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E-Book

Gebrauchsanweisung für Rumänien

AutorJochen Schmidt
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783492961240
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Vom Banat bis nach Bukarest, von Hermannstadt nach Transsilvanien, ins »Land jenseits der Wälder«: Der Autor erzählt von Schnaps, der auf Obstbäumen wächst, von Draculas Nachfahren und so wichtigen Erfindungen wie dem Düsenflugzeug oder dem Füller. Von einem Land, in dem ein prächtiges Haus »Villa Schmiergeld« getauft wird und der Alltagshumor allgegenwärtig ist. Das heute stolz auf die Überreste römischer Besatzung blickt und den Einfluss Moskaus verschmäht. Wo Baustellen wie Spielplätze aussehen und im Krämerladen an der Ecke neben Brot und Gemüse auch Fotokopien und Versicherungen zu kaufen sind. Von Constantin Brâncu?i, der schon als Kind aus einer Obstkiste eine Geige gebaut haben soll. Und von der Poesie des Provisorischen.

Jochen Schmidt, 1970 in Berlin geboren, hat in Bukarest studiert und verbrachte Auslandsaufenthalte in Brest, Valencia, Rom, New York und Moskau. 1999 war er Mitbegründer der Berliner Lesebühne »Chaussee der Enthusiasten«. Er ist Übersetzer und Autor, u.a. der Bände »Müller haut uns raus«, »Triumphgemüse«, »Meine wichtigsten Körperfunktionen«, »Schmidt liest Proust«, »Schneckenmühle« und »Der Wächter von Pankow«. Seit einigen Jahren dokumentiert er fotografisch die Kuriositäten der DDR-Vergangenheit im Alltag. Zum Jubiläum des Mauerfalls veröffentlichte er zusammen mit David Wagner »Drüben und drüben«. Jochen Schmidt lebt in Berlin. Bei Piper liegen von ihm die »Gebrauchsanweisung für die Bretagne«, »Gebrauchsanweisung für Rumänien« und »Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland« vor. Zuletzt erschien sein Roman »Zuckersand«.

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Leseprobe

Mit der Schäferin durch Schulligulli


Sighetu Marma?iei. Die ersten mit abgeschnittenen Plasteflaschen bekrönten Zaunpfähle. Wahlplakate, ein unabhängiger Kandidat wirbt für sich: »Statt einer Partei lieber einen Menschen.« Der Palatul Cultural Astra, ein burgartiges Gebäude an einer Straßenecke. Einfach die Tür öffnen? Ein Ikarus-Wandgemälde, das war auch typisch für die DDR, der Kult um diesen Freiheitshelden: »Flieg, flieg, wie ein Falke, der das enge Erdenverlies verlässt.« Ich falle dem Personal auf, und der Direktor führt mich persönlich durch das Gebäude. Das Haus sei eine Stiftung eines reichen Ungarn aus den 30er-Jahren. Ein ofengeheizter Ballettsaal. In der Malerklasse lernt eine Frau die Technik der Hinterglasmalerei. Ich kaufe ihr zwei Ikonen ab, das Geld wäre schon der Rahmen wert. Die Künstlerin schreibt für ihren Unterricht einen Text aus einem großen Buch ab. Warum sie das nicht kopiere? Das gehe nicht, das Buch sei zu alt und wertvoll. Und so schreibt sie einen Text aus einem Buch ab, das kaum 100 Jahre alt ist.

Im Direktorenbüro hängt ein Neuschwanstein-Poster, davor steht ein Gummibaum, von einer ausrangierten Neonröhre gestützt, die in der Blumenerde steckt. Das sei kreativer Umweltschutz, sagt der Direktor grinsend. Ich liebe diese improvisierten Lösungen, wo so etwas möglich ist, atmet die Seele auf. Und wo geht es wieder raus? »Penultima la dreapta«, sagt er, die vorletzte Tür links. Penultima, ein griechischer Begriff aus der Metrik, so wird die vorletzte Silbe im Wort bezeichnet. Aber auf Rumänisch auch eine Tür. Wer da nicht Rumänisch lernen möchte!

Im Zentrum der Stadt das Memorialul Victimelor Comunismului ?i al Rezisten?ei (Gedenkstätte für die Opfer von Kommunismus und Widerstand). Es ist aus einer Privatinitiative hervorgegangen, die rumänische Politik hat sich um so etwas nach der Wende nicht gekümmert. Hinter jeder Zellentür ein anderes Thema für eine Doktorarbeit. Bürgerliche, Bauern, Politiker, Offiziere, Studenten, Ärzte sind hier gestorben, vor allem in den 40ern und 50ern. Ein gelbes Herz, 1950 aus dem Stiel einer Zahnbürste geschnitzt. Der Fall eines Gefangenen, der nach Misshandlungen gespürt hat, dass er nackt in einer kalten Betonzelle nicht überleben werde, und einen jüngeren die Nacht über auf sich hat sitzen lassen, um ihn zu retten. Ob es stimmt, dass der ehemalige Gefängnisdirektor seit Jahren versucht, dem Memorial den Hut des hier gestorbenen Politikers Iuliu Maniu zu verkaufen?

