1. Kapitel: Hilfe! Ich bin krank.
Jeder war es schon mal, jeder wird es bestimmt wieder sein: krank. Der eine ist es plötzlich, der andere chronisch. Ein Dritter denkt sein ganzes Leben lang, er sei krank. Dieser Fall ist am schwersten zu behandeln. Ich bin bis heute an all denjenigen Hilfesuchenden gescheitert, die nicht so gestrickt waren wie ich, für die Krankheit nur ein Alibi ist.
Mein Muster ist kurz umschrieben: Nach außen hin bin ich eine Nervensäge, ein Besserwisser, strotze vor Selbstbewusstsein. Ich hasse Regeln, Gewöhnlichkeit und Kritik. Ich falle auf und das gerne auch bewusst. Meine Worte sind wohlüberlegt, zum Teil schockierend ehrlich, manchmal verletzend direkt. Dabei bin ich in meiner Seele ein Gutmensch, will immer helfen, will lieben und geliebt werden. Manchmal gehe ich dabei zu weit und vergesse mich selbst vor lauter Nächstenliebe. Denn für die Liebe würde ich alles tun. So ist also mein Muster immer von der Nadel abhängig, die es gerade strickt. Jetzt stellen Sie sich mal vor, wie das aussieht, wenn ich so vor Ihnen stehe. Wer hineinblicken könnte, der würde den Pulli vor lauter Mustern nicht erkennen, so wandlungsfähig bin ich. Und das gefällt mir.
Nur – wer mich dann fragt, wie ich mein Selbstwertgefühl beschreiben würde, dem müsste ich die Antwort schuldig bleiben. Kann ein Mensch überhaupt einen Wert haben in diesem Universum? Wer in Andromeda-Galaxie M 31 würde mir auch nur eine Alien-Träne nachweinen? Sehr wahrscheinlich wissen die da ja gar nicht, dass es uns auf der Erde gibt, wenn sie unser Licht nach 2,5 Millionen Lichtjahren erreicht.
Wenn also das Selbstwertgefühl gegen Null geht, dann hat das den Vorteil, dass sich auch das Selbstmitleid in Grenzen hält. Ich habe ja nichts zu verlieren … bis auf mein Leben und meine Gesundheit. Dieser fatale Gedanke kann einen auch wiederauferstehen lassen.
Hätte es Ritalin früher schon auf Krankenschein gegeben, sie hätten mir das Mittel für hyperaktive Kinder wahrscheinlich schon in der Grundschule verschrieben. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom) hätte die Diagnose gelautet. Dabei ist ADS gar keine richtige Krankheit. Aufmerksamkeit gehört bei mir und Millionen anderen Menschen zum Grundbedürfnis der Persönlichkeit. Aufmerksamkeit ist gleichzeitig auch eine meiner größten Fähigkeiten. Ich bemerke etwas, das mich betrifft. Ich denke um oder neu. Ich ändere etwas. So ist das, wenn ich krank bin. Aufmerksamkeit selbst darf niemals eine Krankheit sein. Ein Aufmerksamkeitsdefizit macht nur die Pharmakonzerne reich, der Mensch bleibt dabei arm.
Damals in den frühen siebziger Jahren, zu meiner Zeit in der katholischen Grundschule Bonn-Röttgen, da waren die Klassen kleiner als heute. Da war Klein-Holubek leichter zu integrieren, der freche, fröhliche Streber, der sich immer fingerschnipsend meldete, wenn er etwas wusste oder glaubte, etwas zu wissen. Und das war oft der Fall, eigentlich ständig.
Infolge der Versetzung meines Vaters in den Dschungel Afrikas war ich vorher zwei Jahre lang von meiner Mutter zu Hause unterrichtet worden. In Bangui in der Zentralafrikanischen Republik gibt es keine deutschen Schulen. Als ich 1972 als Siebenjähriger in die vierte Klasse wiedereingegliedert wurde, stand ich in jedem Fach bei Note Eins bis auf Sport, und das wahrscheinlich nur, weil ich immer als Letzter in die Völkerballmannschaft gewählt wurde. Zwei Jahre Privatunterricht, drei Stunden konzentriertes Lernen am Tag – damals war ich definitiv überqualifiziert für die Grundschule. Dementsprechend hart war mein Stand. Ich kam oft mit blauen Flecken nach Hause oder komplett durchnässten Sachen, zerrissenen Heften. Trotzdem stand ich nie weinend in der Tür, aber sinnbildlich ausgedrückt … den Mittelfinger stets gestreckt.
Ich habe das „Überleben-wollen-Gen‟. Das ist bei mir angeboren. Vielleicht haben es ein paar Prozent aller anderen Menschen auch, etwa diejenigen, denen man Ritalin verschreibt. Ständig arbeitet das Gehirn, sucht Wege und Antworten, um etwas zu verbessern. Ich versuche immer, das meiste herauszuholen, das Optimum zu erreichen. Es geht immer noch etwas. Und wenn das Schicksal zugeschlagen hat, dann fange ich eben wieder von vorne an.
So schnell kann’s gehen
Meine schwerste Zeit, das waren eigentlich die bewegten Jahre und Monate vor dem Unfall. Die einen nennen es „Midlife-Crisis‟, die anderen „die Suche nach dem Glück‟. Als ich querschnittgelähmt im Schnee lag, hat mich die Ruhe nach dem stürmischen Leben selbst überrascht.
Ein Skiunfall bei Kaiserwetter am schönen Arlberg in Österreich … Ich erinnere mich an die fantastischen Helfer um mich herum. Sie sprachen wenig, wussten aber genau, was zu tun war. Irgendwie fühlte ich mich wie von allen anderen Sorgen befreit. Nichts, abgesehen vom Tod, relativiert Probleme mehr, als gelähmt zu sein.
