1. Eine, zweie, dreie
Etwas schrammt über den Küchentisch, und der Vater sagt eine, zweie, dreie. Auch auf Zehenspitzen stehend, gelingt dem Dreijährigen kein Blick über die Tischkante. Dabei wüsste er zu gern, was der Vater da treibt. An seinem Hemdsärmel zupfen möchte er jetzt lieber nicht, denn sonst setzt es wieder laute, böse Worte. Aber wenn er behutsam auf den zweiten Stuhl kletterte, sich auf den Sitz kniete und dabei keinen Mucks von sich gäbe? Viere, fünfe, sechse: Der Vater ist so vertieft in sein undurchsichtiges Spiel, dass er die Kletterpartie seines neugierigen Sprösslings gar nicht bemerkt. Der sieht jetzt kleine flache Scheiben über die Tischplatte rutschen. Manche glänzen wunderbar rötlich wie der neue Kessel, in dem die Mutter das Zwetschgenmus rührt. Andere sind abgegriffen und von ähnlich stumpfer Farbe wie das uralte Stroh im Schuppen hinterm Haus. Siebene, achte, neune: Gebhard Dietrich Gauß häuft die Scheiben zu Türmchen auf, niedrige strohfarbene und höhere kesselfarbene, nur um sie gleich wieder zum Einsturz zu bringen und mit der hohlen Hand über die Tischkante in Papiertüten zu schieben, auf die er ein paar schwungvolle Striche mit Haken, Bäuchen und Schleifen malt. Was für ein seltsames Spiel.*
Gedämpfte Stimmen vor der Tür. Ein Geselle und zwei Handlanger betreten die Küche. Ihre Schürzen und Hosen sind von rotbraunen Lehmspritzern übersät. Sie riechen muffig nach der ewigen Feuchtigkeit des Lehms und ihrem sauren Schweiß. Der Vater ruft die Namen auf und überreicht jedem eine Tüte. Am späten Samstagnachmittag sind die Handwerker stets guter Dinge. Sie scherzen verhalten untereinander und bedanken sich artig bei Vater Gauß, während einer von ihnen die klingenden Scheiben durch seine Finger gleiten lässt: zehne, ölwe, zwölwe. Auch die Mutter sagt «zwölwe» und zeigt dabei auf den Suppentopf auf dem Herd. Oder sie lauscht dem Glockenschlag der nahen Katharinenkirche und sagt dann eines dieser seltsamen Worte, die auch der Vater vor sich hin murmelt, wenn er samstags die blanken Scheiben über den Küchentisch sausen lässt. Der kluge Junge erkennt den Zusammenhang und ahnt die Bedeutung. Er spricht die Silben täglich aufs Neue vor sich hin, prägt sich ihre Reihenfolge ein und wird sie nie wieder loslassen.
