Vor dem Hintergrund der nun hinreichend breiten Textbasis, soll abschließend versucht werden die eingangs formulierte und untersuchungsleitende Fragestellung einer befriedi-genden Antwort zuzuführen: Welche inhaltlichen Konsequenzen bringt die paulinische Neuformulierung des ‚Sterbens-für’ Jesu Christi mit sich? Wenn dieser Tod schon vorpau-linisch als Stellvertretungsgeschehen gedeutet wurde, worin unterscheidet sich diese Inter-pretation dann von der genuin-paulinischen? Ist eine interpretative Innovation durch den Apostel überhaupt angezeigt, oder verbleibt Paulus trotz differenter Formulierungsweise letztlich doch gänzlich innerhalb des ihm vorgegebenen Deutungsrahmens?
Im Gegensatz zu den Analysen einer Vielzahl an Exegeten, geht unsere Evaluierung dabei nicht a priori von einer einzigartigen Reife und Tiefe paulinischer Theologie aus, derge-genüber die von ihm zitierten Traditionsstücke nur eine minderwertige und blasse Vorstufe darstellen. Vielmehr wird und wurde hier dem theologischen ‚Entwicklungsstand’ dieser nur bruchstückhaft erhaltenen und ohnehin nicht zweifelsfrei identifizierbaren Tradition, eine Aussageintention unterstellt, die der paulinischen bereits sehr nahe kommt, d.h. ihr wird ein ‚Reifegrad’ zugetraut, der sich mit paulinischem Denken durchaus messen kann. Der von Paulus notierte und von der neuzeitlichen Exegese als solcher identifizierte Nie-derschlag traditioneller Vorgaben wird als Segment eines größeren Vorstellungszusam-menhangs betrachtet, die überlieferten Zeilen als Träger eines ‚Bedeutungsüberschusses’ angesehen. Nichts anderes als das sollte ja die als ‚Provisorium’ konzipierte Relationierung von ‚vor-paulinisch: implizit’ – ‚genuin-paulinisch: explizit’ leisten. Wie die umfangreiche Textarbeit zeigte, lässt sich der Gehalt der relevanten Belegstellen in der Tat zu weiten Tei-len in dieser Weise kategorisieren. Eine Interpretation, die die Mehrdeutigkeit und Meta-phorizität der biblischen Texte erkennt und anerkennt, muss auch ‚zwischen den Zeilen le-sen’ dürfen. Dies umso mehr angesichts des fragmentarischen Charakters des traditionellen Formelgutes. Die exegetische Konsequenz aus dieser Feststellung lautet dann aber, die pau-linischen, das Sterben Jesu interpretierenden Motive nicht notwendig als erst und genuin paulinische Deutemodelle anzusehen. Stattdessen empfiehlt es sich, jedes, in Pauli Briefen zitierte Traditionsstück auf sein assoziatives Potential hin zu befragen und gegebenenfalls paulinisches Denken als dort bereits vorbereitet auszuweisen. Zu solcher Vorgehensweise berechtigt schon allein der Umstand, dass dem Traditionsgut mitunter erst durch assozia-tive Anreicherung mit dem später vom Apostel explizierten Gedankengut Konsistenz und Vollständigkeit zukommt.
Wenn Christus für ‚unsere’ Sünden starb, ‚wessen Sünden’ waren dies dann wohl, und was waren ‚wir’ konsequenterweise ante mortis Christi, wenn nicht ‚Sünder’?
Wenn Christi stellvertretender Tod das Ende ‚unseres’ sündigen Daseins bedeutet, weil mit ihm ‚unsere’ Sünden samt ihrer Konsequenzen gestorben sind, ist das dann nicht nur ‚die halbe Wahrheit’? Drängt sich der komplementäre Gedanke einer ‚Wieder-’ oder ‚Neugeburt’ nicht auf? Denn wo die alte Seinsweise endet, der Betreffende aber nicht im Tode bleibt, wohnt diesem Ende doch schon ein neuer Anfang inne. Von hier aus ist es dann aber nicht mehr weit zum Gedanken der Neuschöpfung.
Doch soll hier nicht das Unbeweisbare erwiesen werden. So wenig die Vertreter der ‚erst-Paulus-These’ das ‚vor-Paulus-noch-nicht’ belegen können, so wenig vermögen wir unser ‚implizit bereits vorpaulinisch angelegt’ nachweisen. Die Fragmentarizität der Quellen le-gitimiert nun einmal beide Annahmen. Allerdings, und diesem Aspekt zollt keine Stimme der ‚Opposition’ Beachtung, warnt, wie wir sahen, gerade die paulinische Textbasis davor, anhand von aus dem Kontext gerissenen Einzelaussagen vorschnell auf den hintergründig vorausgesetzten theologischen Gesamthorizont zu schließen.
