgezeichneten Kurs betrachten, und der innerparteiliche Kampf der zwanziger Jahre wäre eine historische Episode, die in jedem Fall zu einem ähnlichen Ergebnis wie dem Stalinismus geführt hätte.

Die andere Antwort geht davon aus, dass der Stalinismus nicht das unvermeidliche logische Ergebnis der Oktoberrevolution und dass Stalins Sieg in gewissem Sinne ein historischer Zufall gewesen sei, dass es innerhalb des Bolschewismus eine starke Strömung gegeben habe, die eine reale Alternative zum Stalinismus bot, und dass im Kampf gegen diese Strömung die Hauptfunktion des stalinschen Terrors bestanden habe.

Zur wissenschaftlichen Untermauerung der jeweiligen These ist es vor allem erforderlich, sich auf eine möglichst vollständige Sammlung der historischen Fakten zu stützen. »Unrichtige Vorstellungen in jeder Wissenschaft sind schließlich, wenn wir von Beobachtungsfehlern absehen, unrichtige Vorstellungen von richtigen Tatsachen. Die Letzteren bleiben, wenn wir auch die Ersteren als falsch nachgewiesen.«[[1]]

In der Geschichtswissenschaft kam es häufiger als in anderen Wissenschaften vor, dass eine falsche Interpretation wahrer Tatsachen weniger aus einem ehrlichen Irrtum herrührte als vielmehr eine bewusste oder unbewusste Bedienung politischer Forderungen darstellte. Dennoch kann man ohne Übertreibung sagen, dass es vor dem 20. Jahrhundert noch nie so zahlreiche Fälschungen gegeben hat, die auf einer tendenziösen Überbetonung und Interpretation bestimmter Fakten und dem Verschweigen anderer beruhten. Noch niemals haben historische Geschichtsfälschungen in solchem Maße als ideologisches Instrument gedient, um ein Volk zwecks Durchsetzung einer reaktionären Politik zu täuschen. Nie zuvor waren so viele ideologische Amalgame erschaffen worden, die auf einer willkürlichen Gleichsetzung völlig unterschiedlicher, räumlich und zeitlich voneinander getrennter historischer Phänomene basierten.

Der Begriff »Amalgam« (im wörtlichen Sinne eine Legierung unterschiedlicher Metalle) hatte seine erste Anwendung auf das politische Leben während der Großen Französischen Revolution erfahren. Nach dem konterrevolutionären Staatsstreich am 27. Juli 1794 (nach dem Kalender der Republik der 9. Thermidor des Jahres II) bezeichnete man damit die von den Thermidorianern praktizierte Methode, die verschiedensten »Verschwörungen« zu konstruieren: Monarchisten, revolutionäre Jakobiner, Kriminelle usw. wurden nebeneinander auf die Anklagebank gesetzt. Der Zweck bestand darin, Schuldige und Unschuldige miteinander zu vermengen und letztlich das Volk zu täuschen, indem man Hysterie gegen die Jakobiner schürte.

Bereits Ende der zwanziger Jahre versuchte die linke Opposition nachzuweisen, dass Stalin und seine Anhänger sich der Methode des Amalgams bedienten, um Oppositionelle der Zusammenarbeit mit antisowjetischen Kräften zu bezichtigen. In den dreißiger Jahren sprach Trotzki von stalinistischen Amalgamen im weiteren Sinne; er meinte damit die provokative Gleichsetzung der Bolschewiki – Gegner Stalins – mit konterrevolutionären Verschwörern, Terroristen, Diversanten und Spionen ausländischer Geheimdienste. Diese Methode diente als Hauptinstrument zur Täuschung des Sowjetvolkes und der fortschrittlichen Öffentlichkeit, um sich ihres Vertrauens in die furchtbaren Unterdrückungsmaßnahmen gegen »Volksfeinde« zu versichern. Später wurden völlig unterschiedliche Gruppen auf diese Weise »amalgamisiert«, d.h. zusammengeworfen: auf der einen Seite Beteiligte an Verschwörungen der Weißen und auf der anderen normale Bürger, die es gewagt hatten, ein falsches Wort zu sagen; zum einen Beteiligte an den Bauernaufständen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre und zum anderen Mittelbauern, die im Rahmen entsprechender Kontingentpläne »entkulakisiert« wurden; ehemalige besitzende Schichten aus dem zaristischen Russland, die die Oktoberrevolution hassten, weil sie ihnen ihre Privilegien genommen hatte, und Kommunisten, die sich kritisch über das Stalin-Regime geäußert hatten; Wlassow-Leute oder Überläufer zur Nazi-Polizei und Kriegsgefangene, die ihren Namen nicht durch Kollaboration mit den Faschisten beschmutzt hatten und durch die Hölle der faschistischen Lager gegangen waren; Organisatoren und Mitglieder nationalistischer Banden und ganze Völker, die gnadenlos deportiert wurden.

