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E-Book

Gebrauchsanweisung für Rügen und Hiddensee

AutorHolger Teschke
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492963404
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Weiße Kreidefelsen mit rauschenden Buchenwäldern über smaragdgrüner Ostsee; Rapsfelder vor Boddenufern und endlose Sandstrände mit Strandkörben: Mit 1500 Küstenkilometern lädt Rügen, »Deutschlands größte Insel«, zur Mythenbildung ein. Aber Rügen ist eigentlich ein ganzes Archipel, das aus einem Dutzend Inseln und Halbinseln besteht. Und auch »der Rüganer« ist ein Mythos: Es gibt Wittower, Jasmunder, Mönchguter, Ummanzer, Hiddenseer und Muttländer. Der Autor, der auf Rügen aufwuchs und auch heute noch so oft wie möglich zurückkehrt, begibt sich auf Caspar David Friedrichs Spuren und erzählt von uralten Fischerlegenden und geschichtsträchtigen Ostseebädern.

Der Autor und Regisseur Holger Teschke stammt aus einer alten Rügener Familie. Er arbeitete nach dem Regiestudium als Dramaturg und Autor am Berliner Ensemble sowie in Australien, Amerika und Südostasien. Heute inszeniert er regelmäßig an der Seebühne Hiddensee und schreibt u.a. für »mare«. Von ihm erschienen: »Rügen - Jahreszeiten einer Insel« im Gustav Kiepenheuer Verlag und bei Hoffmann und Campe »Rügen und Hiddensee«.

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Leseprobe

Kreide und Meer


»Nie müsse der erschütternde Anblick des weiten Meeres uns begegnen, ohne daß wir unseren dankbaren Blick zu Dem hinaufsenden, Der das Meer ausgoß und Der den Sand, den Kalk und die Kreide desselben zu festem Ufer setzte.«

Gotthard Ludwig Kosegarten, Uferpredigten, 1794

Woran denken Sie, wenn Sie an Rügen denken? Schneeweiße Kreidefelsen mit rauschenden Buchenwäldern über smaragdgrüner Ostsee? Knallgelbe Rapsfelder vor azurblauem Bodden? Endlose Sandstrände, zugestellt mit Strandkörben und Sonnenschirmwäldern? Das war nicht immer so.

Als der Urkontinent Gondwana zerfiel und Afrika sich von Südamerika verabschiedete, da lagen Rügen und Hiddensee mit dem Rest des zukünftigen Deutschland noch in den Tiefen eines warmen Kreidemeers und schliefen. Während blutrünstige Mosasaurier die Wogen nach Beute durchpflügten, sammelten sich auf dem Meeresgrund Myriaden winziger Coccolithen, die Gehäuseschalen einer planktonisch vagabundierenden Kalkalge, aus der nach 80 Millionen Jahren unter anderem der Königsstuhl und die Stubbenkammer werden sollten. Während die Kreidezeit sich Zeit nahm, versanken Schnecken und Muscheln, Seeigel und Nautilusse, Kalmare und Saurier in jenem weißen Grab, in dem Mutter Natur sie dann langsam in Fossilien verwandelte.

Auch der Feuerstein, aus dem die Steinstrände der Halbinsel Jasmund bestehen, ist organischen Ursprungs. Er enthält Schalen von Kieselalgen und Schwämmen, die durch die Masse der Ablagerungen in Jahrmillionen verdichtet und kristallisiert wurden. Nachdem die Kreideschichten durch das Absinken des Meeresspiegels an die Oberfläche kamen, begann sein zivilisatorischer Siegeszug, denn in der Steinzeit wurden die schärfsten Werkzeuge und Waffen aus Feuerstein gefertigt. Später wurde der »Flintstein« in den Steinschlossflinten aller europäischen Kriege bis ins 19. Jahrhundert verwendet. Heute findet er in der Schönheitschirurgie eine friedlichere Anwendung, weil seine Klingen sichtbare Narbenbildung verhindern. Womit zumindest der Feuerstein die Zweifel am zivilisatorischen Fortschritt widerlegt.