Nähme man Paulus nämlich beispielsweise Gal 3, 13 ‚beim Wort’ und kannte den Kon-text nicht, würde man dem Fehlurteil erliegen, der Apostel deutete das Sterben Jesu als Akt exkludierender Stellvertretung.
Stünde dem Exegeten hingegen ausschließlich das Fragment von Röm 3, 25 und/oder Röm 5, 9 zur Verfügung, wer wollte es ihm verübeln, in Paulus einen Sühnetheologen zu sehen?
Bestünde die Textbasis einzig aus 2Kor 5, 14 und/oder 1Thess 5,10 – wie sollte erwie-sen werden, dass der Apostel in Identifikation und Partizipation nicht den Schlüssel zum Verständnis des Todes Jesu sah?
Läse der Exeget hingegen allein Röm 8,32 ohne Zugriff auf ausgleichende Verse wie Röm 5,6 / Gal 1,4 / Gal 3, 13 zu haben, so wäre sein Schluss auf Theozentrik ebenso nachvollziehbar, wie die Diagnose zugrundeliegender Christozentrik für einen Leser letztgenannter Stellen, dem die Kenntnis von Röm 8,32 verwehrt worden war.
Die freilich unvollständigen Exempla zeigen, wie unerlässlich die Kenntnis von Kontext und Vergleichsmaterial sind, um zu einer auch nur annähernd adäquaten Beurteilung der theologischen intentio einer Traditionsträgerschaft zu gelangen. Wo beides mangelt, sind der Spekulation kaum Grenzen gesetzt. Die hier vertretene Position, wie auch die nun fol-genden theoretischen Abschlusserwägungen wollen deshalb ausdrücklich als korrekturof-fene Vorschläge gelesen werden und erheben keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit.
Die vorpaulinische Tradition trägt also die von Paulus explizierte Motivik zu großen Teilen bereits in sich. Vereinzelte Formulierungen und damit Gedanken des Apostels transzendie-ren die tradierten Gehalte allerdings in der Tat so weit, dass sich eine vorpaulinische Anla-ge derselben schlicht nicht plausibel machen lässt. Am deutlichsten ist dies der Fall im Hin-blick auf die universale Ausweitung des Geltungsbereiches des ‚Sterbens-für’ Jesu.[204] Keine der oben betrachteten, präpaulinischen Formeln gibt auch nur latenten Hinweis da-rauf, dass hier mehr als die jeweils unter das ‚Wir’ Zusammengefassten angesprochen wä-ren. Das stellvertretende Sterben Jesu gilt stets ausschließlich Autor und Adressat des je-weiligen Briefes, bzw. unter Berücksichtigung des nicht näher bekannten vorpaulinischen ‚Sitzes im Leben’: den Sprechern und Hörern des jeweiligen Zeugnisses. Die Auswirkun-gen des Stellvertretungstodes Christi kommen in dieser Lesart allein Gemeindemitgliedern zugute. Erst Paulus, der selbsternannte Heidenapostel, versteht das Sterben Jesu als ein alle Menschen umfassendes Stellvertretungsgeschehen, das der gesamten Menschheit Gerech- tigkeit vor Gott erbracht, „die Welt“ (2Kor 5,19) mit Gott versöhnt hat.
Lässt sich eine Universalisierung der Reichweite der Stellvertretung also aus keiner ur-christlichen Formel extrahieren, so läge der Schluss auf diesbezügliche genuin-paulinische Innovation nahe. Berechtigung hat diese Folgerung allerdings nur, sofern damit eine inner-neutestamentliche Neuerung ausgesagt sein will. Bemüht man aber den Blick über die Grenzen des neutestamentlichen Schrifttums hinaus, bedarf dieses Urteil der Korrektur:
Das vierte Gottesknechtslied[205] nämlich, welches dem ehemaligen Pharisäer und jetzigen Judenchristen Paulus durchaus bekannt gewesen sein dürfte, hielt lange vor dem Apostel das stellvertretende Sterben eines Gerechten, der sein Leben zur Tilgung der Schuld „der Vielen“ (Jes 53, 11.12) dahingab, fest. Zwar finden sich liedintern auch offenkundig parti-kulare Aussagen (z.B. Jes 53, 4.5), im Gesamt zielt Jes 53 jedoch auf die universale Gel-tung des stellvertretenden Sterbens des Gottesknechtes, da ja die Nennung der ‚Vielen’ am Schluss des Liedes begegnet und somit gewissermaßen seine Klimax bildet.[206]
Verkörpert Jesus für Paulus also den deuterojesajanischen Gottesknecht? Wir wissen es nicht. Eine simple Gleichsetzung des Ebed mit Jesus Christus für das paulinische Den-ken anzunehmen, greift jedenfalls zu kurz. Neben anderen Aspekten, die das Konzept der Gottesknechtschaft sprengen, ist es vor allem der paulinische Glaube an die Gottes-sohnschaft Christi, der Jes 52,13 – 53,12...