Meine neue Nachbarin, eine Amerikanerin, die ihr Traumhaus fast direkt nebenan gefunden hat, kam eines Tages völlig verwirrt auf einen Kaffee vorbei. »Ich leide unter einem akuten Kulturschock!«, erklärte sie. »Ich war in der Shoppingmall einkaufen: So sehr ich das auch hasse, aber es ist nun mal praktisch. Die Mall hätte auch irgendwo in den Staaten sein können, in Fresno, Kalifornien, vielleicht. Als ich zu meinem Wagen zurückkehrte, sah ich zwei umwerfend schöne kleine mittelalterliche umbrische Dörfer auf dem Hügel. Dieser Gegensatz zwischen der Einkaufsatmosphäre in der Mall und den liebenswerten alten Gemeinden direkt daneben hat mich völlig schockiert. Es war total verwirrend, diese beiden Welten so nah beieinander zu sehen.
Ich bin in meinen Wagen gestiegen, aber nicht nach Hause gefahren. Stattdessen entschied ich, mir eines der Dörfer anzuschauen. Da gab es einen hübschen kleinen Kirchturm, ganz pfirsichfarben, den ich mir aus der Nähe ansehen wollte. Als ich auf die kleine Piazza vor der Kirche kam, marschierte eine Gruppe von Frauen einen Hang hinunter auf die Piazza zu. Einen Augenblick dachte ich schon, sie wollten mich aus dem Dorf jagen! Sie hatten Seifenpulverschachteln und Wäsche bei sich. Sie gingen in ein altes öffentliches Waschhaus an der Piazza und machten sich daran, ihre Wäsche von Hand zu waschen. Keine zehn Minuten zuvor war ich noch in der Shoppingmall gewesen, in der die jungen Umbrierinnen aussahen wie Popstars … und nicht weit davon entfernt waschen diese Frauen ihre Wäsche auf dem Marktplatz! So etwas gibt es nur in Umbrien!
Dann bin ich ein Stück weiter hügelauf gefahren und prompt stecken geblieben, weil die Straße für Autos wirklich zu schmal war. Wie auf ein geheimes Signal hin kamen die Leute aus ihren Häusern und winkten mich weiter, ein paar Zentimeter links, ein paar Zentimeter rechts, bis ich nach etwa zwanzig Minuten wieder rauskam. Beim Weiterfahren kam mir eine Herde Schafe entgegen. Der Schäfer rief, ich solle ihm aus dem Weg gehen, aber das war unmöglich: links war der Berg, rechts ein Abgrund. Ich konnte nur den Motor abstellen und zuschauen, wie die größten Schafe, die ich je gesehen habe, an mir vorbeigingen. Als sie weitergezogen waren, fuhr ich den Hügel hinauf, aber plötzlich war die Straße zu Ende. Ich wendete, beschloss, es für den Tag gut sein zu lassen und machte mich auf den Heimweg. Abwärts nahm ich eine andere Route und kam an einem unglaublich niedlichen kleinen Dorf vorbei. Dort gab es eine winzig kleine Kirche, die mit weißen Lichtern eingerahmt war. Mitten auf der Fassade stand in neonfarbenem Pink und Großbuchstaben ›W Maria‹ (die italienische Kurzform für Viva Maria)! Ich musste laut lachen. In den Staaten benutzen wir das Wort Viva höchstens für Footballteams, oder um Staatsgäste hochleben zu lassen!«
Die Umbrier haben ein kurioses und manchmal liebenswertes Verhältnis zur Moderne. Die verblichenen Schwarz-Weiß-Fotos, die in manchen Restaurants oder Fotogeschäften hängen und das alte, bäuerliche Umbrien mit seinen Schotterwegen, Eselskarren und muskulösen weißen Pflugochsen zeigen, beweisen, wie sehr sich das Land in nur wenigen Jahrzehnten verändert hat. Doch vieles bleibt noch beim Alten. Die Frauen im Waschhaus haben höchstwahrscheinlich eine Waschmaschine zu Hause. Doch angesichts der exorbitanten Strompreise ist es durchaus verlockend, bei schönem Wetter die Laken oder Vorhänge kostenlos zu waschen und dabei ein nettes Schwätzchen mit den Freundinnen zu halten, so wie schon Mutter und Großmutter zuvor.
Ein italienischer Besucher, Stadtmensch aus dem Norden, war nach einer Fahrt durch die umbrische Landschaft am Rande eines Nervenzusammenbruchs. »Was ist denn los?«, fragte ich. »Diese Fahrer! Die machen mich völlig verrückt!«, japste er. Damit meinte er nicht die üblichen italienischen Straßenverhältnisse – Autos, die rechts überholen, andere schneiden oder über rote Ampeln fahren, Motorräder, die sich selbstmörderisch durch den dichten Verkehr schlängeln. So geht es auf den Hauptstraßen ständig zu, daran ist er gewohnt. Nein, was ihn so wahnsinnig gemacht hatte, waren die Fahrer, denen man auf den Nebenstraßen begegnet: Männer in zumeist gesetztem Alter, die friedlich in zerbeulten Fiats herumzuckeln, die nicht viel jünger sind als sie selbst, keinen Gedanken an die anderen Verkehrsteilnehmer verschwenden und sowieso nicht schneller fahren könnten. Und da diese Straßen meist kurvig und häufig steil sind, könnte jeder Versuch zu überholen schnell mit einem Kreuz und einem Strauß verwelkter Blumen am Straßenrand enden, wie sie hier und da das Ableben anderer Autofahrer markieren, die es zu eilig hatten. »Da bleibt dir nichts anderes übrig«, musste ich ihn trösten, »als dich zu entspannen und die Landschaft zu genießen. Und wenn das nicht klappt, nimm eine Beruhigungstablette.« Gleiches lässt sich auch über Begegnungen mit Traktoren, Schafen, von Nonnen gelenkten Wagen oder den kleinen dreirädrigen Api sagen, den Arbeitsbienen auf den Straßen. Im Grunde handelt es sich bei den Dreirädern um die motorisierten Nachfolger der Eselskarren und um eine Variante der Vespa, zu Deutsch Wespe.
