Prolog
Sie sind gerade dabei, einen politischen Thriller aufzuschlagen. Es handelt sich nicht um einen Roman, noch nicht einmal um die dramatisierte Version realer Ereignisse – das Buch gehört eindeutig in die Kategorie Sachbuch. Die Ereignisse, die es beschreibt, haben alle stattgefunden. Auch die Personen sind real. Ihre Identitäten sind nicht verändert worden, um »Unschuldige« zu schützen. Davon gibt es in dieser Geschichte ohnehin nur ganz wenige.
Dies ist die Geschichte von sieben Jahren, in denen das griechische Drama die Welt buchstäblich in Atem hielt. Es ist die Geschichte eines Landes, das von seinen Fehlern eingeholt und dazu gezwungen wurde, beispiellose, schmerzliche Maßnahmen zu treffen. Es ist die Geschichte einer unglaublichen Ära, zum ersten Mal nicht von einem Außenstehenden erzählt, sondern von einem ihrer Protagonisten.
Vor allem ist es aber die Geschichte jener Menschen, die mit ihren Reaktionen auf die sich rasch ändernden Entwicklungen – welche häufig außerhalb ihrer Kontrolle lagen – den Lauf der Dinge maßgeblich bestimmten. Es geht um Entscheidungen – gute wie schlechte, richtige wie falsche – und um jene Menschen, die mit den Folgen dieser Entscheidungen zu leben hatten. Es geht um Entscheidungen, die in offiziellen Treffen und hinter den Kulissen in Brüssel, Berlin, Frankfurt, Paris, London, New York, Washington und Athen getroffen wurden, und um Gespräche, die zwischen Politikern und Bankern in Luxemburgs Schlossgärten, Davoser Hotelküchen und bei Bilderberg-Konferenzen geführt wurden, in eleganten Büros sowie in trostlosen Sitzungszimmern im Souterrain.
Dies ist die Geschichte eines Landes, das, mit einer harten Realität konfrontiert, auf einmal gezwungen wurde, längst überfällige Veränderungen zu akzeptieren, die Spielregeln neu zu schreiben und alte, komfortable Wahrheiten in Frage zu stellen. Es geht um die Schwierigkeiten, die neue Ausgangslage zu verstehen, sich der Herausforderung zu stellen und die richtige Balance zwischen dem zu finden, was getan werden muss, und dem, was populistische Stimmungen und Wahlbarometer suggerieren. Es geht um Politiker, die vergeblich versuchten, die Märkte zu verstehen oder diese gar auszutricksen, und um Märkte, die sich zwar als kurzsichtig erwiesen, gleichzeitig aber die Defizite der politischen Systeme offenlegten.
Fast zehn Jahre sind vergangen, seitdem die schockierenden Enthüllungen über das ausufernde Haushaltsdefizit Griechenlands und die große Lüge, mit der dieses Defizit kaschiert wurde, die gewohnte Lebensweise eines ganzen Volkes auf den Kopf gestellt haben. Heute ist Griechenland ein gebrochenes Land. Dennoch hat es in diesen Jahren einen beeindruckenden, wenngleich ungeheuer schmerzhaften Weg zurückgelegt.
Inzwischen wurde auch in europäischen Hauptstädten die anfängliche Feuerwehrstrategie allmählich von einem entschiedeneren Versuch ersetzt, das zu reparieren, was kaputtgegangen ist, das heißt ein heikles Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was getan werden muss, und dem, was innerhalb der komplexen politischen Rahmenbedingungen der verschiedenen Länder getan werden kann.
Dieses Buch handelt von dieser außerordentlichen Zeit. Zugleich beschreibt es aber auch meine eigene Geschichte.
Politik ist nichts für Zartbesaitete. Politik ist, wie das Leben, böse, brutal und kurz – allerdings alles in einer sehr viel stärkeren Dosierung. Die meisten Menschen glauben, die Welt der Politik sei fast ausschließlich von selbstgerechten Zynikern bevölkert. Ich bin keiner von ihnen. Ich war nie ein Karrierepolitiker, der über die Parteileiter aufgestiegen ist. Ich war von Beginn an ein Außenseiter. Ich habe mich nach einer erfolgreichen Karriere um ein gewähltes Amt beworben und habe dafür einen gut bezahlten Job und ein angenehmes Leben in Paris hinter mir gelassen.
Im Oktober 2009 wurde ich zum griechischen Finanzminister ernannt, eine Position, die später oft als »schwerster Job in Europa« beschrieben wurde. Ich war derjenige, der seine Unterschrift unter den größten Kredit setzte, den ein Land je erhalten hat. Einen Kredit, der mit einem außerordentlich harten Sparprogramm verbunden war.
In der Folge gelang es mir, eine noch nie dagewesene Defizitreduktion zu erzielen und schwierige Reformen umzusetzen. Daraufhin konnte ich mit ansehen, wie meine Popularität in den Keller stürzte, weil Einkommenskürzungen und Steuererhöhungen ihren Tribut forderten. Und als es zuletzt offensichtlich wurde, dass ich für die Regierung zu einer Belastung geworden war, wurde ich in ein anderes Ministerium versetzt.
