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E-Book

Gang nach Canossa

Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer

AutorDennis Gastmann
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644112810
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wir schreiben das Jahr 2012: Die Wirtschaft ist am Ende, das Klima kaputt, bald soll auch noch die Welt untergehen, und in einem kleinen Apartment im Herzen Hamburgs schnürt ein blonder Reisereporter seinen Rucksack. Sein Ziel: die eigenen Sünden büßen und Mutter Erde ein wenig besser machen. Sein Problem: Dafür muss er über die Alpen. Zu Fuß. Fast eintausend Jahre nach Heinrich IV. tritt wieder ein Deutscher den legendären Weg nach Canossa an. Natürlich auch, weil es dort so tolle Tortellini geben soll. Dennis Gastmann führt uns auf seiner ungewöhnlichen Pilgerreise von einer Grenzerfahrung in die nächste: An einem geheimen Ort in Ostwestfalen lässt er sich von einem Orakel die Zukunft vorhersagen, in Frankfurt wagt er sich aufs Börsenparkett, und in der pfälzischen Provinz stattet er den Zeugen Jehovas einen Hausbesuch ab. Im Dom zu Speyer beichtet er zum ersten Mal in seinem Leben, im französischen Pontarlier trifft er die «grüne Fee», bevor ihn der Weg auf die schmutzigen Spuren Uwe Barschels im Genfer Luxushotel «Beau Rivage» führt - und nach tausend Kilometern über die schwindelerregenden Höhen des Mont Cenis. Ein mitreißendes Abenteuerbuch und ein großartiges Lesevergnügen.

Dennis Gastmann, geboren 1978 in Osnabrück, hat alle Kontinente bereist - als Schriftsteller, Filmemacher und «Guerilla-Korrespondent» der ARD-Auslandsmagazine. Er reiste «Mit 80.000 Fragen um die Welt» (2011), begegnete Heiligen und Hexern, Asketen und Oligarchen, und wanderte zu Fuß über die Alpen, um seine Sünden zu büßen («Gang nach Canossa», 2012). Seine Reportagen wurden mehrfach preisgekrönt und dreimal für den Grimme-Preis nominiert. Für den «Atlas der unentdeckten Länder» (2016) besuchte er die letzten unbekannten Orte der Erde, für «Der vorletzte Samurai» (2018) erkundete er Japan. Zuletzt erschien «Dalee», sein erster Roman. Dennis Gastmann lebt in Hamburg und arbeitet in der ganzen Welt.

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Leseprobe

Kapitel 3 Der alte Heinrich und das Meer


(Osnabrück)

Welche Wunder der Welt kann ein Mensch mit bloßem Auge vom All aus erkennen: die Chinesische Mauer, das Tadsch Mahal, die Pyramiden von Giseh? Alles Legende. Von da oben sieht man nicht einmal ihren Schatten, das ist verbrieft. Tatsächlich aber wird sich schon Neil Armstrong über ein gewaltiges Schiff gewundert haben, das den Westen Niedersachsens überragt. Auch ich kann es jetzt am Horizont erkennen und jage wie ein Kind darauf zu.

Mein Elternhaus. Manche nennen es den «Dampfer Europa», und noch heute liegen die Bauzeichnungen in einem Osnabrücker Museum. Mein Urgroßvater Heinrich ließ unser auffälliges Domizil in den goldenen Zwanzigern bauen. Er war eigentlich Landwirt, hatte aber mit seinem Cousin einen Fahrradgroßhandel in der Innenstadt gegründet und eine flotte Mark gemacht. Nun wünschte sich der Patriarch einen repräsentativen Palast. Natürlich musste es etwas Schillerndes sein – einen Heinrich Gastmann steckte man nicht in ein Reihenhaus von der Stange. Nein, mein Urgroßvater hatte eine Vision: Er wollte wie ein Kapitän auf einem schneeweißen Ozeangiganten leben, in einem Kreuzfahrtschiff auf dem Trockenen. Vielleicht lag es daran, dass er wasserscheu war. Angeblich traute er sich nur bis zu den Knien ins Meer.

Der Architekt, ein berühmter Mann, gab sich alle Mühe. Er setzte drei rechteckige Stockwerke übereinander und verzierte sie mit Treppen, die an Gangways erinnern. Die östliche Seite des Hauses ließ er steil abfallen wie ein Heck, aus der westlichen formte er einen halbrunden Bug mit Sonnendeck auf der obersten Etage. Und unter das spitze Dach aus roten Ziegeln setzte er Heinrichs Kommandobrücke: einen niedrigen Raum mit zwei engen Luken. Auch sonst hätten die Decken ruhig etwas höher und die Fenster größer und zahlreicher sein können, aber ein Boot sei nun mal ein Boot, meinte Heinrich und beendete die Diskussion mit den schönen Worten: «Unter mir kann jeder nach meiner Façon glücklich werden.»

