1 Einleitung
Für heutige Menschen mag es befremdlich erscheinen, die Niederlande als »burgundisch« zu bezeichnen. Doch für das 15. und 16. Jahrhundert ist diese Verknüpfung sinnvoll und geboten. Die Benennung beruht darauf, dass der Name Burgund von dem im Osten Frankreichs gelegenen Herzogtum Burgund sowie der sich weiter östlich anschließenden Freigrafschaft Burgund, die zum Heiligen Römischen Reich gehörte, auf Flandern und die vielen Fürstentümer im Nordwesten des Reichs übertragen wurde. Für diesen Raum war im Hochmittelalter die Bezeichnung Nieder-Lothringen üblich geworden. Mit Blick auf die vielen in diesem weiten Gebiet entstandenen Herrschaften sprach man später von den niederen Landen bzw. Niederlanden. Grund für die Benennung als burgundisch war die dynastische Vereinigung der Territorien in Händen der Herzöge von Burgund, einer Nebenlinie der französischen Königsfamilie Valois. Ab etwa 1420 wurden Flandern und die benachbarten Fürstentümer zum bevorzugten Aufenthaltsort und Aktionsfeld der regierenden Fürsten. Das Bemerkenswerte ist, dass diese Übertragung derart wirkmächtig war, dass sie auch nach dem Herrschaftswechsel von den Valois-Burgundern zu den Habsburgern erhalten blieb. Im 16. Jahrhundert bürgerte es sich im politischen Sprachgebrauch ein, von Burgund zu sprechen, wenn man die Niederlande meinte, so beispielsweise beim 1512 geschaffenen Burgundischen Reichskreis.
Die Geschichte der burgundischen Niederlande ist ein Musterfall für eine zunächst rein dynastisch gebildete Landesherrschaft, die auf mehrere bereits »fertige« Fürstentümer gleichsam aufgesetzt wurde, wobei die Eigenheiten eines jedes dieser Fürstentümer gewahrt wurden. Allmählich erst, nämlich unter Karl dem Kühnen, begann eine Politik der Länder übergreifenden Vereinheitlichung, die auf die einzelnen Territorien und ihre Traditionen wenig Rücksicht nahm.
Die Geschichte der burgundischen Niederlande kurz und bündig zu beschreiben ist keine leichte Sache, zumal sie kein Anfang und kein Ende hat, es sei denn, man legt die Lebens- bzw. Regierungsdaten der Herzöge als Grenze fest. Das erste Kapitel behandelt die Politik der beiden ersten Herzöge Philipps des Kühnen und Johanns ohne Furcht, die zu weiten Teilen auf das französische Königtum ausgerichtet war. Beide hielten sich nur selten im eigentlichen Burgund auf, und die niederländischen Teile ihres Herrschaftsgebietes zogen nur phasenweise ihre Aufmerksamkeit auf sich. Im letzten Kapitel wird die Nachgeschichte der burgundischen Niederlande unter den Habsburgern seit 1494 gerafft präsentiert. Die Darstellung endet mit dem für das Lehnswesen wichtigen sog. Damenfrieden von Cambrai 1529, da mit ihm die Grafschaft Flandern aus Frankreich herausgelöst und dem Reich übertragen wurde.
Im Mittelpunkt stehen die Regentschaften der machtvollen Herzöge Philipp der Gute (1419–1467) und Karl der Kühne (1467–1477). Hierzu gehört auch die Fortführung der Politik unter Maria und Maximilian (1477–1482) und die für die Landesherrschaft schweren Krisenjahre unter Maximilians von den Ständen bestrittener Alleinherrschaft (1482–1492). Bemerkenswerterweise führten die erbitterten Kämpfe zwischen Ständen und Fürst nicht zu einem Auseinanderbrechen des Länderkonglomerats. Die Einheit der Niederlande blieb gewahrt, da die Stände sie mittrugen, die Ländereinheit also nicht mehr nur von der Person des Fürsten abhing.
An den Anfang werden zwei Ausgangspunkte gesetzt, von denen der erste der modernen Forschung, der zweite der Vorgeschichte der verschiedenen Territorien gilt.
1.1 Ausgangspunkt: Moderne Literatur
Ausgangspunkt einer jeden Beschäftigung mit der Geschichte der burgundischen Niederlande sind die vier Bücher Richard Vaughans über die Herzöge Philipp den Kühnen, Johann ohne Furcht, Philipp den Guten und Karl den Kühnen. Es handelt sich bei ihnen nicht um Biographien im engeren Sinne, sondern um Darstellungen ihrer Machtpolitik im Hinblick auf die Verdichtung der Herzogsherrschaft zu einem, wenn man so will, Staat. Die Wertschätzung, die die moderne Forschung Vaughans Büchern entgegenbringt, wird daraus ersichtlich, dass sie Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen mit einem die jüngere Forschung resümierenden Vorwort und einer Ergänzungsbibliographie versehen wieder aufgelegt wurden.
