C’est sympa!
Dirk hatte für eine Woche den alten Opel seiner Eltern, und weil ich jede Gelegenheit nutzte, nach Brest zu kommen, überredete ich ihn, zusammen mit mir dorthin zu fahren. Wir trafen uns um Mitternacht an der Schönhauser Allee. Ich hatte ausgerechnet, dass wir für die 1800 Kilometer achtzehn Stunden brauchen würden. Bis Köln sollte ich schlafen und dann das Steuer übernehmen. Aber ich konnte nicht schlafen, weil Dirk, um sich wach zu halten, etwas hörte, was er »Acid-Trance« nannte. Ich lag auf dem Rücksitz und spielte im Kopf durch, wie ich mich bei einem Unfall schnell aus dem Auto retten könnte. Weil ich nicht schlafen konnte, rauchte ich.
Wir freuten uns auf den Zwischenstopp in Köln, wo wir Arne abholen und bei ihm frühstücken wollten. Um sechs Uhr morgens kamen wir an. Wir brauchten lange, bis wir ihn wach geklingelt hatten. Leider hatte er vergessen einzukaufen, und wir konnten nicht frühstücken. Kaffee war auch keiner mehr im Haus.
Ich übernahm trotzdem das Steuer und sah in der Ferne mit Bedauern den Kölner Dom, den ich noch nicht kannte. Um wach zu bleiben, rauchte ich. Die anderen rauchten auch. Wir hörten immer noch »Acid-Trance«. In Belgien gerieten wir in einen Schneesturm, weswegen wir von Belgien nicht viel sahen. Immerhin verstand ich jetzt, was Jacques Brel mit Il neige sur Liège hatte sagen wollen. Dirk meinte, das sei sein Lieblingswetter, da sich bei schlechten Bedingungen die Spreu vom Weizen unter den Autofahrern trennen würde. Ich vermutete, dass er sich zum Weizen rechnete. Um Geld zu sparen, mieden wir in Frankreich die Autobahn. Außerdem durfte ich nur 100 fahren, weil Dirk Angst um sein Auto hatte. Wir wählten immer den direkten Weg, aber wenn man sich unsere Route auf einer Karte größeren Maßstabs ansah, dann beschrieb sie Schlängellinien. Alle paar Kilometer kamen Hinweisschilder: »HIER VERLIEF DIE FRONT AM 16.7.1916« und »HIER VERLIEF DIE FRONT AM 17.7.1916«. Ich freute mich darauf, in Brest meine Freunde wiederzutreffen. Allerdings hatte ich Arne und Dirk noch nicht verraten, dass ich bisher niemanden erreicht hatte und nur hoffen konnte, dass sie uns bei sich übernachten lassen würden.
Der Weg wurde immer länger, wir waren jetzt schon weiter als die deutsche Front im Ersten Weltkrieg, und das, obwohl wir nur einen alten Opel hatten. Um wach zu bleiben, rauchten wir. In der Ferne sah ich mit Bedauern die Kathedralen von Amiens und Reims, die ich noch nicht kannte. Dirk hatte endlich seine zweite Kassette eingelegt, Tocotronic. Ich hatte von dieser Band, die er als beste Band der Welt bezeichnete, noch nie gehört, aber schon ihr erstes Lied überzeugte mich: »Wir haben gehalten / in der langweiligsten Landschaft der Welt / wir haben uns unterhalten und festgestellt, dass es uns hier gefällt.« Ich nickte zustimmend mit dem Kopf.
Wir fuhren den ganzen Tag, und als es schon wieder dunkel wurde, tauchte rechts der Straße in der Ferne ein beleuchteter Hügel auf, das musste der Mont Saint-Michel sein. Ich sah es mit Bedauern, weil ich ihn noch nicht kannte.
Aber es kam nicht infrage anzuhalten, wir wollten so weit kommen, wie die Straße führte, bis ins Finistère, ans Ende der Welt. Allerdings waren wir so müde, dass wir die letzten Kilometer alle drei schliefen. Tocotronic fuhren für uns und rauchten.
Nach dreiundzwanzig Stunden Fahrt hatten wir Brest erreicht. Nach einer so langen Fahrt durch kahle Landschaften umgaben uns plötzlich schmale Gassen mit grauen, schmucklosen Betonhäusern. Es nieselte auf den Asphalt. Ich konnte nicht glauben, dass ich wieder hier war. Beim Aussteigen nahm ich einen tiefen Atemzug: diese salzige Luft, der Geruch von Teer und Holzfeuer. So hatten die Kleider meiner Freunde immer gerochen, wenn sie mich in Berlin besuchen kamen.
Leider öffnete bei meinen Freunden niemand. Allerdings schloss man hier seine Türen nicht ab. Weil ich von innen Geräusche hörte, betrat ich die Wohnung.
Die Stereoanlage war voll aufgedreht, infernalische, japanische Trommelmusik. Auf dem Sofa schlief Yann. Vielleicht hörte er diese Musik, um wach zu bleiben.
Ich ließ ihn schlafen, und wir gingen ins »Comix«, eine Kneipe, die früher an Sonnabenden so voll war, dass man nur stehen konnte. Alle kamen hierher. Jetzt war niemand da. Ein paar Straßen weiter, im »Zèbre«, sah es schon anders aus: Man konnte nur stehen. Die Jugend war gemeinschaftlich eine Ecke weiter gezogen. Ein gutes Zeichen, die Dinge waren im Fluss, auch am Ende der Welt. Leider konnte ich niemanden von meinen Bekannten entdecken, wir mussten also im Auto schlafen. Am Morgen war die Scheibe beschlagen von unseren Ausdünstungen. Aber sie durfte nicht abgewischt werden, sonst würden sich Schlieren bilden, erklärte Dirk, der sich mit Autos auskannte. Wir warteten eine halbe Stunde, bis die Ventilation die Scheiben getrocknet hatte und fuhren zu Anne. Sie liebte Brecht und Marlene Dietrich, und als Deutsche waren wir für sie so etwas Ähnliches wie Brecht und Marlene Dietrich. Zum Glück war sie zu Hause und bot uns sofort an, bei ihr zu wohnen. Arne sagte: »C’est sympa!«, das war der einzige französische Satz, den er bis jetzt aufgeschnappt hatte, aber er passte fast immer.
