Der letzte Etrusker in der Tourismusfalle
LARTH THUMES CLAN: Larth, Sohn des Thume – so hat sich mir eines Tages ein Mann mit schwarzem Bart vorgestellt, der rotgesotten, von Nebelschwaden umhüllt, aus den heißen Quellen von Petriolo neben mir auftauchte. Larth, der letzte Etrusker, hatte er sich benannt: nach einer etruskischen Grabinschrift. Es war ein für dieses Land und seine Leute typisches Erlebnis: Die uralte Vergangenheit wird in der Gegenwart lebendig gehalten.
Man hört, wenn man die Toskaner nach ihren Vorfahren fragt, eine gewisse Herablassung. Sie werden Ihnen zwar Auskunft geben, doch mit Blicken, die besagen, Sie seien nicht würdig, dergleichen zu erfahren.
Denn die Toskaner nehmen für sich in Anspruch, das Ursprungsland der Etrusker zu sein, und benennen ihre Restaurants oder Pizzerien, selbst ihre Diskotheken nach diesem geheimnisvollen Volk. Etruria, Etrusker, Tuscia, Toscana: Schon der Name Toskana weist auf dieses über die See eingewanderte, kleinasiatische Volk der Antike hin, das von der Küste her, über Tarquinia und Populonia, Etrurien besiedelte, die Landschaft im alten Italien zwischen Tyrrhenischem Meer, Tiber, Arno und Apennin. Ein rätselhaftes Eroberervolk mit einer bis heute noch nicht entschlüsselten Sprache.
Die Etrusker müssen mit göttlichen Geistesgaben gesegnet gewesen sein, die sich nicht nur in herrlich geformten Skarabäen, goldenen Ketten, Ohrgehängen, geschwungenen Agraffen, Bronzespiegeln und Vasen niederschlugen, sondern auch in ziselierten Waffen, Werkzeugen, Schiffen, Grabdenkmälern, Pferdewagen, Aquädukten, Theaterarenen und Kaufstraßen. Sie lebten in mit eleganten Mosaiken, Säulen, Schwimmbädern und Bodenheizung ausgestatteten palazzi. Wohlhabende Fürsten der Toskana, mit Grundstücken, die Sicht aufs Meer gewährten, alten Ölbäumen, Weingärten, Gattinnen, Geliebten, Prostituierten, Köchen, Putzfrauen und Pagen. Minen-, Marmorbruch- und Hochöfenbesitzer, die zahllose Arbeiter beschäftigten, Schiffsunternehmer, Händler, Goldschmiede, Bildhauer, Architekten, Dichter und Schauspieler, Regisseure und Sänger.
Bilder, die aufleuchten und verlöschen, Wagenspuren, eingekerbt in die riesigen Steinquader der Straßen, die einst Sklaven hinaufgeschleppt und behauen hatten. Die Etrusker waren die Urväter der Toskaner, denen sie ihren starken Willen und Freiheitsbegriff weitergaben. Vorfahren, deren Liktorentracht und Gewänder, deren Mandelaugen und ausgeprägte Nasen wir heute auf Bildern Giottos oder Masaccios begegnen. Die Urgeschichte der Toskana? Da ist noch lange nicht alles herausgefunden. Einstweilen sind wir gezwungen, ein wenig zu fabulieren.
Übrigens: Sie finden überall, nahezu an jedem Ort, zwischen blühenden Hecken von Weißdorn und Wicken, die gleichen Überreste etruskischer Straßen, die gleichen Fundamente ihrer Häuser und Läden – Sie müssen nicht alle besuchen.
Auf den Niedergang der stolzen, wenig kriegerischen Etrusker in ihrem Stadtstaat Etruria und den Untergang des weströmischen Reiches folgten vier Jahrhunderte fremder Herrschaft durch Ostgoten, Griechen und Langobarden. Ungebrochen und heiter tauchten die Toskaner aus all dem auf und fuhren fort, ihr einfaches Leben zu leben.
In der Zeit der freien Kommunen und schließlich der Toskana Dantes und der Humanisten erwachte die Toskana mit Florenz als ihrem Mittelpunkt unter den Medici zu neuem Glanz. Mit den protzigen Geldleuten jedoch mochten die Toskaner sich nicht anfreunden. Auch die Napoleonischen Kriege, die vorübergehende Vereinigung mit Frankreich und die Habsburger Herrschaft vermochten den Stolz der Toskaner nicht zu brechen. Nicht einmal Mussolini und Hitler.
Als im September 1943 die Alliierten auf ihrem Weg von Sizilien gen Norden die Toskana erreichten, fanden sie freie Menschen vor, die sie mit einem ironischen Lächeln bedachten. Die Massaker der Deutschen hatten in den Toskanern ein neues demokratisches Bewusstsein hervorgerufen, das sie lange Zeit entbehrt hatten. Ein nationales Befreiungskomitee aus Kommunisten, Katholiken und überzeugten Antifaschisten gab den Partisanen, vernünftigen und vorsichtigen Menschen, Unterricht in toskanischen Tugenden und erzog sie zu politischem Denken. Noch heute finden sich in der Toskana alte Männer des Widerstands, denen nichts so zuwider ist wie die hohle Rhetorik und korrupte Kraftmeierei eines Berlusconi. Ab und zu entschlüpft dem alten Esimio ein grobes Wort, und wer genau hinhört, kann so etwas wie questo buco, dieses Nichts, vernehmen, »wer hat uns den nur geschickt?« Und wenn ich einwende, dass es nicht nur die Italiener, sondern auch die Toskaner waren, die Berlusconi mehrfach gewählt haben, schenkt er mir nur ein spöttisches Lächeln: »Wir werden auch diesen buco überstehen.«
Sie haben ihn überstanden, haben Prodi gewählt, Mafiosi verhaftet, die Müllberge abzutragen versucht und riefen erneut nach Berlusconi. Doch muss man sich immer vor Augen halten, wie souverän die Italiener letztlich mit ihren Niederlagen umgehen, auch wenn sie alle Chancen verspielt zu haben scheinen.