Ich war während eines Amateur-Skirennens bei rasender Geschwindigkeit gestürzt, noch dazu selbst verschuldet. Mein übersteigertes Ego ließ mich damals noch denken: „Wenigstens bin ich nicht alleine der Idiot.‟ Ein lokaler Skilehrer scheiterte am selben Sprung. Er flog im ersten Hubschrauber ins Tal: Verdacht auf Schädelbasisbruch. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Ich war bis heute zu sehr mit mir selbst beschäftigt.
13. Januar 2007
Überall wenig Schnee. Noch dazu hat es vor zwei Tagen bis auf 2.000 Metern Höhe geregnet. In der Nacht kehrte der Frost zurück, ließ die Pisten steinhart gefrieren. Neben der Strecke, in den Sturzräumen, glänzt blankes Eis.
9.00 Uhr, Samstag Vormittag: 700 Läufer starten beim längsten Skirennen der Welt, dem „Weißen Ring‟. 35 Gruppen à 20 Fahrer stürzen sich in Minutenabständen in die Abfahrt, besser gesagt: in den Anstieg. Die ersten 50 Meter geht es nämlich bergauf. Das Feld soll sich auseinanderziehen. 20 Fahrer gleichzeitig passen nicht durchs erste Nadelöhr. Die Strecke ist 22 km lang, sechs Liftfahrten mit inbegriffen. Ich bin um 9.10 Uhr dran. Der Skilehrer aus meiner Gruppe lag im Vorjahr schon ganz weit vorne, ist auch diesmal der Schnellste in unserer Gruppe. Ich war 2006 abgeschlagen im vorderen Drittel gelandet. Am berüchtigten Madloch-Steilhang hatte ich durch einen Schlag einen Ski verloren, später sogar noch ein Tor verpasst. Das will ich dieses Mal besser machen, am besten noch aufs Podium meiner Altersklasse fahren. Verbissen fahre ich der Linie des Skilehrers hinterher. Der ist auch 2007 wieder der Schnellste. Ich verliere zwar Meter um Meter hinter ihm, liege aber immer noch vor allen anderen meiner Startgruppe.
9.20 Uhr, Hexenboden-Abfahrt: ziemlich steil, rote Piste … Ich fahre Schuss bis zu einer 90-Grad-Kurve. Dann folgen die Traverse Richtung Tritt-Alpe und der Sprung. Vor mir fliegt der schnelle Österreicher aus meinem Blickfeld – wie ich dachte, ins Tal. Ich wähle die gleiche Linie wie er, halte mich weit rechts, eng am Tor der Streckenbegrenzung. Da ist der Schnee noch schnell. Denn der Rest der Piste ist von den 140 zuvor gestarteten Fahrern stark abgefahren, dadurch zu weich und zu langsam geworden.
Ein blinder Sprung fern der Ideallinie … Ich bin für diese Stelle der Piste viel zu schnell unterwegs, realisiere, dass das diesmal neben der Strecke enden wird, im Eis. Aus Angst mache ich genau das Falsche: Ich öffne meine Rennhocke. Der starke Fahrtwind lässt meine Skispitzen nach oben schlagen. Dadurch bekomme ich Rückenlage und bremse von geschätzten 100 runter auf 30 km/h. Aus sechs Metern Höhe schlage ich ins Eis ein, mit dem Po und meiner rechten Hand, die ich ausgestreckt haben muss, um den Sturz abzufangen. Genau weiß ich das nicht mehr, denn an den eigentlichen Einschlag kann ich mich nicht mehr erinnern. Diese Erinnerung hat mir der Schock freundlicherweise ausgelöscht. Helfer haben mir später berichtet, dass ich mich nach dem ersten Touchdown noch zwei Mal in der Luft gedreht hätte, wie ein Propeller, den es nach dem ersten Aufschlag wieder in die Luft schleudert.
Ehrliche Schadensanalyse
Als ich weit entfernt von der Einschlagstelle zum Liegen komme, da beginnt meine neue Zeitrechnung. Mir ist sofort klar, dass ich von unterhalb der Brust an gelähmt bin. So fühlt sich Querschnittlähmung also an. Ich schreie: „Scheiße, Scheiße, Scheiße!‟ Verzeiht mir diese Worte. Der Schmerz ist abartig, als ob ein Harakiri-Dolch im Rücken kreist. Ich will weinen, aber ich kann nicht. Dafür ist mein Verstand zu klar, zu gestresst, das genaue Gegenteil eines Albtraums. Wäre ich mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen, dann wäre ich jetzt tot. Aber ich lebe noch. Für mich geht es jetzt nur um Schadensanalyse.
Mit der linken Hand taste ich meine Beine ab. Die Rechte ist zwei Zentimeter nach oben und drei Zentimeter nach hinten verschoben, das Handgelenk total zerstört.Trotzdem spüre ich keinen Schmerz im Arm. Der im Rücken überlagert alles. Mir ist auch bewusst, dass meine Hand im Moment mein kleineres Problem ist. Denn wenn ich mit meiner gesunden Linken auf meinen Unterleib, meine Beine drücke, spürt das nur die Hand. Ich kann unterhalb des Bauchnabels nichts mehr bewegen. Es ist ein unglaubliches Gefühl, vollkommen irreal, als wäre die Hälfte von mir abgeschnitten. Das was ich hier beschreibe, spielt sich innerhalb weniger Sekunden ab.
Es ist glasklar: Ja! Ich bin querschnittgelähmt.
Nein! Angst habe ich keine mehr.
Aber Hoffnung ist da, weil mein...