Wir aßen Croissants und Apfeltaschen, der Boden war schnell mit Krümeln bedeckt. Dann zogen wir los, um Gauloise caporal zu kaufen, jeder eine cartouche. Nach Deutschland wurden diese Zigaretten nicht exportiert, man bekam nur eine dünnere, elegante Version, das Original war aber dick und kurz, wie die Finger der Menschen hier. Wir hüllten uns in den Geruch dieses schwarzen Tabaks und fuhren ans Meer. Ich hatte bei meinem ersten Aufenthalt nur ein altes Kinderfahrrad mit ausgeleierten Pedalen zur Verfügung gehabt und war deshalb kaum aus der Stadt rausgekommen. Jetzt würde ich endlich etwas von der Bretagne sehen. Zum Beispiel den berühmten zehn Meter hohen Menhir de Kerloas, der irgendwo in der Nähe stehen musste.
Am Meer bewunderten wir die Wellen und dachten über den Anfang von Heiner Müllers Hamletmaschine nach: »Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung blabla –«. Schwer, dem etwas hinzuzufügen. Auf dem Rückweg verfuhren wir uns auf der Suche nach dem Menhir. Wir holperten über schlammige Feldwege und verfluchten die Karte. Vielleicht hielten sie ihre Heiligtümer vor uns versteckt? An einem Bauernhof kurbelte ich die Scheibe herunter und sprach eine Frau unbestimmbaren Alters an, wo hier »le menhir« sei. Statt zu antworten, entblößte sie grinsend ihr zerklüftetes Gebiss. Vielleicht hatte sie mich falsch verstanden. Jedenfalls bestand kein Zweifel: Das hier war la Bretagne profonde. Als wir uns gründlich genug verfahren hatten, stießen wir durch Zufall doch noch auf den Menhir. Wir rüttelten daran und es donnerte kurz, sonst passierte nichts.
Der Stein war tatsächlich zehn Meter hoch, ursprünglich sogar zwölf, aber ein Blitz hatte die Spitze abgeschlagen. Er war 5000 Jahre alt und dreißig Kilometer weit zu sehen. Auf einer kleinen Tafel stand:
»FRISCH VERMÄHLTE RIEBEN IHREN UNTERLEIB AN DEN BUCKELN DES MENHIRS. DER MANN, UM MÄNNLICHEN NACHWUCHS ZU BEKOMMEN, DIE FRAU, UM IHRE HERRSCHAFT IM HAUS ZU SICHERN.«
Der Legende nach lag unter dem Menhir ein Schatz vergraben. Wenn die Menhire am Heiligabend um Mitternacht mit dem ersten Schlag der Glocke ans Meer gingen, um einmal im Jahr zu trinken, konnte man den Schatz leuchten sehen. Mit dem zwölften Schlag der Glocke kamen sie aber schon wieder zurück. Viele Schatzsucher sollen davon überrascht worden sein und unter dem Stein begraben liegen.
Am nächsten Tag wollten wir eine größere Tour machen und fuhren tanken. Die erste Tankstelle war geschlossen. An der zweiten gab es kein Benzin mehr. Wir probierten es weiter, aber wir hatten kein Glück. Ich telefonierte alle Tankstellen der Umgebung an, nein, kein Benzin, die Fernfahrer streikten doch, ob wir das nicht wüssten? Nein, das war uns entgangen, wir saßen fest. Wir hatten zwar ein Auto, aber kein Benzin. Jeden Tag hofften wir, dass die Fernfahrer zur Vernunft kommen und ihre kindische Blockade aufheben würden, aber sie hatten kein Einsehen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als unsere Tage damit zu verbringen, beim trotzkistischen Antiquar feuchte Bücher zu kaufen, mit meinen Freunden in der überfüllten Kneipe zu stehen und Annes Zimmer nach und nach mit Croissants vollzukrümeln.
Warum waren wir auch ausgerechnet im November ans Ende der Welt gefahren? Jetzt würden wir vielleicht für immer hier festsitzen. Denn selbst wenn der Streik einmal beendet wäre, wer sagte uns, dass sie es hier mitbekommen würden? Und wenn sie es mitbekämen, wer sagte uns, dass sie es uns sagen würden? Vielleicht wollten sie uns ja dabehalten, weil sie sich so über unseren Besuch freuten.
Mir war es recht, ich ging ja immer noch davon aus, dass der Rest der Bretagne genauso trist wie Brest aussah. Außerdem hatte ich so die Möglichkeit, in Gesprächen über den Streik mein Französisch aufzufrischen. Nur Arne bedauerte, dass er wegen der allgemeinen Stimmung nichts mehr mit seinem einzigen französischen Satz anfangen konnte. Er sagte trotzdem bei jeder Gelegenheit »C’est sympa«, es war ironisch gemeint.
*
Diesmal drohte wieder ein Streik, allerdings betraf er die Lehrer. Aber wer wusste schon, ob sich in Frankreich nicht die Fernfahrer mit den Lehrern solidarisierten? Ich nahm mir vor, die Streiknachrichten aufmerksamer als den Wetterbericht zu verfolgen. Für die nächsten Tage war noch nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Die Einfahrt in den Hafen von Brest ist für...