Einleitung
Das Buch, über das zu reden ist, eine Geschichte der Weimarer Republik in der Form von Biographien, ist vor rund zehn Jahren im Primus-Verlag, einer Gründung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, erschienen. Ihr Autor, Friedrich-Christian Stahl, war ein renommierter Archivar und Militärhistoriker, darin nicht ungeübt, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Gleichwohl ist in seinem Beitrag über eine der beherrschenden Gestalten des deutschen Militärs der Zwischenkriegszeit, den antidemokratischen Vordenker Hans von Seeckt, von der »verworrenen Lage« die Rede, in der sich 1923 »das Reich nach der Ruhrkrise, den Aufständen in Sachsen und Thüringen sowie der nun aufkeimenden völkischen Bewegung« befand1. Friedrich-Christian Stahl, Offizier in der alten Wehrmacht und der neuen Bundeswehr, war von 1967 bis zu seiner Pensionierung 1980 Leiter des zum Bundesarchiv gehörenden Militärarchivs in Freiburg.
Nicht nur Franzosen, Belgier und natürlich die Deutschen haben Ruhrkrise und Ruhrbesetzung beschäftigt und aufgewühlt. Die rechtsnationalistische Bewegung unternahm im Herbst jenes Jahres ihre – nach dem Kapp-Putsch – zweite ernstzunehmende Generalattacke auf den demokratischen Staat, aber Aufstände in Sachsen und Thüringen hat es nie gegeben. Sie gehören in das Reich der Legende, und zählebig scheinen sie auch zu sein, dienten sie schließlich schon im Jahr der angeblichen Existenz dieser Insurrektionen zur Rechtfertigung einer Militäroperation gegen die von SPD und KPD gebildeten »Landesarbeiterregierungen«.
Aufstände im Sinne von bewaffneten Erhebungen, auch Unruhen haben, jedenfalls in Sachsen und Thüringen, nicht stattgefunden, sogar in Hamburg nur in einem sehr eingeschränkten Sinne. Gleichwohl schrieb noch 2006 Ulrich Kluge über »kommunistisch gesteuerte Unruhen in Sachsen und Thüringen«. Sie nämlich »boten den Demokratiegegnern in Bayern einen willkommenen Anlass, gegen die Reichsregierung mobil zu machen«2. Bemerkenswert an dieser Veröffentlichung, die mehr als 90 Jahre nach den Ereignissen erschien, ist, dass die »Unruhen« jetzt schon als Rechtfertigung der völkischen Mobilisierung dienen beziehungsweise wahrgenommen werden.
1 Friedrich-Christian Stahl, Hans von Seeckt, in: Michael Fröhlich (Hrsg.), Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt: Primus 2002, S. 85-95, hier S. 92. Hervorhebung nicht im Original.
2
Ulrich Kluge, Die Weimarer Republik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, S. 78.
Lehren aus der Geschichte gezogen
Überhaupt: Wie wurden die Vorgänge des Jahres 1923, das von der französischen Ruhrbesetzung, einer Inflation ungekannten Ausmaßes, einer handfesten politisch-parlamentarischen Krise und einer allgemeinen Verunsicherung, schließlich einer neuen Situation für die Arbeiterbewegung des jungen demokratischen Staates geprägt war, wie also wurden diese Vorgänge in den beiden deutschen Staaten während der 1950er- und 1960er-Jahre historiographisch aufgearbeitet? Dienten sie nicht in erster Linie als Demonstrationsobjekt dafür, wie – in dem einen Fall – glorios die DDR aus der Geschichte gelernt hatte oder – die konkurrierende Version – wie verhängnisvoll ein in letzter Instanz auf sozialistische Veränderung zielendes Zusammengehen von SPD und KPD sein musste?
Was den Historikern, die, wie wir sehen werden, in einer langen und nur eingeschränkt gebrochenen, dann zur Disposition stehenden und schließlich wieder auflebenden Tradition der 1950er- und 1960er-Jahre stehen, Recht ist und was wir, pars pro toto, an einem Verdikt von Friedrich-Christian Stahl exemplifiziert haben, das ist den publizistischen Leitmedien wie dem »Spiegel« billig. In der Rubrik »Eines Tages« der Onlineausgabe des Hamburger Nachrichtenmagazins hieß es im September 2013: »Ein Land im Wahn: Im Herbst 1923 schien die Weimarer Republik am Ende«. Ereignisse, die zehn Jahre später erfolgen sollten, kühn vorausnehmend, hieß es wörtlich: »Aufgepeitscht von den Sorgen des Alltags marodierten Kommunisten und Rechtsradikale durch die Straßen der Großstädte und lieferten sich Straßenschlachten.« Und zwei Sätze weiter: »Kommunisten und Rechtsradikale« (ein offenbar feststehender Topos, den die Leser sich merken sollen) »witterten angesichts der aufgepeitschten Stimmung ihre Chance, die verhasste Republik ein für alle Mal aus dem Weg zu schaffen«3.
Um Versuche, historische Vorgänge für politische Aussagen zu instrumentalisieren, zu beschreiben, hat sich in den letzten Jahren der Begriff »Geschichtspolitik« durchgesetzt. Dann dient die Geschichte »als Steinbruch für höchst unterschiedliche Zwecke«, wie Klaus Schönhoven schreibt4. Das gilt in herausragender Weise für die Historiographie der DDR hinsichtlich ihrer Er- träge zur Weimarer Republik, aber auch für die Historiographie in der (alten) Bundesrepublik. Sie gegenüberzustellen bedeutet nicht, sie gleichzusetzen: Der Mannheimer Emeritus hat zweifellos Recht, wenn er feststellt, »dass in pluralistischen Gesellschaften immer verschiedene Geschichtsdeutungen miteinander konkurrieren«5, was hinwiederum nicht bedeuten muss, dass es in Bezug auf bestimmte Fragen und bestimmte Zeiten keinen main stream der Aussagen gibt, also etwa in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre zu den Ereignissen des »Schicksalsjahres« 19236.
Als »Meistererzählung« der DDR kann Wilhelm Ersils 1963 erschienene Untersuchung zum »Sturz« der Regierung Cuno im August 1923 gelten. Der ihm vorangehende Generalstreik fand »insgesamt gesehen bislang noch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit und detaillierte Beleuchtung«, heißt es in der Einleitung7. Das, was in den 1920er Jahren geschah, lässt der Autor mit eschatologischer Zwangsläufigkeit auf die DDR zulaufen. Er beruft sich auf größere Zusammenhänge und zitiert aus dem Programm der SED: »Die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft stellen der deutschen Arbeiterklasse die geschichtliche Aufgabe, im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft und den anderen werktätigen Schichten in Deutschland die kapitalistische Ausbeuterherrschaft...