2 Wie das Leiden an der Angst entsteht
Wir möchten von drei Menschen erzählen, die vor Angst kaum noch ihre Wohnung verlassen haben. Ihre gegenwärtige Angst ist nicht in einer konkreten Situation entstanden und hat sich nicht in konkretes Handeln auflösen oder verwandeln können. Sie wurde vielmehr zu einer stetigen oder periodisch wiederkehrenden Angst, unter der sie litten und die sie in ihren Lebensmöglichkeiten stark einschränkte. Solche dauerhaften oder wiederkehrenden Ängste bringen KlientInnen häufig als Thema in die Therapie mit. Sie hoffen, sich von ihnen befreien zu können.
Um erste Schritte in diese Richtung zu gehen, um die unterschiedlichen Wege der Veränderung einschlagen zu können, müssen KlientInnen und TherapeutInnen gemeinsam auf die Suche gehen: die Suche nach einem Verständnis dafür, wie das Leiden an der Angst entstanden ist, welche Geschichte das Angstleiden hat und aus welchen Quellen die Angst gespeist wird.
Ein Mann verließ kaum noch seine Wohnung. Wenn man ihn fragte, warum das so sei, antwortete er zunächst einmal gar nicht. Als man beharrlich blieb und sein Vertrauen gewonnen hatte, erzählte er, dass er Angst habe. Die Frage »Wovor haben sie Angst?« half nicht weiter. Die Angst lag im Nebel, war verschwommen und diffus.
In der Therapiestunde erwähnte der Klient eher beiläufig, dass er im Winter häufiger die Wohnung verlasse als im Sommer. Auf die verwunderte Nachfrage, womit das denn zusammenhänge, erklärte er: »Im Winter ist es morgens länger und abends früher dunkel.« Auch das erstaunte, denn viele angstvolle Menschen meiden eher das Dunkel. Seine Erklärung führte zu einer ersten Konkretisierung seiner Ängste: »Wenn es dunkel ist, sehen mich die Leute nicht. Wenn es hell ist, sehen sie mich. Und dann reden sie über mich, und es fällt ihnen alles Mögliche auf, was an mir nicht stimmt und komisch ist. Und dann tuscheln sie und ziehen über mich her.« Die Angst davor, lächerlich gemacht und beschämt zu werden, war eine erste Spur auf dem Weg der Konkretisierung, auf dem es gelang, die allumfassende Gewalt der Angst zu brechen. In konkreten Ängsten kann ein Mensch konkretes Verhalten entwickeln und die nebulöse Angst erstickt.
Davon können viele Menschen ein (Klage-)Lied singen. Sie haben Angst und wissen nicht, wovor. Wenn sie lange genug nachdenken oder wenn sie den Fernseher einschalten und Nachrichten schauen, finden sie vielleicht Ansatzpunkte für Bedrohungen. Jeder Krimi, jede Tagesschau bieten Stoff für Fantasien, wie einem der Himmel über dem Kopf zusammenbrechen kann. Doch eigentlich wissen diese Menschen nicht, wovor sie Angst haben oder woraus ihre Angst entspringt. Sie ist einfach da. Manchmal wird sie so erlebt, als käme sie »von außen« oder läge »in der Atmosphäre«. Die diffuse Angst hat eine gefährliche Eigenschaft: Sie wird zur Stimmung, die den ganzen Menschen in all seinem Erleben erfassen und bestimmen kann. Die Angst im Nebel wird immer größer; die Angst, die im Dunkeln liegt, wächst – und das maßlos.
Eine Klientin, eine arbeitslose Frau Mitte 50, konnte ebenso wie der Klient ihre Wohnung kaum verlassen, doch war ihre Angst eine andere. Fast immer, wenn sie die Wohnung verlassen wollte, bekam sie Angst, sie hätte den Herd nicht abgestellt. Sie ging zurück, überprüfte den Herd, ging wieder zur Tür – und nun »überfiel« sie die Angst davor, das Licht, eine Kerze, den Fernseher, das Bügeleisen angelassen zu haben, die Angst, dass dies zu einer Katastrophe führen könnte. Auch wenn es ihr gelang, nach wiederholten Kontrollen die Wohnung zu verlassen, kam sie gerade bis zum kleinen Laden zwei Straßenecken weiter, bis die Angst sie wieder einholte und sie zurückeilen musste. Die Klientin wusste vom Kopf her, dass ihr Verhalten »unvernünftig« war, dass ihre Angst konkret unbegründet war – und doch kehrte die Angst, gespeist aus unsichtbaren Quellen, immer wieder. Offenkundig reagierte die Klientin so, als wäre das Verlassen der Wohnung gleichbedeutend mit der Bedrohung durch einen Säbelzahntiger. Aber was war für diese Frau säbelzahntigerhaft? Ihr blieb es verborgen und sie begab sich in der Therapie auf die Suche.
