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E-Book

Geschichte der Russlanddeutschen

Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart

AutorGyörgy Dalos
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl331 Seiten
ISBN9783406670183
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Die Geschichte der Deutschen im russischen Zarenreich reicht bis tief ins Mittelalter zurück. Einen bemerkenswerten Aufschwung erlebte sie 1763 mit dem Einladungsmanifest von Katharina II. Die aufgeklärte Monarchin forcierte die Besiedelung ihres Herrschaftsgebietes und die Erschließung seiner Naturreichtümer. Mitteleuropa war gerade durch den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) verwüstet worden. Daher sahen viele Rheinländer, Bayern, Badener und Hessen ihre Zukunft an der unteren Wolga und in der Schwarzmeerregion. Angelockt wurden sie von Katharinas Versprechen, ihnen Religionsfreiheit, Entbindung vom Militärdienst und Steuererleichterungen zu gewähren. Ihre Nachkommen erlebten 100 Jahre später, wie die Reformen Alexanders II. ihren materiellen und gesellschaftlichen Status nachhaltig beeinträchtigten. Die 1897 rund 1,7Millionen Menschen zählende Minderheit sah sich zudem einem zunehmenden Nationalismus ausgesetzt, der in den Anfeindungen als 'Verräter' im Ersten Weltkrieg eskalierte. Pogrome, Deportationen und der wirtschaftliche Ruin wurden von der Oktoberrevolution zunächst aufgehalten. Krieg und Revolution hatten aber die Landkarte verändert, und viele Angehörige der Minderheit befanden sich nun nicht mehr auf russischem Gebiet und dennoch unter sowjetischer Herrschaft. Überließ ihnen Lenin zunächst eine autonome Republik an der Wolga, gerieten sie spätestens Ende der 1930er Jahre im Zuge des Stalinistischen Terrors erneut unter Generalverdacht. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion folgten entweder die Umsiedlung in den Westen durch die Nationalsozialisten oder die Deportation in den Osten durch das Sowjetregime. Erst das Tauwetter unter Chruschtschow brachte den Überlebenden eine begrenzte Freiheit zurück und in den folgenden Jahrzehnten die Möglichkeit zur Ausreise in die Heimat ihrer Ahnen.

György Dalos, 1943 in Budapest geboren, studierte in den 1960er Jahren Geschichte in Moskau. Er kam 1984 nach Deutschland, arbeitete für die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und später von Wien aus als freier Journalist. Von 1995 bis 1999 leitete er das Haus Ungarn in Berlin. Bis 2011 war Dalos Mitherausgeber der Wochenzeitschrift der Freitag. Er wurde 1995 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und 2010 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

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Leseprobe

Die heile Welt der Kolonisten


War ein schöner großer Garten,

Standen wenig Bäume drin.

Fleißig täte seiner warten

Eine große Gärtnerin.

Wollt ihn schöner haben gerne,

Holte Bäume aus der Ferne.

Russland ist der große Garten,

Katharina – Gärtnerin,

Und die Deutschen, die sich scharten

Auf den Ruf der Kaiserin,

Sind die Bäum’ aus fremdem Land

Beiderseits am Wolgastrand.

(Volkslied)

Die junge Zarin war alles andere als eine sentimentale Menschenfreundin. Wenn es um die Ausschaltung ihrer Rivalen ging, war sie bereit, über Leichen zu gehen. Deren erste war ihr eigener Ehemann, Peter III., der 1762 nach einem halben Jahr Herrschaft durch einen Staatsstreich gestürzt und ermordet wurde. Die nächste war der junge Iwan VI., den die Putschisten als legitimen Thronfolger in der Festung Schlüsselburg einsperrten, um ihn 1764 wegen eines angeblichen Fluchtversuchs ebenfalls zu liquidieren. Obwohl die direkte Beteiligung der Zarin an diesen Vorgängen niemals bewiesen werden konnte (Peters Mörder wurde sogar zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet), hatte «die Alleinherrscherin aller Reußen» zu Beginn ihrer Regierungszeit eine ziemlich schlechte Reputation im Ausland. Umso befremdlicher wirken Voltaires Sätze aus einem Brief an d’Alembert von 1763: «Ich weiß, man macht ihr Vorwürfe aus Bagatellen in Bezug auf ihren Ehemann, das sind aber familiäre Angelegenheiten, die mich nichts angehen. Ansonsten ist es keineswegs schlecht, wenn jemand einiges abzubüßen hat. Dies zwingt sie zu großen Anstrengungen, um die Anerkennung und Bewunderung der Öffentlichkeit erheischen zu können.» Seinerseits schrieb d’Alembert über den Tod von Iwan VI. an Voltaire wie folgt: «Meine gute russische Freundin publizierte eine großangelegte Erklärung zu den Abenteuern des Fürsten Iwan, der laut ihrer Meinung zu einer Art blutrünstiger Bestien gehörte. (…) Trotzdem ist es peinlich, wenn jemand so viele aus dem Weg räumen muss. (…) Ich bin mit Ihnen einverstanden: Die Philosophie muss auf solche Schüler nicht allzu stolz sein. Aber was wollen Sie? Wir sollten unsere Freunde samt deren Fehlern lieben.»[1]