Weniger überstehen wird die Toskana aber die Auswüchse des Tourismus, der systematisch an der Abschaffung der Harmonie und Schönheit arbeitet und moderne Einförmigkeit einziehen lässt. Am besten kommen da noch die Dörfer weg. In die möchte ich Sie zuerst entführen, in die kleinen Dörfer und Landstädte, nicht in die großen Städte mit ihren Sehenswürdigkeiten, weil dies mehr dem toskanischen Sinn für Maßhalten entspricht. Es ist das Gesicht des einfachen Volkes, das Ihnen das Land nahebringt. Zum Glück gibt es die wunderbar genauen Militärkarten, in denen jeder Brunnen und jedes Bächlein eingezeichnet sind, in jeder Buchhandlung zu kaufen. Darin finden Sie den entlegensten Ort.
Schon Marcus Agrippa, der römische Kriegsheld unter Kaiser Augustus, hat den künftigen Geografen ins Handwerk gepfuscht und die erste Weltkarte entworfen. Handlich war sie nicht gerade, etwa zwanzig mal zehn Meter groß. Eine echte Wahnsinnstat, verübt unter Mitwirkung eines ganzen Heeres von Landvermessern und Kapitänen. Im Mittelpunkt, was sonst, Rom, und von Rom breiteten sich in alle Richtungen die Straßen und Schiffsrouten in die ganze Welt aus. Und eine der großen Straßen verlief durch die Toskana: die Via Aurelia, 214 vor Christus begonnen, immer noch die wichtigste Nord-Süd-Autobahn. Später, unter Cassius, folgte die Via Cassia.
Die ersten Touristen machten sich auf die Reise.
Die Norditaliener zog es nach dem Süden.
Für die Toskana gab’s nur ein Problem: Die meisten fuhren einfach durch. Allenfalls machten sie einen Abstecher nach Florenz.
Die Gruppen von angetrunkenen und nikotinsüchtigen Norditalienern zog es wie die Römer zu den üppigen Tempeln, zu den ausschweifenden Prostituiertenfeiern, den Dichterwettbewerben mit Leierbegleitung und den Theateraufführungen in Neapel, vor allem aber zu den Pornoschuppen von Pompeji. Natürlich fehlte es nicht an Fanatikern für die göttlichen Bäder, die nackte Körper in nassen Tüchern versprachen. Was soll da ein krähender Hahn morgens um fünf auf dem Hof, ein grunzendes Wildschwein, ein Ölbrötchen oder ein Schafschinken in der Toskana?
Die missachteten Toskaner grämten sich nicht lang und begannen, so etwas wie Marktforschung zu betreiben. Bald kannten sie die Wünsche der Touristen. Sie organisierten an der Aurelia einen kleinen Strich mit romantischen Buschhütten, Zelten, Erfrischungen und einer rustikalen Brotzeit. Es gab schon damals so etwas wie Raststätten am Meer und entlang der Aurelia, später dann pompöse Mietvillen und Gästehäuser mit schattigen Gärten und Pferdeweiden.
Die Toskaner besannen sich auf ihre hübschen Töchter und Schwiegertöchter, schickten sie zu ihren Gästen und ließen sie besten Chianti servieren. Sie entzückten selbst Goethe auf seiner »Italiänischen Reise«. Und nicht zuletzt setzten die Toskaner auf die Gastfreundschaft. Sie kultivierten und verfeinerten sie und widmeten sich liebevoll ihren Gästen. Die fanden es wunderbar, ihren Gastgebern zuzuhören und mit ihnen in der Laube zusammenzusitzen. Sie stellten fest, dass die Toskaner kräftig aßen, und fanden, dass ihre Sprache die unverblümteste und politischste von ganz Italien war. Vor allem fiel auf: Die Toskaner blieben stets Herren, auch die Bauern, und Handwerker wie Arbeiter waren von geistiger Eleganz und großzügiger Herzlichkeit.
Die frühen Touristen aus dem Norden kamen wieder.
Sehnsuchtsort der Engländer und Deutschen wurden Florenz und die Toskana dann für die Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts. Doch auch die mageren Deutschen der kargen Nachkriegszeit – was Lebensgenuss betrifft weder trainiert noch sonderlich gescheit – fuhren bald gern hin. Sie reisten, die strenge Leibesvisitation an der Grenze inklusive, mit dem nächtlichen Brennerexpress (dem Uraltgefährt, wohl noch in Betrieb, mit dem Klodeckelpatent: Verlässt man das Etablissement, klappt mit dem Öffnen der Tür der Klodeckel zu) nach Florenz. Oder rasten zu zweit auf ihren klobigen deutschen Rollern – volare, hoho! – und manchmal im olivfarbenen VW in das Land ihrer Träume.
Das frühe Stadium ihrer Genussfähigkeit erwies sich als ausbaufähig. Denn als sie zum ersten Mal toskanische Salami, Pecorino, den pikanten Schafskäse, Minzeis oder Spaghetti mit Pilzen aßen und Chianti tranken, wurden sie euphorisch. Von Brennesselspinat oder Wurst aus Sägespänen hatten sie für den Rest ihres Lebens genug. Unbefangen und reuelos betraten sie das Land, das sie zehn Jahre zuvor verwüstet hatten, und zeigten ihren Frauen die Orte, an denen sie einquartiert gewesen waren. Erstaunlich, wie gut die...