10. September 1995.
Der Unfall
Ein herrlicher Tag. Ein herrlicher Sonntag. Es ist der 10. September 1995. Viel Sonne. Viel unternommen. Viel Spaß gehabt. Dann die Heimfahrt. Spätabends. Zu viert im Auto. Kurz das Fenster geöffnet. Fahrtwind. Frische. Freiheit. Im Autoradio läuft »What’s up« von den »4 Non Blondes«. »What’s going on?«, schreit die Sängerin mit ihrer rauen, kräftigen Stimme aus den Lautsprechern. »Was ist jetzt los?«, wundere ich mich still, denn zum Schreien komme ich nicht mehr, als das Auto in dieser immer enger werdenden Kurve plötzlich wild zu taumeln beginnt, unter lautem Getöse Sträucher und Bäume niederwalzt, über die Böschung hinunterkracht und nach einem gewaltigen Salto als Totalschaden auf dem eingedrückten Dach liegen bleibt. Und dann schreie ich auch nicht, sondern denke nur: »Scheiße.«
Dass nicht nur das Auto ein Wrack ist, das weiß ich in der Sekunde. Die Herrlichkeit ist vorbei. Und der Spaß sowieso. Das ist mir schlagartig klar. Zu meiner eigenen Verwunderung verfüge ich noch über einen halbwegs hellen Verstand. Selbst hier im Dunkeln. Und ich bin bei vollem Bewusstsein. Zumindest noch. Es ist irgendwann vor Mitternacht und ich sitze nicht mehr als Passagier auf einer Autorückbank, sondern liege neben einer völlig zerquetschten und zerfetzten Karre, die gerade zischend ihr Leben aushaucht. Ich liege auf dem Rücken. Auf einer schwarzen Wiese. In einem schwarzen Wald. Ich liege auf dem Rücken, aber ich habe das Gefühl, dass nur mein Kopf im Gras liegt. Den Rest meines Körpers spüre ich nicht mehr. Der fliegt irgendwo herum. Der hat sich verabschiedet, ohne mir Bescheid zu geben, wann, oder ob er überhaupt daran denkt, jemals wieder zu mir zurückzukehren. Ich blicke in den Nachthimmel hinauf und schließe für ein kurzes »Das ist aber jetzt nicht wahr, oder?« die Augen. Und für einen noch kürzeren Moment bin ich froh darüber, dass ich die ewige Mahnung meiner vorausdenkenden Oma befolgt und das Haus in sauberer Unterwäsche verlassen habe. Man kann ja nie wissen, sagt die Oma. Immer saubere Unterwäsche! Geht ganz schnell, fällst du nieder, brichst dir einen müden Knochen, und schon musst du dich obendrein auch noch vor dem Herrn Doktor in Grund und Boden genieren! Also gut. Jedenfalls darüber muss ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich kann mich auf das Wesentliche konzentrieren. So schnell kann das gehen, sagt die Oma. Und zugegeben, es ist ja auch wirklich schnell gegangen. Jetzt grad. So schnell konnte ich gar nicht schauen und auch nicht schreien. Ein Kracher, und schon liege ich hier auf dieser Wiese. Und schon braut sich in meinem Gehirn etwas zusammen. Etwas Gröberes. Etwas Ungutes. Gabi hat mich nämlich gezwickt. So richtig gezwickt. Ordentlich. Nicht bloß so mit halbem Herzen. In die Beine hat sie mich gezwickt. Auf mein Drängen hin. »Mach schon!«, habe ich gesagt, und jetzt sage ich noch einmal: »Jetzt mach endlich!« Und Gabi sagt, sie hat schon. Und noch einmal sagt sie, sie hat schon. »Scheiße«, denke ich ein zweites Mal. Und Gabi denkt sich auch etwas. Und beide wissen wir: Spekulieren oder hoffen, das können wir uns ab jetzt sparen. Das ist vorbei. Die Querschnittlähmung ist jetzt amtlich. Mit Stempel und Unterschrift von ganz oben. Oder von sonst wo.
