AUSGANGSPUNKT
Wie ich Rednerin wurde
Ich war klein, schüchtern und sensibel. Schon ein Windhauch von Kritik und eine leicht gehobene Augenbraue ließen meine Magennerven flattern. Aber ich hatte in meiner Familie etwas gelernt. Ich erinnere mich unzähliger Abende, an denen wir zu fünft um den Esstisch saßen. Mein Vater an der Stirnseite des Tisches hatte immer das erste Wort. Sobald die Suppe gegessen war, holte er zum Witz aus: »Kennt ihr den?« Dann folgte eine – angeblich – wahre Begebenheit aus Musikerkreisen. Mich hätte er nicht fragen müssen, denn ich hatte sie alle schon oft gehört. Auch meine Brüder wussten Bescheid. Meine Mutter, seit Jahrzehnten an seiner Seite, tat jedes Mal so, als ob sie den Witz zum ersten Mal hörte. Sie sah ihn bewundernd an, ihr Kopf kippte nach der Pointe seitlich nach hinten, und dabei lachte sie aus vollem Herzen. Mein Vater stimmte in ihr Gelächter ein und amüsierte sich königlich.
War das Lachen abgeebbt, war meine Mutter an der Reihe. Sie stellte oft eine gewichtige Frage zur Diskussion, denn sie machte sich über vieles ernsthafte Gedanken. Ein Problem, das sie häufig aufbrachte, war: Ist es gerecht, dass Millionen Sklaven bei der Arbeit an den ägyptischen Pyramiden sterben mussten, nur damit wir heute diese Kunstwerke bewundern können? Darf man Menschenleben für eine höhere Sache opfern? Das erhitzte die Köpfe, denn es stand dabei immer zwei gegen zwei. Zwei, die jahrtausendealte Kunstwerke über die Plackerei der Sklaven stellten, und zwei, für die jedes Menschenleben über kulturellen Errungenschaften stand. Ähnliche Diskussionen wurden in den Pausen nach der Suppe bis zum Kaffee und Dessert geführt. Öffnete sich mal eine klitzekleine Redepause, zwängte sich schnell mein Bruder Werner in die Lücke, damals Regisseur am Theater, und erzählte die aktuellsten Anekdoten aus der Schauspielwelt. Und dann war da noch mein Bruder Wolfgang, der unvermittelt und oft ohne Zusammenhang eine Frage aus der Astronomie in die Runde warf: »Wisst ihr, wie viele Kilometer es von der Erde zum Mond sind?«, und der sich freute, wenn er der Einzige war, der die Antwort wusste.
Heute erkenne ich, wie Redesituationen die Dynamik innerhalb einer Familie widerspiegeln. Der Vater am Vorsitz hatte das erste Wort und damit die Macht. Jeder in der Runde war gezwungen zuzuhören. Bruder Werner war der Herausforderer. Er versuchte, den Vater zu übertrumpfen, indem er frische Witze direkt aus dem Mund der größten Publikumslieblinge aus dem Wiener Josefstadt-Theater servierte. Die Mutter versuchte, auszugleichen und die gespannte Atmosphäre durch sachliche Themen in ein ruhigeres Fahrwasser zu bringen. Der zweite Bruder Wolfgang schnappte – als Naturwissenschaftler im Abseits – immer wieder zwischendurch nach dem letzten Zipfel an Aufmerksamkeit. Und ich als Jüngste kam nie zu Wort – doch zuzuhören lernte ich.
Über die Jahre entwickelte ich ein feines Gespür für Untertöne und bedrohliche Situationen. Schweigend fühlte ich mich wohl, schweigend saß ich wie eine Zimmerpflanze im Schatten der Vielredner, still und oft unterschätzt. Die wenigen Male, da ich um meine Meinung gefragt wurde, schlug mein Herz bis zum Hals, und mein Hirn setzte aus. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, wenn ich bemerkte, dass sich die Rollen umdrehen sollten: die anderen als Zuhörer und ich als Sprecherin.
Wer das Wort hat, hat die Macht
Als ich 16 Jahre alt war, fuhr ich als Stipendiatin an die Westküste der USA. Die Familie, bei der ich wohnte, verbesserte geduldig mein holpriges Englisch und führte mich in den »American Way of Life« ein. Sie fuhren mich mit ihrem schaukelnden Cadillac metallisé zur Einschreibung in die Schule und zum ersten Footballspiel. Schnell lernte ich die toleranten und freundlichen Kalifornier lieben.
Wenige Wochen nach meiner Ankunft saß ich am Morgen bei meiner Schüssel Cornflakes, als sich meine amerikanische Mutter, meine »Mum«, zu mir setzte. Sie erzählte, dass ihre Kirche die Hälfte meines Stipendiums finanziert hätte. Schüler hätten Autos gewaschen und Erwachsene Flohmärkte organisiert, um den Aufenthalt der neuen Austausch-Schülerin zu finanzieren. Ich war überrascht. Ich hatte nicht geahnt, dass die Gemeinde in Amerika ebenso zu meinem Stipendium beigetragen hatte wie meine Eltern. Die Mum fuhr fort: »Als kleine Gegenleistung bittet dich meine Pfarrgemeinde, am Sonntag nach der Messe über dein Heimatland zu erzählen.«
Ich war wie vom Donner gerührt. Öffentlich sprechen? Auf Englisch? Am liebsten wäre ich davongerannt und hätte mich bei den Bären im Yosemite Park versteckt. Aber natürlich ging das nicht.
