5. Narrative/dramaturgische Einbindung der Gewalt
5.1 Pulp Fiction
Quentin Tarantino lässt der Gewalt in seinen Filmen sehr viel Raum. So auch in „Pulp Fiction“.
Der Regisseur hat sich in diesem Werk für seine tragikomische Inszenierung von Gewalt thematisch an der „Schundliteratur“ der dreißiger und vierziger Jahre, den Unterwelt-Geschichten des „Pulp“ bedient. (vgl. Schneider: Gewaltdarstellung im Film, 2001/2002, S.8)
Tarantino spielt – charakteristisch für den postmodernen Film - gerne mit den Erwartungen der Zuschauer.
Er lässt „Pulp Fiction“ einem gängigen Genre zugehörig erscheinen, um die Handlung dann plötzlich und ganz unerwartet fortzusetzen.
Das Unterlaufen genreüblicher Handlungen wird zumeist durch plötzliche Gewalt, eingebettet in Witz und Satire, herbeigeführt.
Beispiel
Vincent schießt dem Informanten Marvin, als er diesen innerhalb eines Gespräches bezüglich Gotteseingebung um seine Meinung bittet, plötzlich und unvermittelt ins Gesicht. Verblüfft stellt er fest: „Oh man, I shot Marvin in the face.“
Anschließend streiten sich Vincent und Jules darüber, wie das passieren konnte, denn Vincent ist der Meinung, Jules sei über einen „Hubbel“ gefahren.
Der Zuschauer wird immer wieder mit unvermittelten Gewaltausbrüchen konfrontiert, die teilweise durch Schwarzblenden abgebrochen oder durch Ironie und Zynismus entschärft werden.
(Schneider: Gewaltdarstellung im Film, 2001/2002, S.10, Z.13-15)
Dieses dramaturgische Mittel dient dem Zweck, die Gewalt für das Publikum konsumierbar zu machen: Die plötzlich auftretende Gewalt wirkt auf diese Weise völlig überzogen und realitätsfern.
Der Film ist geprägt von einer episodisch-verschachtelten Erzählstruktur, innerhalb welcher drei Haupthandlungen erzählt werden: „Vincent Vega und Marsellus Wallace's Wife“, „The Golden Watch“ und „The Bonnie Situation“.
Die Spannung innerhalb des Filmes wird zu einem großen Teil durch diese chronologischen Verschiebungen aufgebaut. Sie erlauben dem Regisseur verblüffende Kniffe:
So werden Hauptfiguren zu Nebenfiguren und umgekehrt, die Auferstehung von Vincent Vegas in der Schlussperiode, nachdem er in der Mitte des Filmes erschossen wurde, wird möglich.
Diese Verfremdungseffekte irritieren den Zuschauer zunächst und setzen ihn somit in Distanz zum Geschehen.
Sie verweisen auf das Inszeniert-sein der Handlung und dienen somit als dramaturgische Prämisse zur Darstellung von Gewalt.
Mit dieser Form der Überrumpelung gelingt es Tarantino zudem, das Interesse des Zuschauers zu wecken und wachzuhalten.
“Answers first, questions later“ ist dabei seine narrative Devise.
(Schneider: Gewaltdarstellung im Film, 2001/2002, S.9, Abs.2, Z. 12)
Nach diesem Muster ist der Film von Anfang an aufgebaut.
Beispiel
Es wird ein dem Gangstermilieu zugehöriges Pärchen eingeführt.
Honeybunny und Pumpkin unterhalten sich in einem Restaurant über milieuübliche Themen, bevor sie unvermittelt zu einem Überfall übergehen, indem die beiden ihre Waffen ziehen und die übrigen Gäste im Restaurant bedrohen.
Genauso unvermittelt wie die Gewalt ausbrach, wird sie durch einen Schnitt und eine Schwarzblende auch wieder beendet.
Der Filmtitel wird zu belebender, an die 60er erinnernde Surfmusik eingeblendet, um gegen Ende des Vorspannes, mit dem Wechsel des Radiosenders zu „Jungle Boogie“, entspannten Funktönen von Kool & The Gang, zu wechseln.
Zwei gutgekleidete Männer mittleren Alters sitzen in einem Wagen und unterhalten sich über Haschbars. Erst als sie sich an den Waffen aus dem Kofferraum ihres Wagens bedienen, wird deutlich, dass es sich hier um Auftragskiller handeln muss. Die Frage nach den Hauptdarstellern, sowie den Beziehungen der Protagonisten untereinander bleibt weiterhin unbeantwortet.
Tarantinos postmoderner Film bricht – geprägt von einer episodisch-verschachtelten Erzählstruktur – regelmäßig die Erwartungen der Zuschauer. Dies hat den Effekt, dass vorkommende Gewalt konsumierbar gemacht und Spannung aufgebaut wird.
