Alle Wege führen zum HB
Vergessen Sie den Flughafen. Der Flughafen Zürich, wie er nach einer Reihe unglücklicher Namen simpel heisst (»Kloten« bedeutet auf Holländisch »Hoden«, und »Unique« klang so sehr wie »Munich«, dass dem Gerücht nach diverse Taxifahrer mit ahnungslosen Gästen über die Grenze nach Norden gefahren sind). Der Flughafen Zürich also ist ein Transitflughafen, eine Durchgangsstation auf dem Weg nach anderswo. Nein, wer Zürich zum Ziel hat, kommt mit dem Zug an. Der Zürcher Hauptbahnhof ist nicht nur der grösste, sondern auch der älteste Bahnhof der Schweiz. Der ursprüngliche Bau war der Endbahnhof der 1847 eröffneten ersten ganz auf Schweizer Boden gebauten Bahnstrecke. Sie führte von Baden nach Zürich und ist heute noch eine der beliebtesten Pendlerstrecken des Landes. Diese Verbindung trug im Volksmund den schönen Namen »Spanisch-Brötli-Bahn«, nach einem Gebäckstück, das eine ziemlich interessante Geschichte hat: Es wurde ursprünglich in Mailand hergestellt, welches im 16. Jahrhundert unter spanischer Herrschaft stand. Die »Spanisch Brötli« waren vor allem im 17. und 18. Jahrhundert beliebt. Besonders die wohlhabenden Zürcher, die oft in Baden zur Kur weilten, schätzten dieses dekadente »Stückli«. Es bestand nämlich aus luftigem Blätterteig mit einem sehr hohen Butteranteil – und ein solches Luxusgebäck herzustellen war im reformierten Zürich verboten. Aber die reichen Zürcher wollten diesen Genuss auch zu Hause nicht mehr missen, und so schickten sie ihre Dienstboten aus. Diese mussten nachts die 25 Kilometer von Zürich nach Baden zurücklegen, um am Morgen das Gebäck zu kaufen und es möglichst frisch den Herrschaften zum Sonntagsfrühstück aufzutischen. Mit dieser ersten Bahnverbindung konnten die »Spanisch Brötli« in 45 Minuten von Baden nach Zürich transportiert werden. Dafür wurde die Strecke wohl hauptsächlich genutzt, denn daher hat sie ihren Namen. Und diese Geschichte sagt eigentlich schon alles, was man über Zürich wissen muss.
1871 musste dieser erste Bahnhof aber schon durch einen grösseren, besseren, schöneren Neubau von Jakob Friedrich Wanner ersetzt werden, um dem erhöhten Verkehrsaufkommen gerecht zu werden. Damals überlegte man, den Bahnhof näher an die Stadt und an den See heranzubauen, weil der Zürichsee immer noch eine grosse Bedeutung als Transportweg hatte. Denn ursprünglich lag der Bahnhof ausserhalb des damaligen Stadtzentrums, der heutigen Altstadt. Doch die Stadt akzeptierte den Bahnhof als ihr neues Zentrum und richtete sich schon bald an ihm aus. Die berühmte Bahnhofstrasse rollt sich wie ein roter Teppich vor seine Füsse beziehungsweise seinen Haupteingang, der die Strasse wie ein Triumphbogen empfängt.
Bis heute ist der Hauptbahnhof in ständiger Veränderung begriffen, einem nicht enden wollenden Verbesserungs- und Vergrösserungsprozess unterworfen. Es würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages die Stadt auffressen würde.
Der Stau auf der A 1 sagt etwas anderes, doch ich behaupte: Alle Wege nach Zürich führen über den HB, wie wir den Hauptbahnhof nennen. Vielleicht beginnen und enden sie sogar da – denn warum sollte man diesen zwar weder schönen noch übersichtlichen Ort verlassen wollen, dieses ständig im Umbau begriffene, von rot-weiss gestreiften Planken begrenzte Labyrinth, diese imaginäre Weltstadt im Kleinformat, diese unterirdische Utopie? Das sagen sich jedenfalls die Horden von Jugendlichen, die an den Wochenenden von der Agglomeration in die grosse Stadt von Welt geschwemmt werden. Viele bleiben gleich einmal da. In deutlich voneinander abgrenzbaren Gruppen. Unter der Uhr lebt unverdrossen der Punk weiter, mit Bierdosen und überraschend gut genährten Hunden mit rot-weiss gemusterten »Glarnertüechli« als Halsband. Bei der Rolltreppe zur S-Bahn hängen die Emos, die »Emotionalen«, die Neoromantiker, die aus anderen Grossstädten längst verschwunden sind. Kunstvoll drapieren sie sich am Geländer, die dünnen Beine ausgestreckt, die kunstvoll geföhnte Franse über der Stirn. Das macht es den Vorstadteltern leichter, ihre Zöglinge gegebenenfalls wieder aufzuspüren. Manche werden aber gleich entdeckt, so wie Benjamin Lutzke, Hauptdarsteller des preisgekrönten Filmes »Chrieg« (Krieg). Er war sechzehn Jahre alt, hatte seine Lehre als Lüftungsplaner abgebrochen und wusste nicht, was mit sich anzufangen. Also hing er mit seinen Kumpels am HB rum und wurde dort von Simon Jaquemet angesprochen. Lutzke war einer der ersten von ungefähr tausend Jugendlichen, die der Zürcher Filmemacher zum Casting für seinen ersten Film einlud – einer der ersten und der Beste. Unterdessen hat er den Max-Ophüls-Preis gewonnen und Isabelle Huppert die Hand geschüttelt. Der Zürcher Hauptbahnhof, das Tor zur Welt. Sage ich doch.