Ich bin mit der Rügener Kreide aufgewachsen. Die Kreidebrüche über Sassnitz, vom Lenzberg bis zum alten E-Werk, leuchteten weiß am Waldrand der Stubnitz und waren unser Abenteuerspielplatz. In ihren Seen konnte man herrlich baden, vor allem, weil es verboten war. Mein Großonkel arbeitete als Meister im Kreidewerk Buddenhagen, wo die Männer noch mit Hacke und Schaufel in die Kreide stiegen und die Kreideblöcke per Hand aus den Absetzbecken in die Trockenschuppen beförderten. Später wechselte er in das neu erbaute Kreidewerk Klementelvitz und wurde dort Meister in der Schlämmerei. Die Rügener Dreikronen-Kreide, die ihren Namen der Schwedenzeit verdankt, wurde nach ganz Europa exportiert. Man verwendete sie in der Düngemittel- und Farbindustrie, für die Pharmazie und in Zahnpasten, aber längst nicht mehr als Tafelkreide für die Schulen. Mein Onkel weckte mein Interesse an Fossilien, indem er mir ausgeschlämmte Seeigel oder Ammoniten mitbrachte. Manchmal durfte ich ihn auf seinen Inspektionsgängen zum Blauen und Grünen Meer, zwei aufgelassenen Kreidebrüchen in der Nähe des Werks, begleiten. Dort zeigte er mir, wie man Fossilien in den eingelagerten Feuersteinschichten finden und vorsichtig bergen konnte. Das war aufregender als jede Schatzsuche. Als ich zur Schule kam, hing in meinem Klassenzimmer eine große Farbtafel des tschechischen Ur-Naturmalers Zden?k Burian, die eine Unterwasserlandschaft voller Seelilien und Korallen zeigte, in der zuckertütenbunte Kalmare herumwuselten. Später fand ich bei meinem Großvater eine Sammlung von Saurierbildern, die die Wandsbeker Kakao-Compagnie Reichardt mit Texten von Wilhelm Bölsche herausgegeben hatte und in der schreckenerregende Ichthyosaurier, Mosasaurier und Urwale jagten.

Wenn ich aus meinem Sassnitzer Klassenzimmer aufs Meer sah, stellte ich mir vor, dass ihre versteinerten Skelette noch immer dort in der Kreide oder im Ostseeschlick stecken müssten. Die Kreidezeit war Teil meines Alltags, und ich wollte Saurierforscher werden, um die versunkenen Ungeheuer ans Tageslicht zu holen, wie ich es auf Fotografien im Berliner Naturkundemuseum gesehen hatte. Meine Expeditionen ans Dwasiedener Ufer waren aufregender als jeder Jurassic Park, wenn ich ein Stückchen Echsenhaut auf einem Feuerstein fand.

Auch heute wird in Klementelvitz noch immer Rügener Kreide abgebaut und unter anderem zur begehrten Dreikronen-Heilkreide verarbeitet. Viele Hotels der Insel bieten Kreidebäder und Peelings an, die angeblich zu einem Muss für Rügenbesucher gehören. Sie sollen mindestens so heilsam sein wie eine Moorpackung, nur dass man dabei blütenweiß aussieht. Und man bekommt eine Ahnung davon, wie sich ein Saurier im Kreideschlamm gefühlt hat. Das Kreidemuseum in Gummanz auf Jasmund, das einzige seiner Art in Europa, erzählt die Geschichte der Rügener Kreide und bietet Exkursionen zu den Kreidebrüchen an, wo man sich unter fachkundiger Anleitung seinen eigenen Seeigel aus der Kreide polken kann.

Nach der Kreidezeit zerbrachen tektonische Kräfte die weiße Pracht unter Wasser und hoben sie hoch aus dem flachen Schelf über den Meeresspiegel. In der Eiszeit schoben sich skandinavische Gletscher über die Kreideklippen und hinterließen Findlinge und Fjordgeröll. Sie rückten bis auf eine Linie zwischen Dortmund, Leipzig und Dresden vor, deren Verlauf man noch heute an den Feuersteinfunden nachzeichnen kann. Als die Gletschergiganten nach der dritten Eiszeit zurückwichen, formten sie mit ihren Schmelzwasserströmen die Landschaft der norddeutschen Tiefebene. Auf Rügen liegen die Ablagerungen aus dieser Zeit nur wenige Meter tief unter der Erde, weswegen die Kreide im Tagebau abgebaut werden kann.