Für seine täglichen Abzählübungen erobert sich Carl Hinterhof, Stallungen und Garten. Noch bevor ihm die Namen geläufig sind, hat er sie längst alle auf Reihe gebracht. Kartoffelbüsche: 12 + 12 + 12 + 12 + 12 + 12 + 7. Runkelrüben: 12 + 12 + 12 + 3. Astern: 12 + 8. Rotkohlköpfe: 12 + 4. Auch wenn er in der Küche bei der Mutter sitzt, hat er jedes Beet deutlich vor Augen: So, wie es wirklich angelegt ist, und obendrein in seine selbsterfundenen, erd- und unkrautfreien Zwölferreihen übertragen. Da gibt es nur Punkte, perfekte Kreise und gerade Linien. Weder Kartoffelkäfer noch umherschwirrende Kohlweißlinge können ihn hier ablenken. Und deshalb gerät das Zählen in dieser von Schmutz, Lärm und Gestank befreiten Welt auch so wunderbar geschwind. Obwohl die Glocke der Katharinenkirche nach jeder Zwölf wieder mit der Eins beginnt, ahnt er bereits, dass diese Zahl nicht das Ende sein kann. Einmal hört Carl den Vater «achtzehn» sagen. Stiefbruder Georg soll ein Fuder Haselnussgerten mit dem Beil auf 18 Zoll kürzen, damit sie bequem in Fachwerkwände geflochten und mit Lehm bestrichen werden können. Acht und zehn sind zwölf und sechs. Zwölwe-eine, zwölwe-zweie, zwölwe-dreie, zwölwe-viere, zwölwe-fünfe, achtzehn. Eine, zweie, dreie …
Die Zahl der Richtscheite und Schalbretter im Werkzeugschuppen neben dem Schweinestall hat sich den ganzen Winter über nicht geändert. Hier, in diesem lichtlosen Bretterverschlag, riecht es dumpf nach feuchter Erde, so wie Vater, Geselle und Tagelöhner im Sommer auch immer riechen. Die Rückstände des ranzigen Käsewassers in den Eimern aus Fichtenholz verdrängen für ein paar Augenblicke den penetrant modrigen Gestank, der aus dem Schweinestall wabert und wie ein nicht abzuschüttelndes Gespenst ständig über Hof und Garten schwebt. Am nächsten Morgen erkennt der Knirps mit einem flüchtigen Blick, dass der Vater vom ersten Stapel 18 + 2 Gerten weggenommen haben muss. Stumm steht er vor den vielen roten Kugeln im Geäst der niedrigen Schattenmorelle und vor den Johannisbeersträuchern. Hin und wieder nickt er leicht mit dem Kopf: 18 + 18 + 18 + 18 …
In dem einzigartigen Netzwerk, das sich gerade in rasanter Geschwindigkeit täglich und stündlich unter seiner Schädeldecke neu knüpft, werden die Zahlen nicht einfach nur als nützliche Symbole der Ordnung geduldet, sondern als wahre Freunde fürs Leben willkommen geheißen. Hier eröffnen sich ihnen großzügig bemessene Spielräume, in denen sie unter kluger Aufsicht ihre Beziehungen zueinander frei entfalten und ungeahnte neue Dimensionen ihrer Existenz erkunden werden.
Wann Carl Friedrichs Urgroßvater Hinrich Gooß geboren wurde und wann er starb, ist nirgendwo verzeichnet. Auch seine Herkunft liegt im Dunkeln. 1683 heiratet er in Völkenrode, einem Dorf im Braunschweiger Land, die Witwe Anna Groven [Hän: 5].
Sie ist dort Besitzerin eines Kothofes – ein Bauernhaus ohne Gehöft und bewirtschaftbare Äcker, aber mit einem Garten und einer Koppel. Um zu überleben, ist das Paar vermutlich zu sogenannten Fuß- und Handdiensten gezwungen: Die Eheleute müssen sich also bei einem Bauern oder Gutsherrn als Tagelöhner verdingen. Natürlich werden auch die vier Kinder früh eingespannt. Sie jäten im Sommer das Unkraut auf den Äckern des Gutsherrn, schneiden auf Wiesen und an Feldrainen Grünfutter, hüten die Gänse, gehen im Haushalt und im Garten zur Hand. Um die allgemeine Schulpflicht auf dem Land wird noch gerungen. Die Eltern sind wenig begeistert von den Forderungen der Schulmeister und halten die Kinder, vor allem zur Erntezeit, energisch zum Schwänzen der Schule und zur Feldarbeit an. Und irgendetwas wird immer geerntet zwischen Mai und Oktober. Die in der Schule versäumte Arbeit muss nachmittags nachgeholt werden. Abends wird Flachs gesponnen und gestrickt. Zwölf Jahre nach der Hochzeit ist Anna tot, und Hinrich Gooß heiratet Ilse Geermanns, mit der er in neunjähriger Ehe einen Sohn und drei Töchter zeugt. Katharina Lüetken heißt seine dritte Frau. Sie gebiert in zwölf Jahren drei Söhne und eine Tochter. Die Todesursache von Anna und Ilse ist unbekannt. Doch Entkräftung, Kindbettfieber oder «Auszehrung» – eine bei frühgestorbenen Landfrauen auffallend häufig gebrauchte Formulierung – war damals an der Tagesordnung.