Heute bin ich nicht länger in der Politik aktiv. Ich bin eine Persona non grata in meinem eigenen Land, wo mich viele für die Krise verantwortlich machen – und für die persönlichen Schwierigkeiten, die sie erleben. In der Regel werde ich nicht als Minister angesehen, der zwar harte, aber notwendige Entscheidungen zu treffen hatte, um Schlimmeres zu verhindern, sondern als Architekt des verhassten »Memorandums«. Für viele Menschen bin ich bloß ein Landesverräter.
Die griechische Gesellschaft ist zutiefst über ihre Gegenwart und ihre Zukunft besorgt. Sie wurde von einem politischen Selbstbedienungssystem und dessen kollabierten Institutionen im Stich gelassen. Ihr Wertesystem ist massiv in Frage gestellt worden. Ein beachtlicher Teil der Gesellschaft ist derweil dabei, jegliche Tatsachen zu leugnen, und macht für das erlebte Elend jene verantwortlich, die die Party, an der sich so viele beteiligten, gestoppt haben. Diese Menschen sind sehr wütend und suchen nach einem »Prügelknaben«, einem passenden Sündenbock. Ich war es, den sie fanden, denn ich war derjenige, der die Lichter ausknipste, als die Musik aufhörte, und allen verkündete, dass die Party zu Ende sei. Niemand mag solche Typen.
Deshalb habe ich jahrelang unter einer besonderen Form von »Hausarrest« gelebt. Auf die Straße zu gehen wurde zu einem gefährlichen Unterfangen. Ging ich doch aus, wurde ich stets von Sicherheitspersonal begleitet. Man braucht eine dicke Haut in der Politik. Die habe ich aber nie entwickeln können. Was auch immer die unbestreitbaren Fehler waren, die mir unterliefen, als ich eine nie dagewesene, völlig unmögliche Situation zu bewältigen hatte – die persönlichen Kosten dafür sind viel höher ausgefallen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Es kam sogar soweit, dass ich vor Gericht geschleppt wurde und beinahe lebenslang hinter Gittern gelandet wäre.
Was die Situation noch schlimmer macht, ist, dass sich die Wut der Menschen nach wie vor nicht gegen jene richtet, die in erster Linie den Schaden angerichtet haben, sondern gegen diejenigen, die versucht haben, den Schaden zu begrenzen. Als Gesellschaft sprechen wir selten über die Brandstifter. Stattdessen gerät die Feuerwehr ins Kreuzfeuer. Hat sie ihren Job richtig gemacht? Hat sie womöglich einen zu großen Wasserschaden angerichtet, oder hat sie etwa zu wenig Wasser benutzt und damit den Brand noch angefacht?
Freunde fragen mich oft, ob sich dies alles gelohnt habe. Würdest du abermals in die Politik gehen? Würdest du etwas ganz anders machen? Ja, es hat sich gelohnt. Und ja, ich würde es wieder tun. Natürlich würde ich einiges anders machen. Aber die zentralen Entscheidungen, die wir trafen, waren richtig und unter den gegebenen Bedingungen die einzig möglichen.
Schließlich sollte es in der Politik darum gehen: Du kannst weder den Zeitpunkt des Geschehens bestimmen, noch die Rolle, die dir gegeben wird. Und du solltest während des Prozesses auch nicht versuchen, nur deine Haut zu retten. Du machst einfach den Job unter Einsatz deiner besten Fähigkeiten. Du musst auch einstecken können, dann aber kannst du zumindest mit deinem Gewissen im Reinen sein.
Beinahe zehn Jahre nach Ausbruch der Krise gibt es immer noch viele offene Fragen. Haben wir Möglichkeiten und Lösungen verpasst, die verfügbar waren? Hätte Griechenland mit Zahlungsausfall drohen sollen, um einen besseren Deal zu bekommen? Hätte es gleich am Anfang einen Schuldenschnitt geben sollen? Wäre Griechenland in einer besseren Lage, wenn es die Eurozone verlassen hätte? Hätte jemand anders all das besser gemacht?
Es sind legitime Fragen, die eine Antwort verdienen. Während dieser traumatischen Phase wurde alles und jedermann in Frage gestellt. Es liegt an uns, überzeugende Antworten anzubieten, wenn wir wollen, dass die Wut, die Desillusionierung und das Misstrauen einem Selbstverständnis weichen, das einen neuen Anfang ankündigt.
Eine frühe Fassung dieses Buches hatte den Untertitel »Wie Griechenland den Euro rettete«. Menschen, mit denen ich darüber diskutierte, waren schockiert über die Kühnheit dieser Prämisse. Gleichwohl scheint sie zunehmend zuzutreffen. Was als Problem in einem peripheren Land an der südlichen Ecke Europas begann, wird heutzutage als das anerkannt, was es wirklich war: ein Weckruf an das gesamte Europa, eine seiner größten Errungenschaften zu verteidigen und seine Konstruktionsfehler zu korrigieren. In gewisser Weise also das Fahrrad während der Fahrt zu reparieren.
Für mein Land war es eine einmalige Gelegenheit, vergangene Fehler zu korrigieren und einen Neuanfang zu wagen, diesmal mit besserer Bodenhaftung. Eine Gelegenheit, die bisher verpasst wurde. Europa mag ein Desaster vermieden haben, aber Griechenland ist nicht gerettet – zumindest noch nicht.
Ob diese Rettung in Zukunft gelingt, hängt in erster Linie von der...