II.
Der Buchhandel im Zeitalter der Konfessionskämpfe
Im Jahr 1504 klagte der Großverleger Koberger seinem Basler Geschäftsfreund Amerbach über den Absatz einer aufwendigen Bibelausgabe: „Es ist warlich ein unkewfflich werk. Ich hett mich versehen, er solt anders von statt gangen sein. Aber der handel der bucher ist so gancz nichtz mer, das ich nicht weiß, was man machen möchte […]. Woll hab ich das gesant allenthalben jn das lantt. Die pleyben do ligen, und wirt nichtz domitt geschafft.“[1]
Zwei Jahre später zeigte sich der Humanist Johannes Reuchlin höchst befremdet, daß seine Grammatik des Hebräischen (mit der die neuzeitliche Hebraistik begann) auf der Frankfurter Messe so gut wie unverkäuflich sei. Kein Buchführer wolle sich damit abgeben. Von den 1500 gedruckten Exemplaren waren nach vier Jahren noch 600 vorrätig. Ähnlich äußerten sich andere Humanisten. Was war geschehen?
Der Buchhandel der Frühdruckzeit erlebte seine erste schwere Absatzkrise. Die unermüdliche Begeisterung, mit der die Verleger und Gelehrten immer neue Kostbarkeiten aus dem Staube der Klosterbibliotheken zogen und den Druckerpressen anvertrauten, ließ nach. Nach wenigen Jahrzehnten schien die bisher weit verstreute Überlieferung von fast zwei Jahrtausenden dank des Spürsinns und Fleißes der Editoren wieder allgemein verfügbar. Die Aufnahmefähigkeit war erschöpft, die Klöster und die Geistlichkeit waren des scheinbar endlosen Stroms kostspieliger Folianten überdrüssig: „Man hatt die pfaffen So ganncz außgelertt mit den buchern, so vil Gelczs von in czogen, Das [sie] nit mer dar an wollen“, konstatierte wiederum Koberger gegenüber Amerbach.[2] Der internationale Buchhandel, der ganz Europa mit enormer Leistungsfähigkeit zu versorgen vermochte, stieß an die Grenzen der Gelehrtenrepublik.
Doch die Stagnation dauerte nicht lange. Denn just in diesem historischen Augenblick gewann das Buch eine neue Dimension: Es wurde zum Massenmedium in der Volkssprache. Vielleicht wäre es der Reformation ohne die mächtige Bundesgenossin der Druckerpresse ebenso ergangen wie noch hundert Jahre zuvor der hussitischen Bewegung – ihr religiöser und sozialer Reformeifer fand in Mitteleuropa keine schnelle Verbreitungsmöglichkeit, ihr Funke verglomm.
Schon die dürren statistischen Zahlen verraten, was geschah: Für das Jahrfünft von 1513 bis 1517 verzeichnen ältere (sicher unvollständige) Bibliographien insgesamt 527 deutschsprachige Drucke, für die folgenden fünf Jahre 1518 bis 1523 dagegen 3 113, also etwa das Sechsfache.[3] Im Jahr 1500 betrug das Verhältnis der lateinischen zu den deutschsprachigen Neuerscheinungen zwanzig zu eins, im Jahr 1524 nur mehr drei zu eins.
Dieser radikale Wandel beruhte im wesentlichen auf dem Wirken eines einzigen Mannes: Martin Luther. Luthers Bedeutung für das Buchwesen seiner Zeit ist erst jüngst durch eine umfassende Studie von H. Flachmann gewürdigt worden. Sie ergänzt die zahlreichen Darstellungen zur Reformationsgeschichte, in denen die Wichtigkeit des Buches für die Ausbreitung der Bewegung betont wird.
Bereits die erste lateinische Sammelausgabe von Luthers Schriften, die der Basler Verleger Froben (übrigens ohne Vorwissen des Autors) veranstaltet hatte, war binnen weniger Monate in erster und zweiter Auflage vergriffen. Froben teilte Luther am 14. Februar 1519 mit, daß er auch an der Sorbonne, in Brabant, England und Italien damit Erfolg erzielte: „Unsere Exemplare haben wir alle bis auf 10 verkauft; noch bei keinem Buch haben wir einen günstigeren Absatz zu verzeichnen gehabt.“[4] Die Resonanz von Luthers folgenden Werken war noch weit heftiger: Sie erschienen in den Jahren zwischen 1518 und 1523 in Dutzenden, ja Hunderten von Editionen, großteils als Broschüren im Quart- oder Oktavformat von wenigen Druckbogen Umfang, die schnell herzustellen, schnell nachzudrucken und schnell zu vertreiben waren. Friedrich Kapp fand in seiner „Geschichte des Deutschen Buchhandels“ vor gut hundert Jahren dafür die so enthusiastischen wie plastischen Worte:
„Bis auf Luther waren die in Deutschland gedruckten Bücher in der Regel große und teuere, meist vornehm ausgestattete Folianten oder auch Quartanten, welche man bequem in den Bibliotheken nach damaligem Brauch an die Kette legen, aber nicht in die Welt hinausschleudern konnte, wie die handlichen Oktavbände. Er vorwiegend führte zuerst das demokratische Flugblatt in Quart, die billigen Duodez- und Oktavschriften von wenig Bogen massenhaft in die deutsche Literatur ein. Auch das war eine revolutionäre That, die vielleicht ebenso entscheidend auf die Geschicke der Menschheit einwirkte, wie im Kriege der leichte Fußsoldat, der den gepanzerten Ritter verdrängte, und wie im modernen Wirtschaftsleben die Siebenmeilenstiefel der Eisenbahn, welche den alten Frachtwagen überflügeln […]. Indem Luther das heftige Kleingewehrfeuer der politischen und kirchlichen Flugschrift gegen das schwere Geschütz der Quartanten und Folianten eröffnete, erhob er erst die Buchdruckerkunst zu ihrer eigentlichen Bedeutung und gewann in ihr einen tausendzüngigen Herold, den keine mündliche Propaganda ersetzen konnte.“[5]
Luthers berühmte 95 Ablaßthesen waren zunächst nur für ein gelehrtes lateinkundiges Publikum gedruckt worden. Als im Frühjahr 1518 eine deutsche Fassung mit dem Titel „Ain Sermon von Ablaß und Gnade“ erschien, erlebte sie in nur zwei Jahren nicht weniger als 23 hochdeutsche und zwei niederdeutsche Ausgaben. Im August 1518 kam „An den Christlichen Adel Deutscher Nation“ in der für diese Zeit enormen Erstauflage von 4.000 Exemplaren heraus – und war in fünf Tagen vergriffen, fünfzehn weitere Auflagen folgten schnell. Kaum geringeren Absatz fanden Luthers folgende, mit scheinbar unerschöpflicher Produktivität veröffentlichten Schriften.
