Das Prinzip des St. Galler Business Model Navigator™ ist ähnlich den seit Jahrzehnten bewährten Konstruktionsregeln im Maschinenbau. Eine solche ist beispielsweise die „TRIZ-Methodik“ zur Produktentwicklung. TRIZ ist die russische Abkürzung für die „Theorie zur Lösung von Erfindungsaufgaben“ (russisch: Teorija Rešenija Isobretatelskih Zada). Sie wurde in den 1960er- bis 1980er-Jahren vom russischen Wissenschaftler Genrich Altschuller und seinen Mitarbeitern entwickelt. Hauptmerkmal der Problemlösung mit TRIZ ist das Identifizieren, Verstärken und Eliminieren technischer und physikalischer Widersprüche in technischen Systemen. Eine Auswertung von ca. 40?000 Patenten ergab, dass sich die Erfindungsaufgaben bzw. technischen Widersprüche aus verschiedenen Branchen durch eine begrenzte Anzahl von elementaren Prinzipien (Verfahren) lösen lassen. Daraus entstand eines der bekanntesten und für jedermann einfach anzuwendenden Werkzeuge von TRIZ zur technischen Lösungsfindung: die 40 Innovationsprinzipien. Beispiele hierfür sind zerlege oder segmentiere, trenne Schädliches ab, nutze Asymmetrie, vereine Gleichartiges (Koppeln), verwende Gegenmasse oder Auftrieb. Die TRIZ-Methodik wird heute auch softwareunterstützt angeboten und zählt zum festen Bestandteil moderner Konstruktionsmethodik.
Das Ziel unseres Forschungsprogramms war nichts weniger, als eine solche Konstruktionsmethodik für Geschäftsmodellinnovation zu entwickeln. Während die Altschullerschen 40?000 Patente nur einen Bruchteil des gesamten Patentuniversums darstellen, repräsentieren unsere analysierten Geschäftsmodelle den weitaus größten Teil aller in den letzten 50 Jahren erfolgreich entstandenen Geschäftsmodelle und zahlreiche Geschäftsmodellpioniere der letzten 150 Jahre. Nicht analysiert haben wir die erfolglosen Geschäftsmodelle, jedoch ließen wir unsere Erfahrung in der Arbeit mit Unternehmen und Forschungsergebnisse hierzu ebenso in das Buch mit einfließen.
Wir haben unseren Ansatz über fünf Jahre im Rahmen von Aktionsforschung und Beratungsprojekten mit zahlreichen, international führenden Unternehmen in Chemie, Pharma, Maschinenbau, Automobilzulieferer, Elektronik/Elektrik, Energie, Service, Software, Telekom, Automobil, Finanzdienstleistung und Bauindustrie erarbeitet und anschließend angewendet. Die enge Zusammenarbeit sowohl mit dem Forschungskonsortium aus Industrie und Akademia als auch in bilateralen Projekten mit Wirtschaftsunternehmen hat die Methodik insbesondere hinsichtlich Umsetzbarkeit stark befruchtet. Inspiriert wurde unser Ansatz auch durch unsere enge Zusammenarbeit mit dem Center for Design Research an der Stanford University. Unsere Kooperation mit Gründern des Design-Thinking-Ansatzes hat uns das iterative, user-zentrierte und haptische Vorgehen in unserem Ansatz gelehrt. Aus dem mehrjährigen Einsatz unserer Methode in den St.-Galler-Executive-MBA-Programmen haben wir ebenfalls stark von den Feedbacks der Manager profitiert.
Der Business Model Navigator™ ist eine aktionsorientierte Methodik, die es jedem Unternehmen ermöglicht, die dominante Branchenlogik zu durchbrechen und das eigene Geschäftsmodell zu innovieren. Es war uns von Anfang an wichtig, über die publikationsfähige Analyse hinaus die Ergebnisse umzusetzen und die Anwender in der Handlungskompetenz zu befähigen. Die gute Nachricht dabei: Die Methodik funktioniert und hat sich in der Praxis in recht unterschiedlichen Organisationen, Branchen und Unternehmen bewährt.
Der St. Galler Business Model Navigator™ (Bild 2.1) basiert auf der zentralen Erkenntnis, dass sich neue Geschäftsmodelle über kreative Imitation und Rekombination erfolgreich entwickeln lassen. Der Business Model Navigator™ unterscheidet zwischen der Designphase der Geschäftsmodellinnovation und deren Realisierung. Er besteht aus vier Schritten:
Initiierung
Ideenfindung
Integration
Implementierung
Bild 2.1 Der St. Galler Business Model Navigator™
2.1 | Zentrale Erkenntnis: Kreative Imitation und die Bedeutung der Rekombination |
Die Aussage „Man muss das Rad nicht neu erfinden“ beschreibt die Tatsache, dass nicht immer alles neu erfunden werden muss, sondern man sich auch von bereits Bestehendem inspirieren lassen kann. Innovationen sind oft Variationen von etwas, das bereits zuvor existiert hat, in anderen Industrien, in anderen Märkten oder in anderen Kontexten. In unserer Arbeit fanden wir heraus, dass rund 90 Prozent der Geschäftsmodellinnovationen Rekombinationen von Elementen von bereits bestehenden Geschäftsmodellen sind.
