BRUCHSTÜCK 01:
DIE WANDELNDE KATASTROPHE
Schau nicht so blöd«, sage ich vorwurfsvoll zu dem blassen, unrasierten Typen, der mir aus meinem kleinen, staubigen Badezimmerspiegel entgegenblickt. »Ich habe mir das alles auch anders vorgestellt.«
Glaub mir, das habe ich wirklich.
Jeder von uns kommt irgendwann an einen bestimmten Punkt in seinem Dasein, an dem man feststellt, dass alle um einen herum das Leben kräftig bei den Hörnern packen. Sie heiraten, werden schwanger, bekommen Kinder, beenden erfolgreich ihr Studium, kaufen sich neue Autos, gehen gut bezahlten Jobs nach, machen sich selbstständig, ziehen mit ihren Partnern zusammen, bauen ein Haus oder kaufen eine Wohnung. Dann beginnt man unweigerlich damit, seine eigene Situation mit der der Anderen zu vergleichen und zieht seine Schlüsse. Ich habe mir mehrfach sagen lassen, dass es normal sei, sich mit anderen zu vergleichen.
Ist es nicht. Es ist auch nicht hilfreich. Schon gar nicht, wenn man sowieso dazu neigt, sich in dunklen Gedankenstrudeln zu verlieren, und glaubt zu wissen, dass man im Leben bisher nicht viel erreicht hat.
An genau diesem Punkt stand ich kürzlich.
Mir fiel auf, was in den Leben meiner Mitmenschen so vor sich geht. Was einem, dank der heutigen Landschaft aus sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, Instagram oder Snapchat besonders leicht gemacht wird. Ich für meinen Teil kann nicht gerade behaupten, dass ich das Leben bei den Hörnern packe.
Bei mir läuft das alles irgendwie schon immer etwas anders.
So lebe ich Tag für Tag vor mich hin, und frage mich ernsthaft, was bei mir falsch läuft.
Ich bin mittlerweile einunddreißig Jahre alt und habe vor knapp vier Monaten meine Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten, kurz »Sofa«, beendet. »Besser spät als nie«, sagt der Volksmund.
»Spät ist aber trotzdem scheiße«, entgegne ich.
Ansonsten befinde ich mich momentan mitten in einer Privatinsolvenz und habe auch keine wirklichen Ersparnisse, die mich vor größeren Ausgaben auffangen könnten. Mein Sohn, den ich kaum sehe, lebt am anderen Ende von Deutschland.
Der Großteil meiner Familie ist mittlerweile verstorben. Ich wohne mit meinen beiden Katzen in einer kleinen, bescheidenen Zwei-Zimmer-Mietwohnung in einem verschlafenen Städtchen mit etwa 13.000 Einwohnern im Schwarzwald. Ich fahre einen achtzehn Jahre alten Opel Corsa und ich bin seit knapp drei Jahren in einer Fernbeziehung, die, bedingt durch meine Arbeit und das Studium meiner Freundin, hauptsächlich durch Entfernung als durch Nähe glänzt.
Jepp. Als Außenstehender würde ich mich definitiv als Versager auf ganzer Linie betiteln. Was den anderen leicht von der Hand geht, geht bei mir zu Bruch oder läuft nur unter erschwerten Bedingungen einigermaßen geradeaus.
Und da dies alles noch nicht genug zu sein scheint, habe ich auch noch Depressionen. Aber nicht nur eine einfache depressive Episode, wie es statistisch gesehen jeder vierte Mensch in seinem Leben einmal durchmachen muss.
Nein, ich habe chronische Depressionen. Der Fachbegriff hierfür lautet »Dysthymie«.
Na, das ist doch mal was! Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?
So etwas sucht man sich nicht aus. Man bekommt es, ob man es will oder nicht. Einfach, weil die Depression es kann.
Genau genommen bestand mein Leben eigentlich schon immer aus einer Aneinanderreihung von kleinen bis mittelschweren Turbulenzen.
Manche meiner Freunde sagen, ich sei eine wandelnde Katastrophe. Aber so bin ich eben. Ein erfolgloser, aufbrausender, zynischer Pechvogel, mit dem Herzen meist am rechten Fleck. Dies habe ich bereits vor Jahren akzeptiert.
Vor meiner Ausbildung bei einer namhaften Krankenkasse fand ich mich in vielen verschiedenen Jobs wieder. Ich arbeitete im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres in einem Altenheim mit angeschlossener Sozialstation, als Fabrikarbeiter, Lokaljournalist, Verkäufer, Piercer, Hausaufgabenbetreuer und so weiter.
Ich war, mehr oder weniger, auf der Suche nach mir selbst. Gefunden habe ich mich allerdings bis heute nicht wirklich.
Vor elf Jahren begann ich bereits eine Ausbildung zum Fachinformatiker, musste diese aber aufgrund meiner ersten richtigen Depression, gepaart mit Reibereien mit dem neuen, hochmotivierten Vorgesetzten und der Tatsache, dass ich plötzlich mit zwanzig Jahren Vater werden sollte, abbrechen. Mittlerweile ist mein Sohn zehn und wird bald elf Jahre alt.
»Wie die Zeit vergeht …«
Das sagt man immer so salopp daher, aber es stimmt. Die Zeit rast unaufhaltsam und sie hält nicht an. In keinem Moment. Schon gar nicht für dich, wenn du es am dringendsten brauchst. Damals erkannte ich die Depression nicht als solche.
Es war für mich einfach eine scheiß Zeit, in der zu viele Dinge schief gelaufen sind.
