Schlafen
PHYSIOLOGIE Während wir selig schlummern, arbeitet das Gehirn munter weiter. Zum Glück: So hilft es uns, die geistigen Anforderungen des Alltags zu meistern.
Gute Nacht!
VON ROBERT STICKGOLD
UNSER EXPERTE
Robert Stickgold ist Direktor des Center for Sleep and Cognition am Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston (USA) und lehrt als Professor an der Harvard Medical School.
Auf einen Blick:
Wertvolle Nachtruhe
1 Bereits ein bis zwei Tage zu wenig Schlaf beeinträchtigen das Immun- und Hormonsystem sowie die geistige Leistungsfähigkeit.
2 Über Nacht integriert und analysiert das Gehirn die Erfahrungen des Tages. Das ermöglicht uns Einsicht in Zusammenhänge, die uns zuvor verborgen blieben.
3 Da relevante Gedächtnisinhalte im Schlaf stabilisiert und sogar verstärkt werden, sollte man Lernstoff nicht erst am Tag der Prüfung verinnerlichen.
Muss ich denn unbedingt schlafen?«, wollen die Zuhörer auf meinen Vortragsreisen fast immer von mir wissen. Und regelmäßig antworte ich: Natürlich, jeder muss das. Schlaf ist ein körperliches Bedürfnis, genau wie Hunger, Durst oder die Lust auf Sex. Dennoch stellt sich die Frage: Warum hat es die Natur so eingerichtet, dass der Mensch gut ein Drittel seiner Lebenszeit in einer Art Bewusstlosigkeit verbringt? Über die Antwort zerbrechen sich Wissenschaftler schon lange den Kopf. Angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit schrieb der Pionier der Schlafforschung Allan Rechtschaffen 1978: »Sollte der Schlaf keine grundlegende lebenserhaltende Funktion haben, so wäre er der weitaus größte Irrtum der Evolution.« Ähnlich trocken kommentierte der Schlafforscher Allan Hobson von der Harvard Medical School noch in den 1990er Jahren den Wissensstand: Die einzig erwiesene Aufgabe des Schlafs sei bisher die, unsere Schläfrigkeit zu kurieren.
Nach weiteren 20 Jahren Forschung lässt sich die Frage heute zumindest teilweise beantworten. Die wichtigste Erkenntnis: Schlaf dient nicht einem einzigen Zweck. Er optimiert eine Vielzahl biologischer Abläufe – begonnen beim Immunsystem über das hormonelle Gleichgewicht, die emotionale und psychische Gesundheit, Lernen und Gedächtnis bis hin zur »Entgiftung« des Gehirns (siehe auch S. 18). Keines der Systeme setzt bei fehlender Nachtruhe komplett aus. Dennoch hat ein monatelanger Schlafentzug fatale Folgen.
Einen exakten Beweis für die überlebenswichtige Funktion des Schlafens erbrachte 1989 Carol Everson, eine damalige Mitarbeiterin von Rechtschaffen, heute am Medical College of Wisconsin: Als sie Ratten den Schlaf verwehrte, ereilte diese binnen eines Monats der Tod. Tatsächlich genügte es bereits, die Tiere daran zu hindern, in die so genannte REM-Phase (siehe »Kurz erklärt«, links) des Schlafs einzutreten. Aber woran die Nager nun genau starben, weiß nach wie vor niemand. Bisher gelang es nur, mögliche Ursachen auszuschließen: Es liegt nicht an vermehrtem Stress, einem exzessiven Energieverbrauch und auch nicht an einer Funktionsstörung der inneren Wärmeregulation oder des Immunsystems.
Einen Tod durch pathologischen Schlafmangel beobachtet man – ganz selten – auch beim Menschen. Vor etwa 30 Jahren wurde zum ersten Mal die »tödliche familiäre Schlaflosigkeit« beschrieben, eine Erbkrankheit, die, wie der Name schon sagt, zunächst zu fortschreitendem Schlafmangel und schließlich zum Tod führt. An der Lehrklinik der Universität Bologna berichtete damals ein italienisches Forscherteam um Elio Lugaresi und Rossella Medori von einem 53-jährigen Mann, der innerhalb weniger Monate an unheilbarer Schlaflosigkeit starb, wie bereits viele seiner Verwandten der letzten zwei Generationen vor ihm. Die Obduktion seines Gehirns offenbarte einen massiven Schwund an Nervenzellen in zwei Regionen des Thalamus, einer etwa walnussgroßen Struktur im Zwischenhirn. Die beiden fraglichen Areale sind bekannt für ihre Rolle beim Speichern emotionaler Gedächtnisinhalte und beim Aufbau so genannter Schlafspindeln – ein bestimmtes Wellenmuster, das im Elektroenzephalogramm des schlafenden Gehirns zu beobachten ist (siehe Grafik unten).
Schlaflos durch Prionen
Doch wie führt die Rückbildung im Thalamus zu Schlaflosigkeit oder gar zum Tod? Klar ist bisher lediglich die direkte Ursache des neuronalen Abbaus. In den frühen 1990er Jahren erkannte ein Team um Medori, dass ein deformiertes Protein, ein Prion, für den beschriebenen Zerfall verantwortlich ist. Solche gesundheitsschädlichen Prionen kennt man zum Beispiel von Scrapie (der Traberkrankheit) bei Schafen oder der Rinderseuche BSE. Allerdings wird das Prion der tödlichen familiären Schlaflosigkeit genetisch von Generation zu Generation vererbt und nicht etwa über die Nahrung übertragen.