Um 15?000 vor Christus war unsere Küste wieder eisfrei und die Temperaturen stiegen. Mit den Tundramoosen kamen Birken und Weiden, zwischen denen Rentiere ästen. Das Gebiet von Rügen war noch mit dem Festland verbunden und die Baltische Eisstausee schlug gegen die Gletscherwände im Norden. Knochenfunde bei Mukran und am Bug haben gezeigt, dass damals Wale durch unsere Gewässer zogen. Eine Muschel namens Yoldia arctica schenkte ihm ihren Namen: Yoldia-Meer. Dann gab es zwischen 6800 und 5500 vor Christus noch einmal tektonische Hebungen, die das Meer von der heutigen Nordsee abschnitten. Die zuströmenden Flüsse verwandelten es in einen riesigen Süßwasserteich, der seinen Namen einer kleinen Napfschnecke verdankt: Ancylus-See. Auch in dieser Zeit gehörten die Rügener Gestade noch zum Festland. Kiefern siedelten sich auf dem Tundraboden an, ihnen folgten Erlen und Ulmen. Zum Ren gesellten sich Elche und Bisons, auf die die ersten Rüganer Jagd machten. Von ihnen hat sich bei Ausgrabungen eine Harpune und eine bearbeitete Rentierstange gefunden, die ältesten Zeugnisse der ersten Siedler.

Um 5500 vor Christus stieg der Meeresspiegel wieder und über den Öresund floss Salzwasser aus der Nordsee zu, in dem sich die Muschel Litorina litorea wohlfühlte. Das Litorina-Meer machte Rügen um 2500 vor Christus endlich zur Insel, auf der sich nach und nach Eichen ansiedelten, die noch 4000 Jahre später als stumme Zeugen der Vergangenheit in den Gemälden der Romantik aufragten.

Die Hinterlassenschaften von Kreide- und Eiszeit wurden zu Souvenirs, die noch heute begehrt sind. Einen Feuerstein mit einem kreisrunden Loch nennt man auf Rügen einen Hühnergott, denn nach dem Glauben der alten Slawen, die hier lebten, stimulierte dieses geologische Unikum die Legefreude ihrer Hühner und schützte sie durch ihr Geklapper vorm Fuchs. Das Loch stammt von den Einlagerungen ehemaliger Seelilienstängel. Die Rüganer nannten ihn auch Drudenstein, weil ihm magische Kräfte zugeschrieben wurden, und trugen ihn um den Hals oder in der Hosentasche. Meine Großtante Ella hat mir gezeigt, wie man sich mit einem Hühnergott einen Wunsch erfüllen kann. Man muss ihn selber finden, durch das Loch auf den Horizont gucken, sich dabei etwas wünschen, dann auf den Stein spucken und ihn immer bei sich tragen. Man darf einen Hühnergott natürlich nicht überfordern. Er hilft gegen den bösen Blick und Hexenschuss, aber nicht gegen Finanz- und Ehekrisen.

Zum 50. Geburtstag meiner Freundin hatte ich leichtsinnig versprochen, jedem der Gäste einen Hühnergott neben die Serviette zu legen. Deswegen machte ich mich an einem frühen Sommermorgen am Ufer der Stubbenkammer auf die Suche. Gegen Mittag hatte ich gerade zwei Dutzend aus dem Spülsaum der Ostsee gefischt, als ich plötzlich einen dunkelbraunen Stein entdeckte, den ich zuerst für einen Donnerkeil hielt. Bei näherem Hinsehen erwies sich das seltsame Stück als ein gebogener Zahn in der Größe eines kleinen Kinderfingers. Als ich am Nachmittag meine Hühnergötter zusammenhatte, schlug ich in Professor Nestlers »Fossilien der Rügener Schreibkreide« nach und entdeckte: »Sehr selten sind Reste von höheren Wirbeltieren, die einstmals schwimmend im Kreidemeer lebten. Funde von Zähnen weisen darauf hin, dass einzelne Mosasauriden auch in diesem Meer vorkamen.«

Ich hatte einen Mosasauruszahn gefunden! Meine Euphorie wurde später allerdings leicht gedämpft, als ich im Museum of Natural History in New York City ein Mosasaurusskelett sah. Mein Fundstück muss von einem Saurierbaby stammen. Aber immerhin erfuhr ich bei der Gelegenheit, dass kein Geringerer als Napoleon Bonaparte den ersten Mosasaurusschädel, den der Chirurg Hoffmann 1770 in einem Steinbruch bei Maastricht gefunden hatte, als Kriegsbeute nach Paris bringen ließ. Dort erkannte Georges Cuvier, dass es sich um eine ausgestorbene Riesenechse handelte, die mindestens...

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