Ein Raum zeigt Alltagsgegenstände aus dem Kommunismus. Ceau?escu-Porträts in fast schon karikaturhafter Unähnlichkeit. Er besucht LPGs, gibt Bauern nützliche Hinweise und erläutert Ingenieuren den Bau von Kraftwerken. In zwei durchsichtigen Säulen haben sie Ostprodukte entsorgt, als sei es Müll: das Sparbuch, das alle hatten, Puppengeschirr, Kinderkameras, Pepsiflaschen, die orangeblaue Uniform der Jugendorganisation ?oimii Patrici (Falken). Es gibt bei den Vertretern der antistalinistischen Aufklärung noch kein Bewusstsein für den emotionalen Gehalt solcher Alltagsgegenstände. Mit einer Archäologie der Gegenwart, oder auch nur dem Archivieren der Alltagswelt, ist hier noch nicht begonnen worden. Dafür ist vieles aber auch noch in Gebrauch.

Am Busbahnhof komme ich genau rechtzeitig, um im Euro-Café Gara »Gordon blue« zu essen. Ich finde ganz hinten noch einen Platz im Minibus nach Vi?eu de Sus, wo ich mit der letzten noch betriebenen Wald-Schmalspurbahn Rumäniens fahren will, einer sogenannten moc?ni?a, was wörtlich Schäferin heißt. Ich habe Glück, andere müssen die Fahrt im Stehen hinter sich bringen. Eine Frau hat eine Schachtel mit durchlöchertem Deckel dabei, man hört die Kücken piepsen.

Bauernhäuser, geschnitzte Holztore, deren heidnische Symbolik einen nicht überrascht. Manche dieser Tore sind auch neu und als protziges Statussymbol gemeint. Quadratische, überdachte Heuschober auf den Feldern, Holzstangen zum Trocknen von Gras, das die Hauptressource zu sein scheint. »Kommt der Georg, kommt das Gras. Schlägt man’s mit dem Hammer nieder, kommt es dennoch immer wieder.«

Wundervolle Holzhäuser und daneben pinkfarbene Betonvillen mit Gipssäulen. Warum wird das nicht von der EU verboten?

In Vi?eu de Sus suche ich das Depot der Kleinbahn. Kinder haben Adidas- und Nike-Logos an die Mauer gemalt. Wenn Graffiti so aussehen, hat es der Kapitalismus geschafft. Im Sägewerk werden Baumstämme gestapelt. Ich hatte eigentlich mit dem Touristenzug morgens um neun Uhr fahren wollen, aber als ich höre, dass man auch um fünf Uhr früh mit den Waldarbeitern fahren kann, siegt die Neugier. Ich buche eine Nacht im ausrangierten Schlafwagen, der auf dem Gelände steht: »Vereinigter Schienenfahrzeugbau der DDR. VEB Waggonausrüstungen Vetschau«.

Das kunstvoll verzierte Blech der Dachrinnen im Ort. Ein Friedhof, ob ich mich zur fröhlich zechenden Trauergesellschaft setzen soll? In der Kirche, die wieder nur eine aufgemalte Uhr hat, diesmal zeigt sie zehn vor zwölf, begrüßt mich ein Mann mit Handschlag. Ich überlege kurz, ob wir uns kennen. Auf dem Grabstein für Mihai und Ileana Bocsok steht »1942–20«, die letzten beiden Ziffern müssen bei Bedarf noch ergänzt werden, das Jahrhundert steht aber schon fest. Auf einem Grab von 2000 steht: »Wanderer, hier ruhe ich, und du liest diese Worte. Besser wäre es, du lägest hier, und ich würde das lesen.«

In einem Vorgarten ein großes, verziertes Holzkreuz, die Besitzerin freut sich, dass ich mich für ihre troi?? interessiere, die hätten sie selbst geschnitzt. Hinten im Garten bedient der alte Großvater eine museumsreife Destillieranlage. Im Kessel brennt Feuer, ein langes Rohr führt zu einem zweiten Kessel, ein bisschen wirkt es so, als würde gleich alles in die Luft fliegen. Pflaume?, frage ich, Kompetenz vortäuschend. Nein, Äpfel. Vom letzten Jahr? Ja. Die Frau hat einen Bruder Romulus in Nürnberg, ob ich den kennen würde?