Ganz ruhig ist es jetzt. Das Zischen des Autos ist verstummt, nur der kleine Bach, der neben der Wiese dahingurgelt, plätschert ein wenig in die Nachtstille hinein. Ich kenne diese Gegend, den Bach, die Wiese. Gabi ist in dem Dorf ganz in der Nähe von hier aufgewachsen, und ihr Bruder Toni, der hinten neben mir gesessen ist, rennt jetzt los. Hilfe holen. In der Dorfmitte gibt es eine Telefonzelle. Bis dorthin muss er, denkt Toni. Haben wir im ersten Moment auch gedacht. Und er läuft kurz in die falsche Richtung, weil ihm der Schock ordentlich in den Knochen sitzt, deswegen verliert er für einen Augenblick die Orientierung in diesem Wald, den er eigentlich wie seine Westentasche kennt. Ein Stück davon gehört seinen Eltern, und er und sein Papa sind oft hier, um Brennholz für den Winter zu machen. Und dann, kurz vor der Ortstafel – Toni muss gar nicht bis zur Ortsmitte, so ein Blödsinn, das war auch der Schock – trommelt er keuchend gegen die Tür des ersten Hauses, eine blutige Sauerei ist das, und dann läutet in irgendeiner Einsatzzentrale endlich ein Telefon. Und dann klingelt es noch bei Gabis Eltern, und dann auch noch bei meinen. Und jeder, der schon einmal mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde, kennt diese ganz bestimmte Vorahnung. Wo man bereits beim Abheben des Hörers weiß, ob sich da nur ein paar besoffene Jugendliche einen Spaß machen wollen, und man dann wie ein Rohrspatz schimpfend gleich wieder ins Bett schlüpft, oder ob man nach einem fassungslosen »Wie bitte? Was? Nein! Nein!« plötzlich wie ferngesteuert im Auto sitzt und zur nahegelegenen Unfallstelle rast, oder direkt ins Krankenhaus, weil der Notarztwagen auch gleich in der Klinik eintreffen wird.
Währenddessen auf der Wiese. Der Fahrer lehnt trotz seiner Panik, weil die Polizei sicher auch gleich hier sein wird, regungslos an dem wertlosen Haufen Blech, der von seinem Auto übriggeblieben ist. An diesem Steuer wird keiner mehr sitzen und ins Unglück rasen. Mit dem Kinn auf der Brust blickt er starr auf seine Füße hinunter: Als ob er dort unten etwas finden könnte. Eine Idee vielleicht. Oder den Funken einer Idee. Nämlich wie es jetzt weitergehen soll. Jetzt, hier auf der Wiese. Was soll jetzt werden? Und später sowieso? Und ob man jetzt nach unten und auf seine Füße starrt oder nach oben in den Nachthimmel hinein, eine Idee, eine Antwort findet sich weder da noch dort. Aber trotzdem, das Starren hilft. Ein bisschen zumindest. Mit weit offenen Augen starrt man sich ein Stück weit weg von der Katastrophe. Von der Fassungslosigkeit. Besser nicht die Augen schließen, da wird alles nur noch dichter und noch konkreter. Deshalb starren. Kleine Flucht sozusagen. Ganz kurz mal weg. Einfach nicht hinschauen. Dem Ganzen nicht so nahe kommen. Ich glaube, genau deswegen starrt der Mensch so gerne, um die Realität nicht sehen zu müssen. Wissen tu ich es nicht.
