Was das Hirn braucht, um gesund zu bleiben
Was ist normales und was ist vorzeitiges Altern? Wenn man die Menschen fragt, wovor sie sich am meisten fürchten, dann antworten 84%, dass sie vor dem geistigen Verfall, der Abhängigkeit und Hilflosigkeit im Alter die größte Angst haben.
Nicht so sehr die physische Schwäche, sondern vielmehr der geistige Verfall bereitet ihnen Sorgen. Viele haben das Gefühl, der geistige Verfall sei unausweichlich und unaufhaltsam und man könne sich seinem Schicksal nur ergeben. Die Menschen haben keine Erfahrung damit, 90 und älter zu werden. Bis vor kurzer Zeit gab es nur wenige Hochbetagte und sie waren eine bestaunte Ausnahme. Finanziell waren sie keine Gefahr für die Gesellschaft. Doch wenn die zwischen 1946 und 1964 Geborenen im Jahr 2030 zwischen 65 und 85 Jahre alt sein werden, dann werden sie mehr als 20% der Bevölkerung in den reichen Ländern ausmachen. Sie müssen sich im Klaren sein, dass sie ein finanzielles Desaster für die Gesellschaft sein können, wenn sie 90 und 100 Jahre alt sind. Dass die Generation, die so lange lebt, die Weisheit und Einsicht haben wird, sich gesundheitlich so zu erhalten, dass der Generationenvertrag lebbar bleibt, wäre zu wünschen und ist mit unserem Erkenntnisstand auch machbar.
Sowohl für sich selbst als auch den Angehörigen zuliebe ist es notwendig, rechtzeitig für ein möglichst gesundes Altern Verantwortung zu übernehmen, vor allem deshalb, weil es möglich ist. 10% Gehirnverlust ist mit 80 Jahren normal, der zentrale Blutfluss im Hirn ist geringer, senile Plaques (Flecken) in den grauen Zellen und wellige Strukturen beruhen auf normalen Abbauprozessen und sind Teil des Altwerdens. Das ist bei der Haut genauso, Flecken und Falten gehören dazu, wichtig ist, dass die Haut eine gute Schutzschicht bildet und ihren Zweck erfüllt. Die Haut ist der Spiegel der Seele, das ist in diesem Zusammenhang ein stimmiges und gut eingefühltes Bild.
Selbst im schlimmsten Fall, wenn man krebskrank wird, eine schwere chronische Krankheit wie Multiple Sklerose oder Rheuma oder einen Unfall hat, bedeutet die Minimierung der Risikofaktoren immer, dass die Krankheit dann leichter und besser zu überstehen ist. Die Entscheidung, für sich Verantwortung zu übernehmen, heißt, den Körper zu pflegen, zu schützen, gut zu ernähren und den Kopf zu verwenden – für sich und um der eigenen sozialen Verantwortung gerecht zu werden.
Aber was unterscheidet den 90-jährigen Gesunden mit den erwähnten Plaques von dem Senilen, Unselbstständigen, der für sich nichts mehr tun kann? Nein, nicht die Gene, nein, nicht das Schicksal, die präventive Strategie bis 90 unterscheidet die beiden.
Selbstverständlich gibt es Krankheiten, die keine Wahl mehr lassen, die ihren Lauf nehmen und bei denen nur mehr liebevolle Pflege hilft. Wenn es allerdings um die zukünftigen Hochbetagten der Babyboom-Generation geht, ließen sich 50% der Demenzerkrankungen im hohen Alter durch entsprechende gezielte Vorbeugungsmaßnahmen verhindern.
Die neun Elemente der Gehirngesundheit
Das Gehirn wird mit dem Alter langsamer, zweifellos, aber es hat eine sehr hohe Neuroplastizität. Auch das alternde Gehirn kann sich neu modellieren und zerstörte Verbindungen und Nervenzellen ersetzen. Die Bereiche für Lernen und Gedächtnis können neu strukturiert werden, vorausgesetzt, der „alte Hund“ will einen „neuen Trick“ lernen. Wir haben viele Lernfelder: Sprache, Gedächtnis, Nachdenken, Abstrahieren, Entscheidungen treffen, Assoziationen pflegen, Neugier und Weisheit schulen. Sie alle lassen sich trainieren, vorausgesetzt, der Mensch, der über 90 werden will, will noch denken, fühlen, spüren.
Wer nicht daran glaubt, das Gehirn beeinflussen zu können, wird weniger Aufmerksamkeit darauf verwenden, es auch beeinflussen zu wollen. Ein Beispiel: Ein alternder Läufer, Bergsteiger, Wanderer wird beim Laufen, Gehen, Wandern langsamer werden: Soll er die Bemühung einstellen oder soll er in der Langsamkeit die Aufmerksamkeit für Mitgeschöpfe, Mitwanderer, die Umgebung und das Erlebnis steigern? Die Antwort ist wohl klar, selbstverständlich vertieft und erweitert sich mit der Verlangsamung das Erleben, weg von „schneller“ und „weiter“ zu tieferem Erleben, zu Dankbarkeit für den Augenblick und weisen Gedanken über das Laufen, Wandern und Bergsteigen. Es ist auch in Ordnung, langsamer zu lernen, es ist die Tiefe des Augenblicks, der einen das Leben bewusster genießen lässt.
Neun Elemente machen die Hirngesundheit aus: Sprache, Gedanken, Gedächtnis, erlernte Leistungen (z.B. schreiben, Schuhe zubinden, Knöpfe aufmachen, Haare flechten usw.), Auffassung, Urteilsfähigkeit, Aufmerksamkeit, die Beherrschung von Abläufen, die einmal erlernt wurden (z.B. Autofahren, ein Telefon bedienen, ein Gerät in Betrieb nehmen) und die Fähigkeit, einen Sinn im Leben zu finden. Diese neun Elemente müssen geschult werden, will man hirngesund bleiben.