Bei ihren vielen begeisterten Fans hat die Ape schon längst Kultstatus, so ungefähr vergleichbar mit dem Trabi. Die ersten Bienen, so ihr Name auf Deutsch, schwärmten in den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg aus; dabei handelte es sich um Vespa-Roller mit einem kleinen zweirädrigen Anhänger. Später kamen kleine Ein-, danach Zwei-Mann-Kabinen hinzu, doch bis zum heutigen Tage handelt es sich um bescheidene Dreiräder. Die Ape 50, die einfachste Ausführung, hat noch immer einen kleinen Zweizylinder-Rollermotor, der mit einem Benzin-Öl-Gemisch fährt und schon von Vierzehnjährigen gefahren werden darf. Sie kostet etwa 4500 Euro; ausgewachsene Modelle sind etwa doppelt so teuer. Die meisten dieser Arbeitsbienen machen einen infernalischen Krach und qualmen ganz fürchterlich, doch ohne diese kleinen Stinker käme so mancher Rentner oder Teilzeitbauer mit dem Dünger nicht zu seinem Gemüseacker und mit seinen Oliven nicht zur Mühle.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Leben hier ungefähr mit der Geschwindigkeit einer Ape vergeht. Neue Ideen von anderswo treffen nur zögerlich ein und werden noch zögerlicher übernommen. Umbrien ist eine jener Gegenden, in denen man seit sechzig Jahren dieselben Parteien wieder wählt und sich nicht sonderlich um den Sumpf schert, den diese politische Stagnation mit sich gebracht hat; in denen Behörden, Baufirmen, Postämter oder medizinische Einrichtungen zu glauben scheinen, dass man in seinem Leben nichts Besseres zu tun hat als zu warten; wo nur ein Mal am Tag die Eisenbahn die Hauptstadt der Region, Perugia, mit der Wirtschaftsmetropole Mailand direkt verbindet; wo eine merkwürdige Form von Irrwitz regiert, wenn zum Beispiel in Restaurants oder auf Tankstellen die Besitzer gar nicht daran denken, Schlösser an die Toilettentüren anzubringen, oder Verwaltungsbeamte Parkplätze markieren, auf die man beim besten Willen kein Auto stellen kann, da ein ausgewachsener Baum die Zufahrt versperrt.
Die Vergangenheit ist immer noch sehr gegenwärtig. Man könnte behaupten, sie sei noch da gewesen, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Damals verfügten viele Häuser noch nicht über Strom, viele Landstraßen waren noch Schotterpisten, die Hügeldörfer verfügten über keine Kanalisation und waren, wie schon seit Generationen, mit Zisternen geradezu übersät, in denen das Regenwasser aufgefangen und gespeichert wurde. Auf dem Land waren Esel- oder Maultierkarren noch immer das Hauptbeförderungsmittel, Traktoren sah man nur selten. 45 Prozent der Bevölkerung konnte nicht lesen. Mein Freund Dino, der gerade sechzig geworden ist, meint: »Im Laufe meines Lebens bin ich aus dem Mittelalter in die Moderne gekommen.«
Als der Komponist Gian Carlo Menotti 1958 das Festival dei Due Mondi, das Festival der Zwei Welten, in Spoleto organisierte, gab es nur ein paar recht primitive Wirtshäuser und zwei Hotels in der Stadt; fließend Wasser gab es praktisch nicht. Manche der Festivalbesucher, die die damals vierstündige Fahrt von Rom auf sich genommen hatten, mussten sich in ihren Autos umziehen und in die Abendgarderobe zwängen. Man erzählt, dass selbst die großzügige Anwendung von Parfüm den Geruch nicht übertünchen konnte, der während der Vorführungen in den Theatern aufstieg. Es ist großteils Menottis Drängen zu verdanken, dass der Stadtrat mit Nachdruck den Bau einer ordentlichen Wasserversorgung verfolgte.
Die meisten Umbrier lebten von der Landwirtschaft. Das Land selbst aber gehörte entweder der Kirche, religiösen Einrichtungen oder großen Landbesitzern, und ein Großteil der Fläche wurde auf geradezu archaische Weise beackert. Die Bauern, die das Land bearbeiteten, waren zumeist mezzadri, also Pächter, denen weder das Land gehörte noch die Häuser oder das Vieh. Die Hälfte des Ertrags ging an den Landbesitzer, die andere Hälfte blieb den Pächtern, den mezzadri. Des Lesens nicht mächtig und ohne jede Schulausbildung, waren sie leichte Opfer für betrügerische Gutsverwalter und Landbesitzer. Anreize zur Modernisierung oder zur Verbesserung der Qualität der landwirtschaftlichen Erzeugnisse gab es nicht. Wie primitiv das alles war, lässt sich an den Gerätschaften erkennen, die die Bauern sich selbst bauten und die man heute auf den Flohmärkten finden kann. Viele Bewohner Umbriens wanderten aus.
Die seltenen ausländischen Besucher fanden all dies recht bezaubernd, doch für die Umbrier selbst war die alte...