Dieser geistreiche, zynische, kokette, teilweise völlig verlogene Ton charakterisiert auch den umfangreichen Briefwechsel zwischen Voltaire und Katharina. Den obersten Aufklärer und die autokratische Herrscherin des Riesenreiches verband eine Art Notkoalition. Der Enzyklopädist brauchte den allgemein bekannten Nexus zur Zarin als Druckmittel gegen die weltlichen und kirchlichen Autoritäten seiner Heimat, während die Monarchin durch ihre in perfektem Französisch verfassten Episteln ihr nicht besonders gutes Image in Europa aufzupolieren suchte. Die Korrespondenz zeigt zwei souveräne, liberale Geister, die sich über alles unbefangen austauschen konnten. Die kriegführende, Hinrichtungen anordnende, mit ihren Rivalen gnadenlos abrechnende Katharina erschien im Prisma ihrer französischen Freundschaften als Vertreterin eines «Reformfeudalismus», die zumindest in ihren Absichtsbekundungen viel weiter zu gehen bereit war als die anderen, die konkurrierenden Kaiser und Könige des Kontinents: Ludwig XV. in Frankreich, Maria Theresia und Joseph II. im Habsburgerreich und Friedrich II. in Preußen. Tatsächlich bangten zu dieser Zeit alle Majestäten der Alten Welt um die Beibehaltung wenn schon nicht des ganzen Regimes, dann doch wenigstens der Institution der Monarchie, denn sie merkten bereits – und in diesem Sinne waren sie wirklich «aufgeklärt» –, dass Gottes Gnade allein keine ausreichende Garantie für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft darstellte. Leere Staatskassen, Bauernaufstände, nationale und konfessionelle Unruhen forderten den Souveränen immer mehr politische Sachkenntnis und nüchterne Urteilskraft ab.

«Gegeben zu Peterhof, im Jahre 1763 den 22ten Juli, im Zweyten Jahre Unserer Regierung (…) Da Uns der weite Umfang der Länder Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so nahmen Wir unter anderem wahr, daß keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die meisten Ländereyen in ihrem Schoose einen unerschöpflichen Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Metallen verborgen halten; und weil selbiger mit Holzungen, Flüssen, Seen und zur Handlung gelegenen Meerung genugsam versehen, so sind sie auch ungemein bequem zur Beförderung und Vermehrung vielerley Manufacturen, Fabriken und zu verschiedenen Anlagen. Dieses gab Uns Anlaß zur Erteilung des Manifestes, so zum Nutzen aller Unserer getreuen Unterthanen den 4. December des abgewichenen 1762 Jahres publiciert wurde. Jedoch, da wir in selbigen Ausländern, die Verlangen tragen würden, sich in Unserem Reich häuslich niederzulassen, Unser Belieben nur summarisch angekündiget; so befehlen Wir zur besseren Erörterung desselben folgende Verordnung, welche Wir hiermit feierlichst zum Grunde legen, und in Erfüllung zu setzen gebieten.» Die beiden Manifeste garantierten den nach Russland kommenden Ausländern in ländlichen Gegenden dreißig, in den Städten fünf Jahre Steuerfreiheit, zollfreie Einfuhr ihres Vermögens, Kredite für Hausbau, Boden und Nutztiere sowie landwirtschaftliche Technik und außerdem die Genehmigung, mit ihren Produkten Handel zu treiben. Zum Angebot gehörte auch die vollkommen ungehinderte Ausübung ihres Glaubens, «die Freyheit, Kirchen und Glocken-Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Priester und Kirchendiener zu unterhalten». Die Neubürger sollten «während der ganzen Zeit ihres Hierseins (…) wider Willen weder in Militär noch Civil-Dienst genommen werden.» Als absolutes Privileg wurde diesen «ausländischen Capitalisten», also Kapital-Anlegern, gestattet, «für ihre Fabriken und Manufacturen erforderliche leibeigene Leute und Bauern zu erkaufen.» Allerdings wurde diese Freiheit der Sklavenhaltung durch das Statut von 1857 dahingehend eingeschränkt, dass weder Russen noch christliche Georgier als Unfreie beschäftigt werden durften. Und zu guter Letzt gestand der russische Souverän den künftigen Bewohnern der «Colonien oder Landflecken» eine eigene Verfassung und Jurisdiktion zu. Zugesichert wurde also Selbstverwaltung, wobei die eigens für die neuen Kolonien geschaffene staatliche Behörde, die «Kanzlei der Vormundschaft», nicht über das Recht verfügte, sich in innere Angelegenheiten der Zuwanderer einzumischen.