5.1.1 Gewalt innerhalb des Handlungsverlaufs und ihre Funktion
Betrachten wir dazu die drei Geschichten, in welche der Film aufgeschlüsselt werden kann:
a) „The Bonnie Situation“
b) „Vincent Vega and Marsellus Wallace's Wife“
c) „The Gold Watch“
Die Funktionen der jeweiligen Gewaltdarstellungen innerhalb des Filmes sind mit kursiver Schrift versehen.
a)
In der ersten Geschichte wird Gewalt eingesetzt, um Jules und Vincent einzuführen und als Auftragsmörder zu etablieren. Sie erschießen Brett und Roger, da es ihr Job ist und weil ihre Opfer die Spielregeln verletzt haben, indem sie ihren Boss Marsellus Wallace „gefickt“ haben.
Daraufhin erscheint überraschend ein Dritter im Zimmer, der sogleich das Feuer auf die beiden eröffnet, um auf die Bedrohung zu reagieren.
Doch die Killer bleiben - wie durch ein Wunder - unverletzt.
Jules hält dieses Erlebnis für göttliche Eingebung und beschließt, sein Leben als Auftragsmörder an den Nagel zu hängen und fortan anderen Dingen zu widmen.
Die Gewalt ist somit der Auslöser für einen Wendepunkt im Leben einer der Protagonisten.
Der folgende Gewaltakt ist wiederum Auslöser der sogenannten „Bonnie Situation“ und somit die Überleitung in eine neue Geschichte: Der versehentliche Schuss auf den Informanten Marvin ruft den „Problemlöser“ Wulf auf den Plan, der dem Duo behilflich sein wird, den Leichnam zu beseitigen.
Am Ende des Filmes stoßen Vincent und Jules auf ein Gangsterpärchen, welches im Begriff ist, das Restaurant auszurauben, in welchem sie frühstücken.
Die von Honeybunny und Pumpkin ausgehende Gewalt provoziert eine Reaktion auf Seiten der Killer. Doch Jules zeigt sich geläutert und lässt sie ziehen.
Zuvor wendet er jedoch eine abgeschwächte Form der Gewalt an, indem er sie mit seinem Revolver in Schach hält. Er macht sie somit von Tätern zu Opfern. Jules hat mit dieser Tat gleich zweifach für seine Taten gesühnt. Zum einen, indem er das Gangsterpärchen mit ihrem Leben davonkommen lässt und zum anderen, indem er den Koffer seines Bosses verteidigt, für den er in Zukunft keine Geschäfte mehr machen möchte.
b)
Die zweite Geschichte kommt fast gänzlich ohne Gewalt aus. Die Erpressung Butchs durch Marsellus Wallace ist eine strukturelle Form der Gewalt. Sie führt Marsellus Wallace ein und etabliert ihn als Zentrum der Macht.
Ein weiterer und gleichzeitig der einzige Akt physischer Gewalt, ist das Setzen der Adrenalinspritze in Mias Brust, nachdem sie Vincents Heroin für Kokain hält und eine Überdosis nimmt. Die Protagonisten werden aus der drohenden Gefahr entlassen und die groteske Situation löst sich auf.
c)
Die dritte Geschichte ist von Gewalt geprägt.
Marsellus Wallace wird hier selbst zur handelnden Figur, nachdem er in der vorherigen Episode lediglich kurz eingeführt wurde. Er ist Vincents und Jules Boss und der Mann von Mia.
Der erste Akt der Gewalt tritt in indirekter Form auf, als Butch seinen Gegner tötet. Dies erfährt der Zuschauer jedoch lediglich im Anschluss aus dem Radio, sowie von der Taxifahrerin Esmeralda, die ihm zu seiner Flucht verhilft. Mit diesem Akt wird Butch weiter charakterisiert: Er lässt sich nicht nur auf Deals mit der organisierten Kriminalität ein, sondern ist sogar bereit, diese zu hintergehen, indem er Gewalt gegen Dritte anwendet und sich großer Bedrohung auszusetzen, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Dabei geht er brutal und ohne Reue vor. Die Nachricht vom Tod seines Gegners tangiert ihn nicht im Geringsten.
Die nächste Form von Gewalt tritt auf, als Butch Vincent in seiner Wohnung erschießt. Butch reagiert auf die akute Bedrohung seines Lebens und setzt sich zur Wehr. Doch er tötet sein Gegenüber auch, um die Uhr seines Vaters zu retten und mit dieser Form von Loyalität die Familientradition zu wahren und somit gewissermaßen seine Ehre zu bewahren. Vincent hat mit seinem Tod für seine Unachtsamkeit gezahlt und sogleich für seine Taten gesühnt.
Kurze Zeit später, als Butch bereits den...