Dunkel, fromm, bürgerlich
Köln hat in seiner Geschichte tatsächlich dunkle Zeiten erlebt, aber durchaus nicht immer dann, wenn das für andere Städte nördlich der Alpen galt. Das »dunkle« Mittelalter war für Köln über die Jahrhunderte eine glanzvolle Epoche. Nach dem Willen von kraftvollen Äbten und Bischöfen entstanden in rascher Folge ein Dutzend großartiger Kirchen, eine architektonische Neuschöpfung eine jede und im Ensemble wie ein Musterbuch der romanischen Baukunst. Für viele Kölner sind Maria im Kapitol, St. Pantaleon, St. Aposteln, Groß St. Martin und ihre acht Schwestern identitätsstiftender als der Dom, »der finstere Fremdling«.
Als törichten Aberglauben haben die Reformatoren die Verehrung von Reliquien gegeißelt. In der Tat ist die Verteilung der Gebeine von wichtigen Heiligen und Märtyrern im Mittelalter eine Geschichte von Raub und Schacher. Während sich andere Städte mit den Überresten regionaler Heiliger begnügen mussten, fanden in Köln etwa die Knochen der heiligen Ursula mit ihren 11 000 Jungfrauen und immerhin der halbe heilige Severin – die zweite Hälfte wird in Bordeaux verehrt – ihre letzte Ruhestatt. Die glücklichste Fügung für Köln aber fällt in das Jahr 1164. Erzbischof Rainald von Dassel, der mächtige Kanzler Kaiser Barbarossas, bringt einen unerhört wertvollen Schatz, die Gebeine der Heiligen Drei Könige – Bösmeinende sagen als Beute –, aus Mailand mit ins nunmehr endgültig heilige Köln. Sie finden ihren Platz 1220 in dem berühmten, mit funkelnden Edelsteinen verzierten Schrein aus purem Gold auf dem Hochaltar des Doms. Zu Tausenden strömen die Pilger, Fürsten und Volk in Wallfahrten an den Rhein und bringen unvergleichlichen Reichtum in die Stadt. Köln wächst, blüht und gedeiht, hat im späten Mittelalter 40 000 Einwohner, mehr als Nürnberg (18 000), Frankfurt (9000) und Mainz (6000) zusammen.
Durch den Ausbau der Handelsbeziehungen, vor allem mit England, erwarben Kölner Kaufleute große Vermögen. Auch der Besitz von Münz- und Zollämtern wurde zu einer Quelle des Reichtums. Habgier und Neid waren die Folgen. In den kommenden Jahrhunderten rissen die Machtkämpfe zwischen den Erzbischöfen und den Patriziern, zwischen den Patriziern und den Zünften nicht ab, und in den Gefechtspausen befehdeten sich die Patrizierfamilien untereinander. Die von der Mühlgasse, die Gyr, Hardefust und Kleingedank, die Overstolz, Lyskirchen, die von Plaise waren harte Herren, sie horteten das Geld, aber sie brachten es auch in Umlauf. Man protzte nicht mit seinem Vermögen, aber als schönheitsliebend wollten sie schon gelten, die Herren von Köln; sie bauten ihre hochgiebeligen Wohnpaläste und über 100 Kirchen zählte die Stadt. Von Durchreisenden wurde sie als Krone der deutschen Städte gepriesen.
Dunkle Zeiten brachen für Köln erst später an, als andernorts in Deutschland – so in Brühl, fast noch in Sichtweite der Domtürme – Herrenhäuser und Schlösser, Kirchen und Klöster in barocker Pracht entstanden. Vorbei die Zeiten, als im Kölner Rathaus die deutschen Hansestädte tagten, vorbei die Zeiten der Kölner Malerschule, als deren Höhepunkt Stephan Lochner das große Altarbild schuf (um 1445), das heute als einer seiner wahren Schätze im Dom zu bewundern ist. (Die Lochner-Kapelle, in der das Bild zunächst seinen Platz fand und in der die Ratsmitglieder geistige Einkehr vor ihren Sitzungen zu halten pflegten, wurde auf dem Platz gegenüber dem Rathaus erbaut, auf dem man kurz zuvor, also 1426, nach der Judenvertreibung die Synagoge abgerissen hatte.)
Für den Niedergang Kölns haben die Historiker viele Gründe angeführt. Die verzunftete Bürgerschaft hielt engstirnig an den überkommenen Ideen und Gesetzen wie am römischen Glauben fest. Für Protestanten und damit für tüchtige und innovative Zuwanderer blieben die mittelalterlichen Stadttore verschlossen. Im Schutz seiner jahrhundertealten Mauern hat Köln im Dreißigjährigen Krieg weniger gelitten als die meisten anderen Städte, aber mit den engen städtischen blieben auch die engen geistigen Strukturen erhalten. »Mit dem Reich sank auch die Stadt in Dunkelheit … Wäre Köln Residenz gewesen, so hätten ihm vielleicht Gegenreformen und Absolutismus ihre Art der Kultur aufgezwungen; so erstarrte und zerbröckelte es mit den Zünften und der Kirche, die keine andere Aufgabe kannten, als sich selbst zu erhalten«1, befand Ricarda Huch. – Eine besondere Art von kölnischer Borniertheit, die sich in Überheblichkeit und Selbstgenügsamkeit auch heute noch äußert, mag in dem von ihr beschriebenen Phänomen ihre Wurzeln haben.