90 Prozent aller neuen Geschäftsmodelle sind nicht wirklich neu, sondern basieren auf 55 bestehenden Mustern. Kreatives Imitieren von Geschäftsmodellen aus anderen Branchen befähigt Unternehmen, in der eigenen Branche Innovationsführer zu werden. Wichtig ist hierbei das Prinzip ‚Kapieren geht vor Kopieren‘.
Diese Erkenntnis hat uns als Forscher und Coach von Unternehmen überrascht, da Geschäftsmodellinnovationen per se etwas radikal Neues sind. Aber diese sind nur neu für die Industrie bzw. Branche, nicht für die Welt. So ist dies letztlich eine Bestärkung der grundsätzlichen Erkenntnisse des frühen Innovationsforschers Josef Schumpeter, der für Innovationen im Produkt- und Prozessbereich schon herausgefunden hatte, dass über 80 Prozent aller Innovationen lediglich Rekombinationen aus existierenden Ideen, Konzepten und Technologien sind. Unsere neueren Arbeiten mit Geschäftsmodellen bestätigen diese Erkenntnis. Dabei heißt Imitieren nicht einfach, einen Plagiator zu spielen und Zeichnungen 1:1 zu imitieren. Vielmehr müssen die Elemente und deren Kombination in einem Geschäftsmodell von Grund auf verstanden und auf für die eigene Situation übersetzt werden. Kreative Imitation ist bei Geschäftsmodellen gefragt.
Bei unserer Analyse identifizierten wir 55 unterscheidungsfähige Muster, die immer wieder den Kern neuer Geschäftsmodelle bilden. Ein Gechäftsmodellmuster ist eine bestimmte Konfiguration der vier Kernelemente (Wer-Was-Wie-Wert?) eines Geschäftsmodells, welche sich in verschiedenen Firmen und Industrien als erfolgreich erwiesen hat. Die 55 Muster werden in Teil II dieses Buchs detailliert in Form von Steckbriefen vorgestellt. Die Business Model Navigator™ Map, die Sie als Faltplan in Teil III finden, bildet alle 55 Muster als Linien ab, zusammen mit einer chronologischen Aufzählung von Firmen, die die Muster in ihrem Geschäftsmodell anwenden. Manche Innovatoren verwenden mehrere Muster gleichzeitig, auf dieses Phänomen weisen wir in unserer Business Model Navigator™ Map in Form von Knotenpunkten zwischen verschiedenen Mustern hin. Wir führen diese aber wegen der Lesbarkeit nicht bei jeder Musterbeschreibung auf.
In der Business Model Navigator™ Map lassen sich die größeren Zusammenhänge von Geschäftsmodellen nachvollziehen und die eigene Situation reflektieren. Gut erkennbar ist die Durchgängigkeit der Muster. Der Innovationssprung von einer Innovation im Geschäftsmodell in einer Branche zu der in einer anderen Branche ist deutlich geringer als zunächst vermutet.
An dieser Stelle greifen wir die zwei Muster Subscription und Razor and Blade exemplarisch heraus, um die Bedeutung der Muster und der Rekombination aufzuzeigen.
Subscription ? das Abonnieren von Leistungen
Bild 2.2 Muster Subscription
Beim Muster Subscription (Bild 2.2) zahlt der Kunde regelmäßig eine Gebühr, zumeist auf monatlicher oder jährlicher Basis (Wert?), und erhält hierdurch den Zugang zu einem Produkt oder einer Dienstleistung (Was?). Auch wenn das Muster bereits seit langer Zeit existiert, führt seine Anwendung in unterschiedlichen Kontexten auch heute noch zu radikalen Innovationen. So hat beispielweise Salesforce, der internationale Anbieter von Cloud-Computing-Lösungen für Unternehmen, das Geschäftsmodell der Branche radikal innoviert, indem das Unternehmen als erster Anbieter Software zur Miete über das Internet zur Verfügung stellte, anstatt große Einmalzahlungen für eine Lizenz zu verlangen. Mit der Idee eines Software-Abonnements zählt Salesforce heute zu den zehn weltweit am schnellsten wachsenden Unternehmen. Netflix, der weltweit führende Online-DVD-Streaming-Service für private Konsumenten, hat den Online-Videomarkt durch die Einführung eines Abonnementmodells ebenfalls revolutioniert. Wer hätte gedacht, dass man mit dem Vertrieb von schwarzen Socken ein erfolgreiches Geschäft aufbauen oder gar eine Geschäftsmodellinnovation erzielen kann? Mit der Einführung eines Sockenabonnements über das Internet ist dies Samuel Liechti, dem Gründer und CEO von Blacksocks, gelungen. Das Schweizer Unternehmen hat mittlerweile 50?000 Kunden in 75 Ländern. Weitere Beispiele von Geschäftsmodellinnovationen, die im Kern das Muster der Subscription verwenden, sind Jamba, das Klingeltöne für Handys im Abomodell verkauft, und Spotify, eine Plattform, die Millionen von Musiktiteln kostenlos anbietet und gegen eine geringe monatliche Gebühr den Service ohne Werbeunterbrechung und auch fürs Handy anbietet. Ähnlich bietet Next Issue Media in den USA sämtliche Zeitschriften im Abomodell für Tablets an. Gegen einen monatlichen Beitrag von 15 US-Dollar hat der Leser Zugang zu über 70 Zeitschriften. Und der Dollar Shave Club...