Denkgesundheit und Gefühlsgesundheit
Die Denkgesundheit kann nie ohne die Gefühlsgesundheit existieren. Diese emotionale Gesundheit meint nicht die Abwesenheit einer psychischen Erkrankung, sondern die positive Gefühlsanpassung an die Realität, an das Leben, wie es fließt. Zur mentalen Fitness, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist, gehört die Fähigkeit, Gefühle zu regulieren. Hirngesund ist der, der in der Lage ist, die eigenen Gefühle zu erkennen, zu steuern, andere wahrzunehmen und konstruktiv mit Gefühlen umzugehen. Emotionale Belastbarkeit entwickeln, Gefühle aushalten können, weise und achtsam sein, das ist mindestens so wichtig wie das Gedächtnis zu trainieren. Wenn man die Wahl hat zwischen Kreuzworträtsel üben und anderen zuhören, sich in andere einfühlen und gemeinsam über Lösungen nachdenken, mit dem Ziel, sich zu engagieren, dann ist ganz klar: Kreuzworträtsel in die Ecke, raus zum menschlichen Engagement.
Man kann Unmut aushalten und Ärger verkraften lernen. Alle anzuraunzen, zu schimpfen, zu keifen und zu drohen, das ist mit Gefühlsanpassung nicht gemeint. Eine reife Persönlichkeit ist in der Lage, Widrigkeiten zu verkraften und darüber nachzudenken, was der eigene Anteil an dem Problem ist. Wer das kann, kommt damit auch besser zurecht. Hassen, die Ausländer verantwortlich machen und bessere Zeiten beschwören, das bringt nur Rechtsradikalität. Respekt und Wertschätzung ist gut fürs Hirn. Fremdenhass und Schuldzuweisung machen doof und lebensunlustig.
Eine der besten Übungen zur Gefühlsgesundheit ist die Jesuitenübung: Ein Alter hört einem Jungen zu, bei den Jesuiten war es der Prior, der dem Novizen zuhörte, und wiederholt, was der Junge gesagt hat. Am besten geht man gemeinsam in aller Ruhe eine Stunde in einem Kreuzgang oder als Normalsterblicher in einem Park spazieren, hörend und sorgfältig wiederholend, was der Junge sagt. Nach der Stunde weiß der Junge, was zu tun ist, und der Alte hat erfasst, worum es geht. Das Zuhören schärft den Verstand und das Sprechen die Geduld. So gibt es einen doppelten Gewinn. Weisheit bedeutet, Geduld zu haben, sich etwas beschreiben zu lassen, die eigene Beschränkung anzuerkennen und den kreativen Raum für beide zu schützen, die sich aufeinander einlassen. Die Übung heißt deshalb Jesuitenübung, weil es bei den Jesuiten Vorschrift war, vor allem zuzuhören und nichts hinzuzufügen, sondern erst einmal das Gesagte zu wiederholen, um zu begreifen, wo der andere steht. Diese Übung hat noch immer nicht genügend Eingang gefunden in Management, Bildung und Politik, Achtsamkeit für andere ist eine Übung, die wir noch nicht wirklich gelernt haben. Aber wir werden jetzt alt genug, um diese Übung zu begreifen und in unserem kreativen Umgang mit dem Leben zu trainieren.
Hirngesundheit und Körpergesundheit
Es gibt jetzt schon Hochbetagte, wenige, aber doch. Wer sind die 100-Jährigen, was haben sie gemeinsam? Sie sind keine Asketen, keine früheren Leistungssportler, sie sind gern unter Menschen, trinken bisweilen ein Glas Wein, haben meist in ihrem Leben keine Krankheiten gehabt und waren immer aktiv und körperlich in Maßen tätig, rauchen nicht und zeigen Engagement für vieles. Sie können über den Sinn des Lebens erzählen, zuhören und den Tag genießen, denn er kann und darf der letzte sein. Meist fürchten sie sich nicht vor dem Tod, sie sind bereit, jederzeit zu gehen.
Die Hirngesundheit kann nicht unabhängig von der körperlichen Gesundheit gesehen werden. Das Hirn ist gesund, wenn für den Körper vom Hals abwärts Sorge getragen wird.
Das heißt zuallererst tägliche Bewegung, Vermeidung von Bluthochdruck und hohen Blutfettwerten, erfolgreiche Kontrolle des Blutzuckers, auf keinen Fall rauchen bzw. so rasch wie möglich damit aufhören. Die Strategie muss ganz klar sein, Ausreden gelten nicht: Selbstverantwortung ist nicht delegierbar. Sonst bekommt man im Alter die Rechnung für mangelnde Verantwortung in früheren Jahren serviert. Bluthochdruck und Altersdiabetes sind eine Frage des Lebensstils, genauso wie das Gewicht und der Body-Mass-Index sowie die emotionale Achtsamkeit.
Wir werden zu alt, um uns einfach dem intensiven Nichtstun zu widmen. Wir werden zu siech und zu doof, um uns in diesem Zustand anderen zu überantworten, wir müssen damit rechnen, dass wir der Familie und der Gesellschaft nicht zumutbar sind, wenn wir nicht rechtzeitig selbst Verantwortung für uns übernehmen.
Strategien wider die Senilität und Abhängigkeit, die einem denkenden und fühlenden Menschen zumutbar sind, allerdings auch Anstrengungsbereitschaft und Autonomie verlangen, sind erlernbar. Im Folgenden eine Übersicht über die Elemente, die dazugehören, detailliertere Informationen dazu finden sich dann in den weiteren Kapiteln dieses...