Als die Franzosen Ende des 18. Jahrhunderts die Stadt einnahmen, bot sich ihren Truppen ein wenig erfreulicher Anblick: baufällige Häuser, verdreckte Straßen, verkommene Plätze. Es stank so fürchterlich in den alten Gassen, dass die Besatzer in ihren schmucken Uniformen sich vor ihre empfindsamen französischen Nasen mit wohlriechenden Essenzen getränkte Tüchlein hielten, die sie in bösem Spott »Eau de Cologne« nannten. Sie fanden 140 weitgehend erhaltene Kirchen vor, aber die Getreidespeicher waren baufällig, und es fehlte an genügendem Platz, um ihre Pferde unterzustellen. So wurden kurzerhand Klosteranlagen samt Kreuzgängen, Pfarr- und Stiftskirchen und Konvente säkularisiert. Heilige Stätten wurden zu Lagerhallen umfunktioniert, St. Pantaleon, die hehre Basilika, war zeitweilig Pferdestall.
Die Reaktion auf diesen ungeheuren Frevel war typisch für die Kölner. Die Empörung über die Entweihung heiliger Stätten hielt sich in Grenzen. Die Säkularisation, das erkannten die schlauen Kölner bald, hatte durchaus ihr Gutes. Als der Staat sich entschloss, das ehemals kirchliche Eigentum an Privatleute weiterzuveräußern, griffen sie beherzt zu. Bankiers wie die Herstatts, Unternehmer wie die Farinas, aber in der Mehrzahl biedere mittelständische Bürger wollten sich das günstige Geschäft mit den geistlichen Immobilien nicht entgehen lassen und wurden stolze Besitzer von Gebäuden, an deren Eingangstüren sie vor Kurzem noch demütig das Kreuz geschlagen hatten.
Das Eintreffen der Franzosen 1794 hatte für die Kölner das Ende ihrer reichsstädtischen Freiheit bedeutet. Auf diesen Verlust reagierten sie auf ihre Art: Sie feierten. Man tanzte um einen »Freiheitsbaum«, den man gekrönt von einer Jakobinermütze, auf dem Neumarkt errichtet hatte. Ob geschunkelt und gebützt wurde, ist nicht überliefert, aber man rief: »Es lebe die Freiheit! Es lebe die Republik!« und klatschte dazu begeistert in die Hände.
Zehn Jahre später ist die Stadt wieder in Feierlaune. Jubelnd ertönt zehntausendfach der leicht veränderte Ruf »Es lebe der Kaiser!«, als Napoleon mit Frau Josephine unter Glockengeläut und Kanonendonner durchs Eigelsteintor in die Stadt einzieht. 12 000 Francs hat sich »La ville de Cologne« die anschließenden Festivitäten kosten lassen.
Man sieht, die Kölner, dieses anpassungsfähige Völkchen, kamen gut zurecht mit den Franzosen, die eine bürgerlich liberale Ordnung schufen, die, um sich in dem Gewirr der Gassen nicht zu verirren, kurzerhand alle Häuser der Stadt durchnummerierten und den Kölnerinnen mit ihrem Charme und ihrer Eleganz den Kopf verdrehten. Manch eine Demoiselle oder reifere Matrone sah man am Arm eines galanten Kavaliers nach dem letzten Schrei der Pariser Mode gekleidet durch die morastigen Straßen der Altstadt zu einem Ball im Tanzhaus Gürzenich schreiten.
Dann, mit einem Mal rechtsum kehrt, die Nase nach Osten, in die Richtung, aus der noch nie etwas Angenehmes gekommen war, wo am Ende des Bergischen Landes die evangelischen Barbaren, die Schänder ungezählter Marienstatuen, hausten, wo es kalt und ungemütlich war, weil irgendwo kurz dahinter Sibirien begann. Schluss mit der fraternité, Schluss mit dem französisch-kölnischen Miteinander, aus dem eleganten Parapluie wurde wieder ein solider Regenschirm, aus den ondulierten Demoiselles züchtig gekleidete Fräuleins. Die aus Berlin verordnete Pünktlichkeit und restriktive Ordnung kamen ihrem Naturell nicht entgegen, aber auch mit den Preußen haben sich die Kölner arrangiert. »Et hät noch immer jot jejange!« Und tatsächlich ging es ihnen im preußischen Jahrhundert recht gut. Köln profitierte von seiner günstigen Lage innerhalb Europas und fand den Anschluss an den Fortschritt mit Namen Industrialisierung.
Zu den dunkelsten Kapiteln des 20. Jahrhunderts gehörte auch in Köln die Zeit nach der Machtergreifung der Nazis. Man sagt, Adolf Hitler habe sich wegen des toleranten Klimas in der Stadt nicht wohlgefühlt; er habe keinen Sinn gehabt für den kölschen Humor, und die heimliche Anarchie und Aufsässigkeit der Kölner gegenüber der Obrigkeit sei ihm verhasst gewesen. Deswegen habe er sich nur selten sehen lassen und nie länger als unbedingt nötig in Köln aufgehalten.
Das ist leider ein Märchen. Viermal war Hitler bereits in Köln gewesen, als er zu dem berüchtigten Geheimtreffen mit Franz von Papen anreiste, das Anfang Januar 1933 in der Lindenthaler Villa des Bankiers Kurt Freiherr von Schröder stattfand und das oft als »Geburtsstunde des Dritten Reichs« bezeichnet worden ist. Danach sind noch drei weitere Besuche Hitlers am Rhein zu verzeichnen, jeder verbunden mit bombastisch inszenierten Großkundgebungen. Höhepunkt aber war sein Auftritt vom 28. März 1936, den Gauleiter Joseph Grohé als »größtes Ereignis in der Geschichte Kölns« angekündigt hatte. Immerhin. Während der »Westdeutsche Beobachter« bei...