1. Kapitel
Leeres Nest oder endlich Ruhe ?
Der Witz geht so : Drei Rabbis debattieren über die Frage, wann genau das Leben beginnt. Mit der Zeugung, dem Moment der Verschmelzung von Ei und Samenzelle, betont der Erste. Wenn das Kind auf die Welt kommt, hält der Zweite dagegen. Der Dritte überlegt noch etwas länger, dann sagt er : Das Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund tot ist.
Das ist natürlich überhaupt nicht lustig. Je nachdem, wie viel Mutterfreude man sich gegönnt hat, leert sich das Nest abrupt oder schleichend. Doch eines Tages ist es so weit : Die einst turbulente Wohnung wirkt gespenstisch still. Rund zwanzig Jahre lang drehte sich alles mehr oder weniger um die Kinder. Und dann gehen sie ihrer Wege, ziehen vielleicht sogar in eine andere Stadt. Worüber sollen wir Eltern nun reden, wenn nicht über die Kinder ? Statistisch gesehen werden die meisten Ehen geschieden, wenn die Kinder kommen – und wenn die Kinder gehen.
Experten nennen es das »Empty-Nest-Syndrom«, das leere Nest. Es beschreibt die Trauer der Eltern, wenn die Kinder flügge werden. Viele Mütter und manche Väter leiden unter Schlaflosigkeit und Unruhe, in schweren Fällen verursacht das leere Nest sogar Lebenskrisen bis zur Depression. Doch der Auszug der Kinder birgt auch ganz neue Chancen : sich als Paar neu erleben, große Reisen unternehmen und die fernen Orte aufsuchen, an denen die großen Kinder längst waren, beruflich durchstarten, schlummernde Träume wecken – eben all die Dinge tun, auf die man wegen der Kinder jahrzehntelang verzichtet hat.
Dass man Kinder nicht kriegt, um sie zu behalten, sondern um sie eines Tages in ihr eigenes Leben aufbrechen zu lassen, ist natürlich allen Müttern klar. Doch die Freude darüber, endlich entbehrlich geworden zu sein, will sich oft nicht einstellen. Mit dem Auszug der Kinder beginnt eine schwierige Zeit für die Mütter, weiß Bettina Teubert aus ihrer Arbeit als Heilpraktikerin und Familientherapeutin, aber auch aus eigener Erfahrung. Ihre beiden Kinder sind erwachsen, die Tochter zog vor vier Jahren, der Sohn vor drei Jahren aus. »Als sie da mit dem gepackten Anhänger stand und weinte, musste ich mich schwer zusammenreißen, um nicht auch in Tränen auszubrechen.« Es muss ja nicht so schlimm kommen wie bei einer Freundin, die ihr anvertraute : »Ich bin ein halbes Jahr im Wald herumgelaufen und hatte Selbstmordgedanken. Aber mit so ’nem Scheiß belastet man doch keinen.«
In Deutschland ist es eher unüblich, über die Trennung von den erwachsenen Kindern und den Zustand der Leere, wenn sie das Haus verlassen haben, allzu offen zu sprechen. Anderswo gibt es Gesprächskreise, Workshops und Seminare, im Internet gibt es ein paar versprengte Blogs und Foren für Eltern, die sich auf ihre neue Rolle einstimmen wollen. Amerika hat’s da schon besser : Übergänge in neue Lebensabschnitte geraten dort schon unter den hungrigen Augen der Konsumindustrie routiniert zu Anlässen für Partys, die die Anschaffung von Gegenständen erforderlich machen – von »Baby Shower« bis »Spring Break« und längst haben auch die Empty Nester ihre Devotionalien : Tassen, Thermoskannen, Taschen und T-Shirts mit Aufdrucken, Autoaufkleber, Buttons mit Aufschriften wie »Midlife-Boulevard« oder »Find adventure« – die ganze Maschinerie kommerzieller Aufbereitung beim Start in die neue Lebensphase läuft auf Hochtouren. Doch auch hierzulande geraten die Eltern über 45 und ohne minderjährige Kinder im Haushalt immer stärker ins Visier werblicher Aufmerksamkeiten. Die Empty Nester als Zielgruppe werden längst genauestens vermessen. Schließlich haben sie alles zu bieten, was Marketing schön macht : Geld, Zeit, Lust – und das für viele Jahre. Das macht die Empty Nester zur Zielgruppe mit der zweitgrößten Konsumneigung, direkt nach den Dinks, den kinderlosen Doppelverdienern (double income no kids).
Im Tal der Tränen
Wir können in Wenn-das-Kind-auszieht-Ratgebern stöbern, uns der besten Freundin anvertrauen, im Internet nach fachlicher Unterstützung suchen und das Thema ansonsten eher meiden – aus Furcht, belächelt zu werden, weil es sich anfühlt wie Liebeskummer, nur schlimmer. Das Kind ist weg, die gemeinsame Zeit unwiderruflich vorbei. Doch im Gegensatz sogar zum allerschlimmsten Liebeskummer, der irgendwann abklingt, wird es nach einer Zeit der Trauer kein neues eigenes Kind geben, das den Platz des alten einnimmt.