Natürlich gab ich mir selbst die Schuld an allem, denn dies ist ein eindeutiges Symptom der Depression. Das Biest stellt sich nicht vor und sagt »Hallo, ich bin die Depression.« Nein, sie tarnt sich verdammt gut und will so lange wie möglich unerkannt bleiben. Was sie auch schafft.
Depressionen sind wie Krebs. Man denkt, es trifft immer nur die Anderen. Bis man selbst Erfahrungen damit macht. Sei es persönlich oder als Angehöriger. Scheißegal. Wenn Du mit Depressionen an einem Tisch sitzen musst, verändern sie Dich. Sie verändern radikal Deine Sicht auf die Welt, auf das Leben und auf Dich selbst.
Man findet letztendlich immer Möglichkeiten und Situationen, die man sich selbst vorwerfen kann. Dass dies an einer ernst zu nehmenden Krankheit liegt, fiel lange Zeit erst einmal niemandem auf. Schon gar nicht mir selbst, denn ich wollte davon schließlich auch nichts wissen.
In der Schulzeit habe ich mich nie für Hausaufgaben interessiert. Ich brachte aber, außer in Mathe, Chemie und Physik, oft annehmbare Noten nach Hause. Streng genommen war ich stinkfaul, weshalb es mir bis heute nie zum Abitur oder zu einem Studium, sondern nur zu einem unterdurchschnittlichen Realschulabschluss gereicht hat. Nicht weil ich dumm, sondern weil ich faul war.
Das haben mir alle meine Lehrer, durch die Bank, Jahr für Jahr bestätigt und mir ans Herz gelegt, ich solle doch meinen bequemen Arsch endlich mal hochkriegen.
Doch mir war das herzlich egal. Ich war damals sogar zu faul, mir Ausreden für die fehlenden Hausaufgaben einfallen zu lassen. Das kann auch nicht jeder. Heute könnte ich mir dafür selbst in den Allerwertesten beißen, dass ich mich nicht mehr bemüht habe, ein besserer Schüler zu sein.
Meine Interessen lagen eher im Leistungsturnen und Inline Skaten. Nicht etwa in dieser langweiligen Streckenrollerei in lächerlich quietschbunten, hautengen Outfits. Mein Herzblut hing an Halfpipes, Miniramps, Rails und Street-Parcours. Skaten konnte ich ziemlich gut und so verbrachte ich den Großteil meiner Kindheit und Jugend mit meinen Freunden an unserem städtischen Skatepark.
Wir stürzten uns von Hindernissen, versuchten uns an waghalsigen Tricks, applaudierten, wenn diese gelangen und zogen uns gegenseitig auf, wenn der Trick schiefging.
Wir hatten unsere feste Clique und erfreuten uns unserer Jugend. Wir rauchten, um cool zu sein, tranken Bier und Alkopops, die damals total angesagt waren und amüsierten uns auf typischen Jugendpartys in verstaubten Partykellern.
Zugegeben, man kann seine Kindheit deutlich schlechter verbringen, wenn man von Zigaretten und Alkohol absieht.
Vor dieser Zeit, im zarten Kindesalter, war ich mit meinen Eltern viel in den örtlichen Kneipen und auf Dorffesten unterwegs, da der Freundeskreis meiner Eltern und auch die nebenberuflichen Wege meiner Mutter hier zusammenkamen. Als kleiner Stöpsel fand ich die Tatsache, manche Abende nur mit Erwachsenen zu verbringen, ziemlich cool. Ich hatte viel mehr Freiheiten als meine gleichaltrigen Freunde. Ich ging aus, ich durfte später ins Bett und saß mit den Erwachsenen bis spätabends in den Wirtshäusern der Stadt.
Rückwirkend betrachtet war dies natürlich alles andere als cool. Eine verrauchte Kneipe ist nicht gerade das Ambiente, in welchem ein kleines Kind seine Kindheit verbringen sollte. Aber es hat mir nicht sonderlich geschadet, so viel kann ich heute sagen. Die Kneipengänge hatten schließlich auch Vorteile.
Ich lernte beispielsweise früh mit Menschen umzugehen, die auch mal etwas schwieriger sein konnten. Heute würde ich sagen, sie waren besoffen und hatten sich nicht immer im Griff.
Ich war stets höflich, wofür meine Eltern auch außerhalb dieser Kreise häufig gelobt wurden. Ich war ein fröhliches, aufgewecktes Kind und hatte immer etwas zum Spielen und zu Essen. Es hat mir nie an etwas gemangelt.
Meine Eltern brachten mir bereits mit vier Jahren das Lesen, Schreiben und etwas Englisch bei, was mir in der Schule sehr zugutekam.
Sie liebten mich, wie Eltern ihre Kinder lieben sollten. Ich bin meinen Eltern heute unendlich und von ganzem Herzen dankbar, dass sie alles dafür getan haben, dass es mir gut geht und ich immer alles hatte, was ich brauchte.
Viele Bücher, die ich gelesen habe, die sich mit der Thematik »Depression« beschäftigen, hatten häufig zwei Dinge gemeinsam. Die Tatsache, dass eine schlechte Kindheit frühe Schäden anrichtete und dass die betroffenen Personen immer anfingen zu saufen oder Drogen zu nehmen.
Vielleicht kenne ich gerade aus meiner Kindheit zu viele schlechte Beispiele für Alkoholismus, sodass mir in meiner Depression wenigstens die Sauferei größtenteils erspart geblieben ist. Auch mit Drogen habe und hatte ich, dank des erzieherischen Nachdrucks meines Vaters und schlechter Beispiele im Bekanntenkreis, zum Glück noch nie...