Und jetzt tut sich etwas. Mein helles T-Shirt saugt sich nämlich mit Blut voll. Aber das sehe ich nicht, weil ich den Kopf kaum bewegen kann und nur starr nach oben blicke. Aber Gabi sieht es. Wahrscheinlich sieht sie auch, woher es kommt. Ich habe kaum Schmerzen (herzlichen Dank an den Erfinder des Schockzustandes!) und ich kann auch nicht spüren, wie meine Kleidung nass und klebrig wird. Das bemerke ich nicht. Was soll man auch schon bemerken, wenn man seinen Körper nicht mehr spürt? Gabis heftiges Zwicken vorhin hat mich ja auch nicht beeindruckt. Körperlich zumindest. Überhaupt nicht. Was mir aber umso deutlicher auffällt, ist, dass mir die Luft wegbleibt. Verstehe ich jetzt nicht. Hallo? Reicht nicht, dass ich den Großteil meines Körpers nicht mehr fühlen kann? Ich versuche, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Gabis Gesicht über mir ist schon leicht verschwommen. Wie mit dem Weichzeichner oder einer kleinen Bewegungsunschärfe auf dem Computer hingezaubert. Das Plätschern des Baches klingt auch etwas weicher. So wattemäßig gedämpft.
Mir ist es tatsächlich schon mal besser gegangen. Das steht fest, obwohl ich liege. Ich habe schwer damit zu kämpfen, genügend Luft in meine Lunge zu bekommen. Oder aus der Lunge heraus. So genau kann ich das nicht sagen. Ich will jetzt auch gar nichts sagen. Vorhin wollte ich das, und da brachte ich nur ein paar ganz dünne, zerbrechliche Töne heraus. Ich will nur Luft, ich will diese Wald- und Wiesenluft, vor allem will ich den Sauerstoffanteil davon. Und zwar in meiner Lunge! Und wenn geht, rasch! Ich. Brauche. Sauerstoff. Jetzt! Ich schließe kurz die Augen, Konzentration, so wie die Sportler, aber das Atmen wird nicht leichter. An meine Lähmung denke ich im Moment überhaupt nicht. Stattdessen sehe ich jetzt, wie Gabi versucht, ihre Besorgnis in ihrem weichgezeichneten Gesicht zu verstecken. Sie hat wohl nicht damit gerechnet, dass ich die Augen so rasch wieder öffnen würde. Erwischt! Aber Gabi kann sich nicht verstellen, das bekommt sie nicht hin. Nicht einmal ein bisschen. »Alles gut Tom, die Rettung wird bald hier sein«, sagt sie. Oder glaube ich, sie sagen zu hören. Ja, wird gleich da sein. Das klingt gut. »Ich warte so lange hier«, hätte ich mit genügend Luft gesagt. Mit blöd reden kann man ja bekanntlich vieles entschärfen. Oder eben ein bisschen verdrängen und von sich wegschieben. Darin war ich immer schon gut. »Toni ist ja schon unterwegs«, höre ich Gabis Stimme in meinen Watteohren. Okay, ja. Passt. Toni ist flott. Das weiß ich. Bin mal im Winter mit ihm in einem Lokal in der Horner Innenstadt hängen geblieben, versumpft, und dann war unsere Mitfahrgelegenheit weg. Gabi anrufen, damit sie uns holt? Sicher nicht. Also sind wir zu Fuß nach Hause. Zu Gabis Elternhaus. Knappe sieben Kilometer. Bergauf um vier Uhr früh. Nichts als Schnee. Natürlich hatten wir auch keine Jacken dabei. Der Toni und ich. Okay, solche Geschichten werden wir jetzt wohl nicht mehr liefern können, das ist jetzt vorbei. Aber jetzt ist er unterwegs. Der Toni. Und ich auch. Tonis Ziel ist klar: ein Telefon. Wohin meine Reise geht, wird sich noch zeigen. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Jedenfalls wird mich das, was ich mir soeben eingefangen habe, mit Sicherheit noch eine ganze Weile in Anspruch nehmen. Sicherlich werde ich eine geraume Zeit weg sein vom Fenster. Und sehr weit weg von meinem bisherigen Leben. Bestimmt sogar. Sofern mir tatsächlich nicht das Gleiche bevorsteht wie dieser Karre, die jetzt keinen Laut mehr von sich gibt. Vielleicht ist das Sterben des Menschen ähnlich wie das Verrecken eines Autos? Zuerst gehen die Lichter aus, dann...