Legenden ranken sich um dieses eigenartige Gebäude, das mich immer ein wenig an die Arche Noah erinnert. Es heißt, die Fliegerbomben des Zweiten Weltkriegs seien an seinen Mauern abgeprallt wie Papierkugeln. Allerdings erlitt das Haus innere Verletzungen: Die Wand zwischen Kochstube und Esszimmer im Parterre fiel einfach um, und so entstand die erste offene Wohnküche der Welt. Auch unsere Nachbarin blieb leider nicht unversehrt: «Die guckte aus dem Fenster, und rums, da rollte ihr Kopf in den Garten», plauderte meine Oma mal beim Kaffeekränzchen. «Anneliese!», riefen wir geschockt, aber die verzog keine Miene: «Kinder, so war das im Krieg.»

Auch über Heinrich gibt es tausend Geschichten zu erzählen, die meisten sind schaurig-schön. Man könnte erschreckende Parallelen zwischen ihm und König Heinrich IV. ziehen. Anneliese hat mir zwar ausdrücklich verboten, meinen Urgroßvater in diesem Buch einen Tyrannen zu nennen, aber ein Despot, meinte sie, ja, ein Despot sei er schon gewesen. Bis heute fürchten wir, dass seine Gene in unserer Familie weitergegeben werden. Wenn bei uns jemand so richtig explodiert, gerne an Heiligabend, dann heißt es immer: Siehst du, jetzt klingst du genau wie der alte Heinrich! Er soll skrupellos, berechnend und grausam gewesen sein, und trotzdem hat mich dieser Mann immer irgendwie fasziniert.

Als der Kapitän starb und sein Traumschiff allmählich graue Schlieren bekam, übernahm meine Mutter das Ruder. Sie verlieh dem alten Kahn etwas, das ihm fehlte: Liebe. Aus Luken machte sie Panoramafenster, aus der Kommandobrücke ein buntes Kinderzimmer, und zuletzt gab sie dem Dampfer Europa eine frische Farbe: Knallorange. Nun weht eine Piratenflagge über dem Dach. Das ist ihr Humor.

 

«Der alte Heinrich hätte wirklich auf allen vieren nach Canossa kriechen sollen. Aber was willst du da unten?», fragt meine Mutter, als wir im Kerzenschein auf Urgroßvaters einstigem Sonnendeck ein Wiedersehensbier trinken. Heute ist die Terrasse ein überdachter Wintergarten mit asiatischen Möbeln, Orchideen und Buddhafiguren. Um ihn zu erreichen, muss man durch unsere Ahnengalerie schreiten, einen Flur mit weinroten Wänden und skurrilen Ölgemälden. Auf den Bildern sind preußisch uniformierte Terrier und Cockerspaniels in Napoleonpose zu sehen. Auch das ist der Humor meiner Mutter. Von irgendwem muss ich meinen Spleen ja geerbt haben.

«Ich weiß es auch nicht genau», antworte ich. «Vielleicht will ich für meine Sünden büßen?»

«Ach, ich wünschte, du hättest mal eine Sünde begangen, Dennis! Wie oft habe ich dir gesagt: Bleib zu lange weg, betrink dich, rauch ein bisschen was. Aber du warst ja immer so brav.»

Da muss ich ihr leider recht geben. Na ja, fast. Tatsächlich habe ich dreimal gekifft, und im Suff heiratete ich mal einen Cola-Automaten. So weit zu meinen Exzessen. Doch wogegen soll man auch rebellieren, wenn die eigene Mutter den konservativen Geist der Familie jahrzehntelang mit Händen, Füßen und Mao-Bibeln bekämpft hat? Da kann man ja nur spießig werden.

So verschieden wir manchmal im Herzen sind, so sehr ähneln wir uns äußerlich. Dieselbe Kindlichkeit, dasselbe verschmitzte Lächeln, dieselben blonden Plüschhaare. Ihre blauen Augen sind riesig, so groß wie Kirchenfenster. Und mein Vater? Er verließ die Familie kurz nach meiner Geburt, das machte aus meiner Mutter und mir ein eingeschworenes Team. Wir zwei gegen die Welt. Für mich hängte sie ihre Karriere als Grafikdesignerin an den Nagel und stieg in die Fahrradfirma ein. Das war solide.