Allmählich stellte sich heraus, dass ihre Angst um das Thema Kontrolle bzw. Kontrollverlust kreiste. Ihr Vater war in der Zeit ihrer Kindheit Alkoholiker. Immer wieder wechselten aggressive Ausbrüche mit Phasen weinerlichen Selbstmitleids ab. Die Klientin lebte als Kind mit ihrer Mutter in einer Atmosphäre ständiger Bedrohung. Der Vater, sein Alkoholismus, seine Wutausbrüche und Gewaltdrohungen waren ihr Säbelzahntiger. Ganz gleich, ob der Vater tobend aus der Kneipe kam und mit Stühlen um sich warf oder weinend am Küchentisch saß und sich vorwarf, ein Versager zu sein, immer fürchtete und verachtete sie ihren Vater für dessen Kontrollverlust. Wütend war sie auf ihn und – worüber sie überrascht war – sie liebte ihn auch. Doch das vorherrschende Gefühl war und blieb die Verachtung für seinen Kontrollverlust. Gleichzeitig wurden für das Kind Selbstbeherrschung und Kontrolle ein hohes Gut. In der Atmosphäre, in der sie aufwuchs, konnte sie sich ihrem Erleben nach »nicht gehenlassen«. Sie musste »auf der Hut« sein, um nicht unterzugehen. So überlebte sie und behielt ihr Leben unter Kontrolle. Sie fand einen Mann, der ihr Kontrollbestreben teilte, bekam ein Kind, baute ein Haus, organisierte ihr Leben wie ihren Haushalt: nahezu perfekt. Einen kleinen »Ausrutscher« gab es, ihre Liebe zur Kunst. Sie wurde erst passives, dann aktives Mitglied in einem Kunstverein, besuchte Ausstellungen und bekam losen Kontakt mit Künstlerinnen und Künstlern. Im Nachhinein kam es ihr vor, als hätte sie unbewusst eine Verbindung zu einem nicht kontrollierbaren Lebensbereich gesucht.
Dann plötzlich brach ihr Lebensplan und damit die Strategie, mit der sie ihr Leben bis dahin gemeistert hatte, zusammen. Ihr Sohn zog aus und kurze Zeit später ihr Mann. Sie musste das Haus aufgeben. Sie hatte die Kontrolle über ihre Lebenswelt verloren, der Säbelzahntiger schlug zu. Zuerst wurde sie krank. Nach der körperlichen Genesung entstanden ihre Ängste, die wir oben beschrieben haben – ein verzweifelter Versuch, die Kontrolle, die ihr längst entglitten war, wiederzugewinnen. Dass ihre Angst immer dann explodierte, wenn sie die Wohnung verlassen wollte, hatte noch einen weiteren biografischen Hintergrund. Immer wenn sie als Kind die Wohnung verließ, hatte sie schreckliche Angst, was der Vater ihrer Mutter antun könnte. Wenn ihre Mutter die Wohnung verließ, fürchtete sie, selbst den Attacken des Vaters ausgesetzt zu sein. Die Wohnung zu verlassen war für sie in jedem Fall ein Horrortrip. Kein Wunder, dass der Säbelzahntiger immer gerade an der Schwelle des Verlassens der Wohnung zu brüllen begann.
Das Verhalten dieser Klientin wird oft als zwanghaft klassifiziert. Sein emotionaler Kern ist die Angst. Die Angst vor einer Bedrohung führt zu dem zwanghaften Verhalten, nicht umgekehrt.
Gemeinsam mit dem anfangs erwähnten Klienten hat die Frau, dass die Angst sich von ihrem Ursprung gelöst hat und mal hierhin und mal dorthin galoppiert. Sie ist zu einer galoppierenden Angst geworden.
Beide KlientInnen, von denen wir berichtet haben, litten in besonders starker Weise unter ihrer Angst. Bei vielen anderen Menschen ist diese Angst nicht so ausgeprägt, sind die Folgen nicht so gravierend. Und doch gibt es ähnliche Erfahrungen. Vielen Menschen ist die Angst nebulös geworden und hat sich vom konkreten Anlass gelöst. Bei vielen beginnt der Säbelzahntiger zu brüllen, scheinbar ohne gewichtigen Anlass, oft Jahre oder Jahrzehnte, nachdem er dem Menschen zum ersten Mal begegnete. Für all diese Menschen kann es notwendig sein, auf die Suche nach den persönlichen Quellen der Angst, nach dem individuellen Säbelzahntiger, zu gehen, um die Angst zu konkretisieren und individuelle Wege aus diesem Gefühl zu finden.
Dass wir Menschen unsere Ängste von ihrem konkreten Ursprung lösen können, dass sie uns dann erst viel später leiden lassen, hat die Forschung erwiesen. Eine Untersuchung des American Journal of Psychiatry über Veteranen des Zweiten Weltkrieges ergab, dass viele von dem Albtraum bis zu dreißig Jahre später wieder eingeholt wurden. Im Vietnamkrieg wurden sechzigtausend US-amerikanische Soldaten getötet. Fast ebenso viele, schätzungsweise fünfzigtausend Überlebende, begingen Jahre nach dem Krieg Selbstmord, fielen zumindest u.a. ihrer Angst zum Opfer (Die Zeit 17.9.2001, S.15).
Man spricht hier zumeist von der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die infolge eines traumatischen Erlebens (Krieg, Terroranschläge, Unfälle, Vergewaltigungen und sonstige Katastrophen) auftreten kann. Das Besondere des traumatischen Stresses besteht darin, dass zwischen dem stressauslösenden Ereignis und der Möglichkeit, es zu bewältigen, ein Abgrund klafft. Wenn Menschen nicht kämpfen, nicht fliehen und sich nicht verstecken können, dann können (nicht müssen!) Folgen verschiedener Art entstehen: Zwangserinnerungen (die Gedanken kreisen immer wieder um das Ereignis, die Bilder gehen nicht weg), Vermeidungsverhalten (Orte, Handlungen und Dinge, die mit dem Traumaauslöser zusammenhängen, werden gemieden), eine hohe Dauererregung und Reizbarkeit. Auch in den biochemischen Vorgängen im Gehirn kann das Trauma bzw. die Überforderung in der Traumabewältigung messbare Folgen haben.
Damit sind wir bei dem dritten Beispiel, wieder einem Klienten. Bei einem Autounfall war er selbst schwer verletzt worden, seine Frau starb. Körperlich einigermaßen wiederhergestellt, litt er unter ständig wiederkehrenden Bildern des Unfalls. Schlaflos tigerte er nachts auf und ab. Seine Wohnung lag an einer verkehrsreichen Straße in der Stadt. Das Geräusch jedes...