Ebenso willkürlich waren auch die »auf den Kopf gestellten stalinistischen Amalgame« der Antikommunisten. Sie führten sämtliche tragischen Ereignisse in der Geschichte nach der Oktoberrevolution auf bestimmte, der bolschewistischen Partei angeblich von Anfang an innewohnende Eigenschaften und Mängel zurück. Bereits Trotzki hatte derartige in den dreißiger Jahre bei Diskussionen über die Ursprünge und das Wesen des Stalinismus aufgekommenen Geschichtsauffassungen widerlegt und aufgezeigt, dass Amalgame dieser Art auf idealistischen Vorstellungen beruhten, wonach die bolschewistische Partei eine gewissermaßen allmächtige Kraft der Geschichte sei, die in einem luftleeren Raum bzw. mit einer amorphen Masse agiere und keinem Widerstand des sozialen Umfelds oder Druck von außen ausgesetzt sei.

Eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung dieser Auffassungen spielten ehemalige orthodoxe Kommunisten, die unter dem Eindruck der tragischen Ereignisse der dreißiger Jahren mit der kommunistischen Bewegung gebrochen und dem Marxismus abgeschworen hatten. Ihre Argumente wurden von der Berufssowjetologie aufgegriffen, die im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. In den vierziger und fünfziger Jahren erschienen Hunderte von Arbeiten, in denen die Idee verbreitet wurde, dass der Stalinismus durch den Charakter der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution schicksalhaft vorbestimmt gewesen sei. Die »frühen« westlichen Sowjetologen legten bei der Interpretation der Beziehung zwischen Bolschewismus und Stalinismus eine erstaunliche Einmütigkeit an den Tag. »Diese Einmütigkeit überdauerte den Aufstieg und den Niedergang verschiedener Methodologien und Ansätze und bekräftigte folgende simplifizierende Schlussfolgerung: Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied, keine logische Inkongruenz zwischen Bolschewismus und Stalinismus, die in politischer und ideologischer Hinsicht ein und dasselbe sind.[[2]]

Dass dieser Mythos jahrzehntelang Bestand hatte, lässt sich damit erklären, dass historische Verallgemeinerungen, die aus einer unvoreingenommenen Analyse zahlreicher unbestreitbarer und unumkehrbarer Fakten erwachsen sollten, in Zeiten extremer politischer Spannungen in der Regel von den politischen Sympathien der Wissenschaftler geprägt sind. Obwohl die westliche akademische Sowjetologie weitaus mehr Faktenmaterial einsetzte als die sowjetische Geschichtsschreibung, erfüllte sie im »Kalten Krieg« auch einen bestimmten »sozialen Auftrag« und litt infolgedessen unter ihren eigenen ideologischen Scheuklappen. Erst seit den siebziger Jahren nahmen die seriösesten Forscher Abstand von der »vorherrschenden Auffassung, der Stalinismus sei das logische, unvermeidliche Ergebnis der bolschewistischen Revolution«.[[3]]

Man sollte meinen, die Aufdeckung von Stalins Verbrechen in der UdSSR hätte zu einem ähnlich produktiven Prozess bei der Zerstörung historischer Mythen – etwa solcher, die von der stalinschen Fälscherschule in Umlauf gebracht worden waren – führen müssen. Aber die ersten beiden Wellen der Kritik am Stalinismus in der UdSSR (nach dem zwanzigsten und dem zweiundzwanzigsten Parteitag), die Chrustschow – einst einer der eingeschworensten Stalin-Anhänger – auslöste, ließen die wichtigsten Mythen aus dieser Schule unangetastet. In seiner Rede »Über den Personenkult und seine Folgen« auf dem zwanzigsten Parteitag...

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