Einmal fuhren wir zu zweit mit dem Bus an die Costa Brava. Es war eine «Fortuna-Reise», ein Glücksspiel. Außer der Reiseleitung wusste niemand, an welchem Ort und in welchem Ferienhotel er am Ende des Tages landen würde. Das war das Prinzip. Meine Mutter aber half Fortuna etwas auf die Sprünge. Der Bus hielt an einem besonders edlen Etablissement, das uns beiden gut gefiel, und noch bevor die Reiseleitung einen Namen aufrufen konnte, eilte sie auch schon mit ihren Hotelgutscheinen zur Rezeption und checkte mit mir ein. Stumpf ist Trumpf, sagt sie immer. Ich hatte eine wunderbare Kindheit.

Ich bin zwar ein klassisches Einzelkind, habe aber neun Halb- und Stiefgeschwister. Patchwork de luxe. Mein leiblicher Vater produzierte außer mir noch weitere vier Kinder mit anderen Frauen, und auch mein Stiefvater war äußerst fruchtbar. Als er meine Mutter vor zwanzig Jahren heiratete, brachte er vier Söhne mit in die Familie. Aus gemeinsamer Herstellung entstand dann Max, mein heiß-geliebter kleiner Bruder. Er musste mich heute Nachmittag auf dem Parkplatz des Markant-Markts in Engter abholen, weil ich mich vor lauter Euphorie acht Kilometer vor Osnabrück völlig verausgabt hatte.

«Wo hast du Hirsch eigentlich gestern übernachtet?», fragt meine Mutter. «Das war doch rausgeschmissenes Geld!» Auch das stimmt. Die vergangene Nacht war grauenvoll. Ich schlief in einem düsteren, verrauchten, lebensfeindlichen Gasthof im Güllegürtel zwischen Vechta und Damme – nur dreißig Kilometer von unserer Haustür entfernt. Die Wirtin hielt mich für einen Landstreicher, ließ mich sofort bezahlen und gab mir zum Dank ihr lumpigstes Zimmer. Das Bier war schal, die Küche kalt, mein Nachbar atmete schwer. Als ich endlich schlafen konnte, rumpelten zwei betrunkene Monteure aus Dessau, die ich an der Bar kennenlernen durfte, über den Flur. Ich bin schon eintausend Mal von Hamburg nach Osnabrück gereist, aber noch nie habe ich mich so sehr auf mein Kinderzimmer gefreut. Der ICE schafft die Strecke in knapp zwei Stunden – mich hat der Trip neun Tage gekostet. Buxtehude, Zeven, Grasberg, Delmenhorst, ein Wochenende in Wildeshausen, Vechta, Damme, Osnabrück.

«Dennis, du taugst auch nicht inne Pferdewurst!», ruft Hanne, die zweite Dame im Wintergarten. Nein, sie ist nicht nur eine Dame, sie ist ein Ereignis. Heute Abend sieht Hanne so aus, als sei sie direkt aus dem Raumschiff Orion gestiegen. Sie trägt einen zebragestreiften Blazer, ihre Bäckchen sind rosa geschminkt, und auf ihrem Kopf ist – von Haarspray zusammengehalten – ein nussbraunes Ufo gelandet. Ich mag Hanne sehr, denn sie hat das lustigste, ansteckendste und vor allem lauteste Lachen der westlichen Hemisphäre. Es beginnt mit einem spitzen «Huuuuuch!», und wenn es dann aus ihr herausbricht, hörst du den Hund nicht mehr bellen, kein Handyklingeln mehr, keine Kirchenglocken, kein Babygeschrei, nicht mal die Tiefflieger der Luftwaffe direkt über deinem Kopf. Was bleibt, ist purer Frohsinn. So misanthropisch du auch sein magst, Hannes «Huuuuuch!» zerrt deine Mundwinkel nach oben.

Früher haben Hanne und meine Mutter Schulter an Schulter in Uropas Fahrradgroßhandel gedient. Jetzt kommen die alten Kriegsgeschichten wieder auf den Tisch. Die beiden spielen Erinnerungs-Pingpong.

«Weißt du noch, der alte Heinrich hatte doch so einen Brieföffner. Damit machte er sich die Ohren, damit bohrte er sich in der Nase rum, und damit spießte er seinen gekochten Schinken auf.»

«Ja, richtig! Schinken musste immer im Haus sein.»

«Dieser Brieföffner war in jeder Ritze seines Körpers.»

«Deswegen hatte der auch immer Nasenbluten.»

«Und wenn er einen guten Tag hatte, nahm er den Brieföffner und fragte: Na, auch ein Stück gekochten Schinken?»

«Aber der Schinken war hervorragend.»

«Ja, ein Gedicht war der.»

«Huuuuuch!», schallt es durch den Raum, und ich bin einen kurzen Moment benommen.

Für mich war die «Heinrich Gastmann KG» immer ein magischer Ort. Meine Mutter nahm mich manchmal mit in den bröckelnden Rotklinkerbau, der mit dichtem Efeu...

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