Abb. 1: Katharina die Große, «Zarin aller Reußen», Stahlstich nach einem zeitgenössischen Gemälde

Obwohl die Zarin diese mehr als großzügige Avance formal an alle immigrationswilligen Ausländer adressierte – «krome shidow», mit Ausnahme der Juden, wie der zeitgeistgerechte Vorbehalt hieß –, betrachtete sie als eigentliche Zielgruppe des Manifestes die vom Siebenjährigen Krieg (1756–1763) schwer in Mitleidenschaft gezogene deutsche Bevölkerung. Um aus dem armen Land möglichst viele arbeitsfähige, fleißige Bauern und Handwerker herauszulocken, startete sie eine beinahe modern anmutende Umsiedlungskampagne, angeführt von Iwan Smolin, dem russischen Residenten am Reichstag zu Regensburg. Von Ulm bis Hamburg richtete man in zahlreichen deutschen Städten Sammelpunkte ein, von denen aus die angeworbenen Kolonisten in die Häfen Lübeck und Danzig gebracht wurden. Besonders aktiv an der Werbung beteiligt war ein früherer Beamter der Holsteinisch-Gottorper Kanzlei, Iwan (Johannes) Facius, der 1765 in russische Dienste trat und von Katharina als «Kronagent» eingesetzt wurde. Das Manifest der Zarin, eigentlich ein Ukas für den eigenen Senat, wurde in den deutschen Fürstentümern, in Österreich, Frankreich, Dänemark und den Niederlanden in der Presse veröffentlicht. Da die großangelegte Kampagne diplomatische Schwierigkeiten nach sich ziehen konnte, wich der Petersburger Hof auf private Agenturen aus.[2] Diese lockten mittellose Bauern, Handwerker und zerlumpte Söldner mit «Essgeld» – für erwachsene Männer 16 Kreuzer pro Tag, für Halbwüchsige und Frauen zehn Kreuzer, für Kinder sechs Kreuzer – in die Auswanderungshäfen und bekamen pro angeworbenem Auswanderer ein Kopfgeld.

Die erste Gruppe der Umsiedler kam mit dem Schiff aus Lübeck und erreichte über St. Petersburg Anfang Mai 1764, am 26. Tag der Reise, ihren Bestimmungsort, die Stadt Saratow an der Wolga. «Während der ganzen Zeit der Fahrt», so tönte ein propagandistisch angehauchter Reisebericht, «starb von 269 Familien nur ein Kind, während unterwegs 27 Kinder auf die Welt kamen.» Die von den Kolonisten versendeten Briefe bordeten über vor Glück und Zufriedenheit. Außer den niedrigen Preisen für Brot, Butter, Rind- und Schweinefleisch, Fisch und praktisch alle Lebensmittel, des Weiteren für Pferde, Kühe und Geflügel, wurden auch die günstigen klimatischen Bedingungen...

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