In meiner österreichischen Schule hatte ich noch nie von Rhetorik gehört. Ich kannte nicht einmal das Wort. Daher wusste ich nicht, dass es möglich und vor allem sinnvoll ist, sich vorzubereiten. In der Nacht vor meinem Auftritt wälzte ich mich schlaflos von einer Seite zur anderen. »Wie sollte ich in meinem gebrochenen Schulenglisch reden und zusammenhängende Sätze formulieren? Was könnte ich erzählen? Was wusste ich überhaupt über Österreich? Berge, Edelweiß und Walzer?« Mehr fiel mir nicht ein. Am nächsten Morgen wählte ich für meinen Auftritt mein Brokat-Dirndl mit goldener Schürze in der Hoffnung, damit ein Quäntchen Wohlwollen beim amerikanischen Publikum zu wecken. Das Frühstück ließ ich stehen und stieg mit meiner Mum und meinen amerikanischen Geschwistern ins Auto. In der Kirche steigerte sich meine Nervosität. Ich wusste noch immer nicht, was ich sagen würde, und ich hoffte, dass mir beim Reden etwas einfiele.
Alpen, Mozartkugeln und Dirndl
Nach der Messe führte mich eine nette Dame mit rosa bis lila schattiertem, gelocktem Haar und mit Strass besetzter Brille von der Kirche zum angrenzenden Gebäude. Die Eingangstür des Vortragsraumes öffnete sich, und mein Mut sank. Ein riesiger Saal mit geschätzten 450 leeren Stühlen und einer acht Meter breiten Bühne tat sich vor mir auf. Die Bühne mit schwarzem Hintergrund wirkte kalt und unheimlich. Dort oben sollte ich sprechen, allein, ohne Hilfe und ohne Manuskript, denn ich hatte mich ja nicht vorbereitet. Nach und nach kamen die Kirchenbesucher in Gruppen herein, schwatzten freundlich miteinander und suchten sich ihren Platz. Mir wurde mit zwei weiteren Austauschschülerinnen, eine aus Finnland, eine aus Griechenland, ein Stuhl in der ersten Reihe zugewiesen.
Bald war der Saal zu zwei Drittel besetzt, und die Türen wurden geschlossen. Die Dame mit der rosa-lila Löckchenfrisur griff zum Mikrofon. Sie rief zu Spenden auf, kündigte das nachfolgende Buffet an und sprach von Weltoffenheit und Amerikas führender Rolle im Schüleraustausch. Mein Magen war flau und mein Kopf leer wie die Wüste Gobi. Nun kam der Moment für meinen Auftritt. Ich wurde auf die große Bühne gebeten. Wie ein ruckelndes Auto stotterte ich mich in meine Themen hinein. Ich sprach, meinen nächtlichen vagen Ideen folgend, von den Alpen, von Mozartkugeln und über das Dirndl, das ich anhatte. Wenn ich stockte, betete ich innerlich, dass mir etwas einfiele. Ich redete, plumpste in lange Pausen und starb dabei tausend Tode. Viel zu früh, nach etwa zehn Minuten hörte ich auf. Die überraschte Moderatorin reagierte spontan, stellte sich zu mir auf die Bühne und leitete vorzeitig die Fragerunde ein. Nun konnte ich etwas entspannen. Mehrere interessierte Zuhörer hoben die Hand. Ich erinnere ich mich nicht mehr, was sie sagten, nur eine Wortmeldung prägte sich mir ein. Ein dicker, rotgesichtiger Mann fragte mich, ob wir in Österreich barfuß gingen oder Schuhe trügen. Dann war mein Auftritt vorbei.
Anschließend nahmen mich die rosa-lila Kirchenfrau und andere lächelnde Pfarrdamen in ihre Mitte. Sie lobten mein Dirndl, mein Englisch und versicherten mir, dass es »very interesting« gewesen sei. Ich verstand nicht jedes Wort, aber ich war erleichtert, keine Kritik zu hören. Nach und nach kühlte mein rotes Gesicht auf Normalfarbe ab, und mein Herz schlug wieder ruhiger. Die Zuhörer strömten dem Buffet im Vorraum zu, der Saal leerte sich. Da kam aus der letzten Reihe ein glatzköpfiger Mann im grünen Anzug, hellgrünen Hemd und olivfarbener Krawatte nach vorne und sprach mich an. Er sagte aufmunternde Worte, wurde aber dann ernst und fragte mich, ob ich sprechen lernen wolle. Ich wusste nicht, was er meinte. Er erzählte mir, er wäre Rhetorik-Lehrer an meiner High School. Ein eigenes Unterrichtsfach für »Öffentliches Sprechen« – das hatte ich noch nie gehört! Ich war neugierig und belegte den ersten Kurs.
Ab da besuchte ich jede Woche das Unterrichtsfach »Public Speaking«. Dort lernte ich nicht nur die Garderobe meines Lehrers kennen, der Anzug, Hemd und Krawatte gewöhnlich Ton in Ton, in braun, blau, grün und lila trug, sondern auch die Eckpfeiler der Kommunikation. Ich lernte, mich vorzubereiten, beim Reden stillzustehen, und merkte, dass mir niemand den Kopf abriss, wenn ich einen Fehler machte.
Tiefe statt Status
Das Erlebnis, zum ersten Mal vor Publikum auf der Bühne zu stehen, war für mich tiefgreifend, nahezu erschütternd gewesen. Ich wusste, dass es keine tolle Leistung gewesen war, die ich abgeliefert hatte. Wäre ich im Publikum gesessen, hätte ich innerlich harsch über mein Auftreten geurteilt: unsicher, unvorbereitet, unreif.
Doch als ich auf der Bühne mit schweißfeuchten Händen mein Mikrofon umfing, erkannte ich trotz meiner Angst und Auftrittsschwäche mit großer Klarheit: Auf der Bühne habe ich das Wort und somit die Macht. Diese Einsicht bewegte mich zutiefst.
Auch heute noch empfinde ich diese Freiheit. Wenn ich auf der...