In einem Interview für den ZÜRITIPP, die Veranstaltungsbeilage des Tages-Anzeigers, hat Benjamin Lutzke ausserdem etwas über die Schauspielkunst gesagt, das zu schön ist, um unzitiert zu bleiben, auch wenn es mit Zürich direkt nichts zu tun hat: Er habe früher sehr viel gelogen, sagt er. »Ich war richtig gut darin. Davon habe ich profitiert. Schon beim Casting dachte ich: Das ist ja wie Lügen.«
Deshalb ärgern Sie sich nicht über die jugendlichen Horden, über die Sie am Wochenende unweigerlich stolpern werden. Wer weiss, ob es nicht der nächste Newcomer des Schweizer Films ist, der hier gerade seine Bierflasche vor Ihre Füsse fallen lässt!
Das reizendste Spektakel aber bietet sich im Souterrain bei McClean. Genau, der saubersten öffentlichen Toilette der Welt. Dafür kostet der Eintritt aber auch 2 Franken. Eine gut gekleidete ältere Dame, mit Einkaufstaschen der umliegenden grossen Warenhäuser behängt, drängt sich an mir vorbei.
»Für zwei Schtutz steh ich doch nicht Schlange hier!«, schnauzt sie. So heisst die Landeswährung in der Landessprache – Schtutz. Nicht Fränkli! Bitte nicht! Am häufigsten in folgender Konstellation gehört: »Häschmer en Schtutz?« Auch reiche Länder haben Bettler. Aber dazu später. Zurück in die gediegene und geräumige Damentoilette im Zwischengeschoss des Hauptbahnhofes. Es herrscht Gedränge, vor allem vor dem Schminkspiegel. Junge Frauen machen sich für den Ausgang bereit. Ausgang, noch so ein lokaler Begriff. Damit ist nicht Heimaturlaub von Gefängnisinsassen und Psychiatriepatienten gemeint, sondern das Nachtleben. Tanzen, Trinken, Essen – Ausgehen eben. Doch, das ist in Zürich ein Zustand und keine Tätigkeit. Item. Die jungen Frauen schleppen eine Ausrüstung mit sich herum, die einer Theateraufführung oder einem Fotoshooting angemessen wäre und für die man normalerweise Träger engagiert. Rollkoffer und bauchige Taschen voller Kleider, Schuhe, Schmuck, Schminksachen, Haarprodukte. Mit diesem Gepäck belagern sie die Schminktische in der Ecke und bald auch jeden verfügbaren Quadratzentimeter vor den Spiegeln. Manche ziehen sich in den verschlossenen Kabinen um, aus denen dann besorgniserregendes Rumpeln und Ächzen klingt. Die dünnen Wände beben, als ob jemand gegen sie gestolpert wäre – und das ist sie auch, die junge Frau, die nach einer Weile herauskommt, ausser Atem, das Gesicht gerötet von der Anstrengung, aus der Arbeitskleidung zu schlüpfen und sich in hautenge Plastikhosen zu zwängen. Als Nächstes probiert sie verschiedene Schuhe aus, humpelt auf einem flachen, lackglänzenden und einem hochhackigen, satinierten Modell vor dem Spiegel auf und ab. Freundinnen diskutieren ernsthaft Pro und Kontra, bis eine andere sich einmischt und den Platz vor dem Spiegel beansprucht. Sämtliche Steckdosen sind im Einsatz, mit elektrischem Gerät werden Haare geföhnt, geglättet oder gewellt, es riecht nach verbranntem Horn, nach Haarspray, nach Parfüm. Spraydosen wirbeln wie Waffen durch die Luft. In den Spiegeln werden Blicke getauscht, abwägende, abschätzende, auch bewundernde, es wird geflüstert und kommentiert. Es dauert ziemlich lange, bis ein Grüppchen von Frauen bereit ist. Dann schwingt in ihren Schritten die Gewissheit mit, dass sie alles getan haben, was möglich ist. Sie sind schön, die Welt liegt ihnen zu Füssen (flach oder hochhackig beschuht).
Unter Umständen bewegen auch sie sich nicht weiter als mit der Rolltreppe hinauf in die Bahnhofshalle. Die von Eisenfachwerkträgern überspannte Halle würde mit ihren Arkaden und Bogenfenstern monumental und feierlich wirken – wenn sie denn zur Geltung käme. Doch meist ist sie bis zum Platzen zugebaut. In den reich dekorierten Wandelgängen und Lichthöfen, Restaurants und Sälen ist immer etwas los. Ein Rockkonzert, eine Autoausstellung, ein Fondue-Wettessen, ein Beachvolleyballturnier oder der Christkindlmarkt. Im Gegensatz zu anderen Orten auf der Welt scheint das Oktoberfest hier monatelang zu gastieren – oder wer weiss, was hinter den weissen Planen des Festzeltes stattfindet, ich habe nie gewagt, sie zu lüften. Kleine Warnung am Rande: Wenn Sie einen Zug erwischen wollen, planen Sie sicherheitshalber zehn Minuten extra ein, um die Halle zu durchqueren. In den beiden schmalen Gängen, die bei solchen Veranstaltungen für den Fussgängerverkehr frei bleiben, kommt es unweigerlich zum Stau.
Über all dem Treiben wacht ungerührt der blaue »Engel mit-ohne Gesicht«, wie mein Sohn ihn nannte. Es ist »L’ange protecteur«, der Schutzengel von Niki de Saint Phalle, der natürlich ein Mädchen ist – nicht nur kleine Kinder erkennen das sofort am bunt bemalten Busen. Auf Amtsdeutsch wird die fliegende Statue deshalb holprig »Engelsfrau« genannt. Diese kann natürlich nicht wirklich fliegen, sondern hängt hoch oben in der Bahnhofshalle an drei Stahlseilen. Von da aus soll sie die Reisenden...