Walter Prevenier und Wim Blockmans haben in mehreren Gesamtdarstellungen die Ergebnisse der in den 1970er und 1980er Jahren betriebenen sozio-ökonomischen Geschichtsforschung gebündelt. Als eine solche Gesamtdarstellung ist das 1986 erschienene, großmächtige und fulminant bebilderte Werk Die Burgundischen Niederlande zu nennen (1986, auch ndl., frz. und engl.). In der jüngsten Vergangenheit erfuhr die früher etwas stiefmütterlich behandelte Zeit nach 1477 mehr und mehr Aufmerksamkeit. So legte 2003 Jean-Marie Cauchies eine Biographie Philipps des Schönen vor mit einem bezeichnenden Untertitel, der diesen auch in Kastilien herrschenden Habsburger-Sohn als burgundischen Herzog reklamiert (Philippe le Beau. Le dernier duc de Bourgogne). Die Herrschaft Maximilians (1477–1494) hat bisher keine umfassende Gesamtwürdigung gefunden, näher untersucht wurde die gemeinsame Regierung von Maria und Maximilian 1477–1482 von Jelle Haemers: For the Common Good (2009), und die Auseinandersetzung zwischen Maximilian und den Ständen Flanderns 1482–1488, ebenfalls von Jelle Haemers: De strijd om het regentschap over Filips de Schone (2014). Für die Zeit Maximilians ist man daneben auf die entsprechenden Abschnitte in Hermann Wiesfleckers mächtiger Maximilian-Biographie angewiesen.
Neben den bereits genannten Werken von Prevenier und Blockmans hat die ältere und populäre Darstellung von Joseph Calmette über die Großen Herzöge von Burgund (im frz. Original 1949, in dt. Übersetzung zuletzt 1996) weite Verbreitung gefunden. Sowohl biographisch als auch sachthematisch ausgerichtet ist der detaillierte und faktengeschichtlich gehaltene Überblick von Bertrand Schnerb über den L’état bourguignon (1999). Nicht zu vergessen sind die einschlägigen Beiträge in der Algemenen Geschiedenis der Nederlanden aus den 1950er Jahren und der sozial- und wirtschaftsgeschichtlich ausgerichteten (Nieuwe) Algemene Geschiedenis der Nederlanden aus den 1980er Jahren. Als jüngeres Handbuch ist noch zu verweisen auf die 2010 erschienene Darstellung von Wim Blockmans: Metropolen aan de Nordzee, in welchem vor allem die Rolle der Städte als entscheidend in den Vordergrund gestellt wird. Von Robert Stein erschien 2014 die bisher jüngste Gesamtschau der Beziehungen zwischen den Herzögen und den Land- bzw. Generalständen, die bis in die 1480er Jahre reicht.
Die Erforschung der burgundischen Niederlande wird durch einen überbordenden Reichtum der Quellen geradezu behindert, wie Werner Paravicini in einem Aufsatz mit dem Titel Embarras de la richesse mit vielen Beispielen ausführt. Als Überblick über das Schriftgut der landesherrlichen Kanzleien, der Gerichtshöfe und der Rechenkammer dient das Werk von Robert-Henri Bautier und Janine Sornay: Les sources de l’histoire économique et sociale du Moyen Âge (1984 und 2001). Insbesondere sind vor allem die Rechnungen der herrschaftlichen Amtsträger und der Städte zu nennen, von Adligen sind vergleichsweise wenige überliefert.
Die spätmittelalterlichen Niederlande sind berühmt für ihre Städte, von denen man im Allgemeinen an die drei größten in Flandern denkt: Brügge, Gent und Ypern mit ihren jeweils ungefähr 40 000–60 000 Einwohnern. Sie kennen eine reiche Historiographie, die hier nicht weiter ausgebreitet werden kann. Als Beispiel eines umfassenden Handbuchs sei lediglich auf Jan van Houtte: Geschiedenis van Brugge (1982) hingewiesen. Festzuhalten bleibt, dass die Städte trotz ihrer Größe und politischen Bedeutung unter der Botmäßigkeit des Stadtherrn blieben, obwohl es nicht an Versuchen gefehlt hat, diese abzuschütteln, wie man insbesondere an Gent sehen kann. Dieser Stadt haftet der Ruf an, besonders rebellisch gewesen zu sein, so Johan Decavele (Hg.): Ghent. In Defence of a Rebellious City (1989), und Marc Boone: Gent en de Bourgondische hertogen (1990), und ferner Marc Boone: Geld en macht. Gentse stadsfinanciën en Bourgondische staatsvorming (1990).
Überhaupt ist nicht zu vergessen, dass es neben den großen und mittelgroßen eine Fülle kleinerer, mindermächtiger Städte gab. In der Grafschaft Flandern ist zudem das Phänomen zu beobachten, dass die drei großen Städte...