Die Wirkung auf den Buchmarkt war überwältigend: Nicht nur trat der ohnehin schleppend absetzbare scholastische und theologische Wust völlig in den Hintergrund, sondern sogar die Manuskripte der renommierten Humanisten bis hin zu Erasmus blieben liegen. Sie, deren Projekte bisher stets das geneigte Ohr der Verleger gefunden hatten, mußten plötzlich vergebens eine Offizin nach der anderen abklappern. Altgläubige Druckerverleger wie Froben, der 1524 von dem zuvor risikolosen Brotartikel „De civitate Dei“ des Augustinus kein einziges Exemplar loswurde, und sogar Koberger gerieten in finanzielle Bedrängnis. Erasmus von Rotterdam beklagte sich 1523 bei König Heinrich VIII. von England, in Basel wage niemand nur ein Wörtchen gegen Luther drucken zu lassen, während man gegen den Papst schreiben dürfe, soviel man wolle. Sein Kontrahent Ulrich von Hutten lief dagegen, wie viele andere Humanisten, mit fliegenden Fahnen zur Reformation über. Er übersetzte 1520/21 seine lateinischen Dialoge in die Volkssprache mit der Begründung: „Latein ich vor geschrieben hab/das war eim jeden nit bekannt/Jetzt schrei ich an das Vaterland/teutsch Nation in ihrer Sprach/zu bringen diesen Dingen Rach.“
Der Buchhandel schien plötzlich eine Goldgrube: Junge, unternehmungslustige Drucker und Verleger konnten jahrelang bar jeden Risikos Luthers Schriften nachdrucken und unter die Leute bringen. Das zuvor völlig unbedeutende Wittenberg, der Wohnort des Reformators, wurde zu einer blühenden Metropole des Buchdrucks – man feierte es gar als zeitweilige „Medienhauptstadt des Abendlandes“[6] –, sank nach seinem Tode aber bald wieder in die Drittrangigkeit ab. Hier erschien bei dem Drucker Melchior Lotter auch Luthers bedeutendste sprachliche und literarische Leistung, die Übersetzung der Bibel.
Schon zuvor waren vierzehn hochdeutsche und vier niederdeutsche Versionen auf dem Markt gewesen; die hochdeutschen basierten allesamt auf einer älteren oberdeutschen (bairischen) Übersetzung. Dank der genialen Sprachkraft des abtrünnigen Augustinermönchs verdrängte seine sächsisch-mitteldeutsche Version die altgläubige –, künftig beanspruchte das modernere Lutherdeutsch des neuen Glaubens den Vorrang als Leitidiom. Zunächst übersetzte der Reformator das Neue Testament binnen nur elf Wochen. Die erste Auflage war im September 1522 in 2.000 Exemplaren vollendet – verlegt und finanziert von dem Goldschmied Döring und dem ebenso bedeutenden Maler wie Geschäftsmann Lucas Cranach dem Älteren. Der Preis des gebundenen Exemplars (ein Gulden) soll dem eines schlachtreifen Schweines entsprochen haben. Bereits nach zehn Wochen folgte die zweite Auflage, und allein in Wittenberg erschienen bis 1533 vierzehn hochdeutsche und sieben niederdeutsche Ausgaben; auf jede von ihnen entfielen etwa fünf auswärtige Nachdrucke. Damit dürften zu Lebzeiten des Reformators rund 200.000 Exemplare seines Neuen Testaments verkauft worden sein. Weitere Teile der Bibel kamen heraus, bis 1534 bei Hans Lufft in Wittenberg erstmals die komplette „Vollbibel“ vorlag, verlegt von einem Dreierkonsortium örtlicher Buchhändler. Bis zu Luthers Tod 1546 wurden insgesamt 354 hochdeutsche und 91 niederdeutsche Gesamt- und Teilausgaben seiner Bibelübersetzung gedruckt....