Einmal abgesehen von solchen Extremfällen wie monatelanger Schlaflosigkeit hat man inzwischen aber auch erkannt, welche negativen Auswirkungen bereits eine einzige teilweise oder komplett durchwachte Nacht auf die kognitive Leistungsfähigkeit sowie verschiedene Körperfunktionen hat. Da wäre zunächst einmal die Immunabwehr: In einem Experiment aus dem Jahr 2003 bekam eine kleine Gruppe von Studenten am Morgen eine Impfung gegen Hepatitis A. Der einen Hälfte der Probanden erlaubten die Forscher, normal zu schlafen, die andere wurde die ganze nächste Nacht wach gehalten und musste sogar bis zum folgenden Abend ohne Schlaf auskommen. Vier Wochen später nahmen die Forscher Blutproben und erfassten die Menge an schützenden Antikörpern, die das Immunsystem als Antwort auf die Impfung produziert hatte. Ergebnis: Die Kontrollpersonen hatten knapp doppelt so viele Antikörper gebildet wie jene, die nicht geschlafen hatten.
In einer zweiten Studie bekamen Erwachsene eine Dreifach-Impfung gegen Hepatitis B, verteilt über sechs Monate. Die Forscher gaben nach dem Pikser jedem Versuchsteilnehmer einen Bewegungsmelder mit, den sie für eine Woche am Handgelenk trugen. Dann korrelierten sie die anhand der Aufzeichnung ermittelte durchschnittliche Schlafdauer in der Woche nach der ersten Impfung mit dem Antikörperlevel nach der zweiten Impfung: Mit jeder zusätzlichen Stunde Schlaf stieg die Menge an Antikörpern um 56 Prozent. Mehr noch: Ein halbes Jahr später waren Probanden, die nach der ersten Impfung weniger als sechs Stunden geschlafen hatten, siebenmal häufiger nicht ausreichend immunisiert!
Auch der Hormonhaushalt reagiert äußerst empfindlich auf Schlafmangel. Eindrucksvolle Hinweise darauf liefert eine Forschungsreihe von Karine Spiegel und Eve Van Cauter an der University of Chicago. Elf gesunde junge Männer durften fünf Tage lang nur vier Stunden pro Nacht schlafen. Dabei verringerte sich ihre Fähigkeit, Glukose aus dem Blut abzubauen, um 40 Prozent. In einer anderen Studie mit einer Schlafeinschränkung an nur zwei Tagen stieg die Menge an Ghrelin, einem appetitanregenden Hormon, um 28 Prozent an. Gleichzeitig sank umgekehrt der Spiegel an Leptin, einem hungerdämpfenden Hormon, und die Teilnehmer berichteten, mehr Hunger zu haben. Diese physiologischen Tests weisen darauf hin, dass zu wenig Schlaf zu einer Gewichtszunahme führen kann, ein Zusammenhang, der mittlerweile von gut 50 anderen Studien gestützt wird.
Am stärksten aber beeinflusst Schlaf wahrscheinlich das Gehirn. 2006 untersuchten Matthew Walker von der University of California in Berkeley und ich, wie sich eine einzige durchwachte Nacht auf das Erinnern emotionaler Gedächtnisinhalte auswirkt. Wir zeigten 26 Freiwilligen, von denen die Hälfte die Nacht zuvor nicht geschlafen hatte, positiv besetzte, negativ besetzte und neutrale Wörter (etwa »Ruhe«, »Kummer« oder »Weide«). Nach zwei normalen Nächten überprüften wir unangekündigt, was die Teilnehmer behalten hatten.
Im Vergleich zur Kontrollgruppe schnitten die Probanden mit Schlafentzug um insgesamt 40 Prozent schlechter ab. Interessanterweise hing der Effekt davon ab, zu welcher Wortkategorie die gelernten Begriffe zählten: Die Versuchsteilnehmer mit zu wenig Schlaf erinnerten sich an die positiven und neutralen Wörter nur halb so gut, an solche mit negativer Konnotation hingegen nur um 20 Prozent schlechter.
Somit ist zu befürchten, dass ein an Schlafmangel leidender Mensch negative Ereignisse deutlich besser im Gedächtnis behält als positive. Passend dazu kommen zahlreiche Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass zu wenig Schlaf unter bestimmten Umständen zu Depressionen führt und zu anderen psychischen Erkrankungen beitragen kann.
Wir wissen noch nicht genau, durch welche physiologischen Mechanismen guter Schlaf den Geist stärkt. Forscher vermuten jedoch, dass es viel damit zu tun hat, wie das Gehirn das tagsüber Erlebte nachts in Erinnerungen umwandelt. Mehrere Studien zeigten: Im Schlaf werden die neuen Erinnerungsinhalte stabilisiert, verstärkt, integriert und analysiert. Er steuert somit, woran wir uns erinnern, und auch, in welcher Weise wir das tun.
Die Evolution einer Erinnerung
Wie lässt sich das erklären? Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert glaubten...