Unter den insgesamt zwölf Geschwistern haben die Söhne aus dritter Ehe nach Hinrichs Tod keinerlei Chance, Erbansprüche auf den Hof in Völkenrode zu stellen. Sie müssen, wie es so roh und herzlos heißt, in die Fremde ziehen. Den jüngsten Sohn Jürgen treibt es mit seiner Frau Katharina Magdalene dann aber doch nicht allzu weit in die Welt hinaus. Nach einer guten Stunde Fußweg melden sie sich am 21. Januar 1739 als Neubürger im Braunschweiger Rathaus an. Ob für ihn überhaupt ein geringer Erbteil herausgesprungen ist oder ob er völlig mittellos in der Hauptstadt des Herzogtums ankommt, bleibt ungewiss. Dem Protokollanten im Rathaus teilt er mit, sich als Tagelöhner Arbeit in der Stadt suchen zu wollen. Ihm wird zur Auflage gemacht, zum nächsten Gerichtstag wieder zu erscheinen und «einen Thaler sowie einen Thaler zum Feuereimer nebst zwanzig Mariengulden Bürgergelder vor sich und seiner Frau sofort baar» [Hän: 7] zu zahlen. Laut Protokoll leistet er bereits zwei Tage später seine Abgaben und ist seitdem fest in Braunschweig ansässig.
Jürgen Gooß schlägt sich als Saisonarbeiter durch, nennt sich Lehmentierer und Gassenschlächter. Lehmentierer arbeiten von Mai bis November als Tagelöhner auf Baustellen. Wenn im Herbst Nässe und Kälte das schnelle Abtrocknen der feuchten Lehmwände verhindern und ein sinnvolles Arbeiten unmöglich wird, beginnt die Saison der Hausschlachter. Nur in der kalten Jahreszeit können die geschlachteten Schweine einen Tag zum Auskühlen an der Hauswand zum Hinterhof hängen. Der Appetit auf Hausmacherwürste ist beispiellos in dieser Stadt, die berühmt ist für ihre Wurstspezialitäten. So scheint auch Carl Friedrichs Großvater sein Auskommen zu finden, wenn er im Winter mit seinen scharfen Messern und flinken Händen zum großzügig entlohnten Hauptdarsteller auf privaten Schlachtfesten wird.
Er scheint auch den gewissen Unternehmergeist zu haben, den es braucht, um im Rahmen seiner bescheidenen Verdienstmöglichkeiten erfolgreich zu sein, denn noch im Oktober desselben Jahres 1739 hält ihn Peter Hoyer, ein entfernter Verwandter, für kreditwürdig genug, ihm sein Haus am Ritterbrunnen zu verkaufen. Es ist ein Häuschen von nur zwei Fensterbreiten, das im Volksmund «Honigkuchenstreife» genannt wird. Den Kaufvertrag unterschreibt er erstmals mit Gauß. Was ihn zu dieser eigenmächtigen Lautverschiebung seines Namens veranlasste und ob er dafür bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumen musste, lässt sich nicht mehr ermitteln. Womöglich wollte er mit dem neuen Namen die Spuren seiner bäuerlichen Herkunft verwischen – Gooß bedeutet im niedersächsischen Platt Gans – oder sich von der klanglichen Nähe zu Gosse und Gosche distanzieren. Jedenfalls blickt Emporkömmling Jürgen Gauß jetzt vom Ritterbrunnen aus direkt auf die Parkanlagen des sogenannten Grauen Hofes, wo das Schloss für die Verlegung der herzoglichen Residenz von Wolfenbüttel nach Braunschweig hergerichtet...