Dass offen darüber geredet werden muss, wie Frauen zwischen 40 und 60 Jahren den Übergang von der aktiven zur passiven Mutterschaft bewältigen, fand Bettina Teubert wichtig und hat vor einem Jahr in Berlin Deutschlands erste und bislang einzige Selbsthilfegruppe für verlassene Mütter ins Leben gerufen, die Empty Nest Moms (Enmoms). Die Frauenrunde hier am Tisch freut sich schon mächtig auf Weihnachten – und das schon Monate vorher ! Denn an Heiligabend werden alle Kinder wieder zu Hause sein. Weihnachten ist Wiedersehen. »Da fallen wir dann alle wieder ins Mutterloch«, spottet Bettina Teubert liebevoll, »kochen und wirbeln, und alle spielen für ein paar Tage die alten Rollen.« Die Mütter, die sich in den Räumen des Frauenvereins »Eulalia Eigensinn« in Berlin-Spandau versammelt haben, nicken. »Und dann ist die Wohnung wieder leer«, sagt eine und seufzt. »Wenn sie länger blieben, würde es aber auch schwierig werden«, wirft Bettina Teubert ein.
Nur hinter vorgehaltener Hand, unsicher und voller Selbstzweifel wagten Mütter, ihren Schmerz zuzugeben, hat Bettina Teubert beobachtet. Sie fürchteten, einen Makel zu offenbaren, wenn sie ehrlich darüber sprächen, wie sie sich im leeren Nest fühlten. Sie wollen stark wirken, auch wenn sie sehr trauern. Der verwirrend wabernde deutsche Mutter-Mythos nimmt aber auch die an die Kandare, die nicht sehr trauern. »Ich habe doch keine Kinder in die Welt gesetzt, um sie bis zu meinem Ende zu bemuttern«, schreibt eine Mutter in einem Internetforum und nimmt den Vorwurf vorweg: »Ich muss wohl eine Rabenmutter sein, aber ich empfinde es nicht als schmerzhaft, wenn die Kinder ausziehen.«
Ob am Boden zerstört bleibend oder nur ein paar Wochen lang niedergeschlagen und sich dann nüchtern-pragmatisch in die neuen Lebensumstände findend oder vielleicht auch jubelnd über wiedergewonnene Freiheiten – den Auszug der Kinder umweht ein Schmerz, der heute viele Mütter durchaus auf ihren eigenen verschlungenen Wegen durchs Tal der Tränen schickt.
Leeres Nest und Hotel Mama sind zwei Seiten derselben Medaille
Aber über die unterschiedlichen Leidenswege hinaus wirken große gesellschaftliche Veränderungen auf das sehr private Geschehen ein, die den Abschiedsschmerz noch zusätzlich befeuern, aber auch lindern können, in jedem Fall aber relativieren. Das leere Nest und das sprichwörtliche Hotel Mama, von erwachsenen Nesthockern belegt, zeigen sich als zwei Seiten derselben Medaille. Wie sich im Detail die Ablösung von Eltern und Kindern vollzieht und welchen Kräften dieser Prozess gehorcht, ist immer auch in den Hintergrund des jeweiligen Zeitgeistes eingebettet. Dass sich noch nie zwei Generationen so nahestanden wie heute, hat nicht nur mit klammernden Eltern oder bequemlichen Kindern auf lebenslangem Kuschelkurs zu tun. Veränderte Rollenbilder, ein gewandelter Erziehungsstil, der grassierende Jugendwahnsinn oder die Herausforderungen des digitalen Wandels stellen Eltern und Kinder heute vor ganz neue Herausforderungen. Wie im Zerrspiegel liegen ihre Bedürfnisse und Wünsche in marketingstrategischen Überlegungen zur ökonomischen Verwertbarkeit dieser heiklen Lebensphase nackt und bloß. Aber auch die verstörenden Botschaften eines höchst widersprüchlichen Mutterbildes und wohlfeil gewordenen Eltern-Bashings orchestrieren das individuelle Empfinden und setzen eigene Akzente. Der Erwartung, die Abnabelung der Kinder ohne größere Einbrüche zu schaffen, steht eine andere gegenüber, die ebenfalls Druckpotenzial entfaltet. »Für meine Kinder tue ich alles« oder »Wenn es um meine Kinder geht, kenne ich nichts !« und »Meine Kinder kommen immer zuerst !« sind Sätze, mit denen sich Eltern gern offenbaren : Sich für seine Kinder aufopfern zu müssen, ist ein universeller Glaubenssatz im Eltern-Dogma, der längst zum Bekenntnis gereift ist. Wie man sich früher fragte (und vom Pfarrer fragen lassen musste), ob man ein guter Christ sei, fragt man sich heute, ob man eine gute...