An einer Kreuzung eine blaue Bank, deren Sitz man aufklappen kann, wenn man eine Mutter von einer Schraube löst. Anschließend schraubt man sie wieder fest. Auf der Straße ist mit einem Stück Gartenzaun ein deckelloses Gullyloch markiert. Im Buchladen ein Buch über die Zipser, die deutschen Waldarbeiter, die hier von den Österreichern vor über 200 Jahren angesiedelt wurden. Sie kamen aus der Slowakei, wo sie auch schon eine Minderheit waren. Das Bild von einem »symbolischen Begräbnis« für Gheorghe Gheorghiu-Dej im Jahr 1955. Anscheinend hat man den Tod dieses ersten kommunistischen Regierungschefs von Rumänien überall im Land auf diese Art betrauert. Man erfährt von einem Möbelstück der ersten Kolonisten, dem »Radlbettl«, das tagsüber unter das andere Bett geschoben wurde. So eines hatten wir in unserer Neubauwohnung auch! Vom Vorstand des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, das sich im Januar 1990 gründen durfte, blieb bei der ersten Reise nach Westdeutschland im September 1990 die Hälfte dort. Heute kommen die Deutschen nur noch zu jährlichen Nostalgietreffen. Ihre Tänze und Gesänge werden dabei von jungen Rumänen aufgeführt.

In der Stadt hängen überall Wahlplakate. Ein unabhängiger Kandidat wirbt mit einer Vorher-nachher-Bilderserie für sich. Ich würde immer für »GEGENWART« optieren und nicht für seine Version unter »VI?EU HAT EINE ZUKUNFT«, bei der uniforme Betongaragen gezimmerte Holzbaracken ersetzen, eine ungepflasterte Dorfstraße einem schnurgeraden Asphaltband weicht, ein Spielplatz mit einem schönen, alten Karussel einer grellbunten Plasterutsche.

In einer Pizzeria heißt das Bier in der Karte »Pilsener Ürkuell«. Es gibt auch »Bergenbier«, »Golden Brau«, »Burger«, »Dorfer«, »Albacher«. Während man sich für Parfüms französische Namen ausdenkt, hat man bei den Biersorten in Rumänien auf eine Art Deutsch zurückgegriffen. Flachbildschirme an allen Wänden. Ein Nachrichtensender zeigt eine Schlägerei unter Fußballern bei einem Spiel CFR Cluj gegen Universitatea Cluj. Der gemischte Salat ist eine zerschnittene Tomate mit einer zerschnittenen Gurke. Aber es gibt WLAN.

Auch auf dem Gelände vom Depot kann man ins Internet. Wegen des schlechten Telefonnetzes in Osteuropa haben sich Mobiltelefone und Internet hier schneller durchgesetzt als bei uns. Der Wachmann setzt sich neben mich und betrachtet interessiert meinen Bildschirm, als handle es sich um Fernsehen. Manchmal zuckt der Hund, wenn sich draußen jemand nähert. Ein ungewohnter Sternenhimmel, Geruch von Holzfeuer, der Fluss rauscht im Dunkeln. Im Zugabteil ein Waschbecken zum Aufklappen.

Morgens um fünf Uhr sehe ich den Arbeitern zu, die im Depot den Zug rangieren, Waggons, die später mit Holz beladen werden. Ganz nach hinten kommt ein Waggon mit Heu. Platz nehmen neben einem Kanonenofen, Holz liegt schon bereit. Bei mir ist leider ein Loch in der Scheibe, durch das es ziemlich kalt bläst. Langsame Fahrt, direkt an Vorgärten vorbei, Bohnenstangen, Wäsche hängt zum Trocknen. Arbeiter springen auf, Kaffeebecher in der Hand. Manche stehen vorne im Freien. Die Bahnstrecke schlängelt sich am Fluss entlang, eine Straße ins Tal gibt es nicht.

Zehn Arbeiter, zehn verschiedene Mützenlösungen. Einer will sogar meine gestanzte Pappfahrkarte sehen. Das Gerät, das er dafür benutzt, macht den Pufferküssern, die von weither für diesen Zug anreisen, sicher besondere Freude. Sie stellen sich an Kurven auf, um die Dampflokomotive in ihrer ganzen Länge zu knipsen, als handle es sich um ein Fotomodell. Fehlgeleitete männliche Zärtlichkeit.

Vor den Kurven pfeift die Lok. Treibholz und Müll im Fluss, man...

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