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E-Book

Good Vibrations

Die heilende Kraft der Musik

AutorStefan Kölsch
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783843720502
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Musik hält fit und macht gesund - und dies auf allen möglichen Ebenen, wie die Forschung beweist. Stefan Kölsch, international führender Neurowissenschaftler auf diesem Gebiet, beschreibt so anschaulich wie fundiert die Auswirkungen von Musik auf unser Gehirn, unsere Emotionen und unseren Körper und zeigt, wie die neuen Erkenntnisse für jeden praktisch anwendbar sind. Musik ist nicht nur schön - sie bewahrt auch unsere Gesundheit, hält jung und verbessert den Spracherwerb. Sie hilft bei Schlaganfall, chronischen Krankheiten und Demenz. Sie wirkt geradezu Wunder bei Wachkomapatienten. Die Bedeutung von Klängen und Melodien für unsere Psyche und unseren Körper findet immer mehr Beachtung und ist inzwischen unumstritten. Stefan Kölsch zeigt uns anhand vieler Beispiele aus seinem Forschungsbereich, weshalb Musik in allen Formen eine immer größere Rolle bei der Vorbeugung und Behandlung ganz unterschiedlicher Krankheiten einnimmt, sodass sie inzwischen einen neuen Wissenschaftszweig in der Gesundheitsforschung fundiert. Und er liefert zahlreiche konkrete Tipps, wie jeder von uns mit Musik im Alltag sein Wohlbefinden unterstützen und fördern kann.

Stefan Kölsch, geboren 1968 in Wichita Falls (Texas), schloss zunächst ein Geigenstudium ab und erwarb anschließend Diplome in Psychologie und Soziologie, bevor er am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig promoviert wurde. Er arbeitete an der Harvard University sowie im Exzellenzcluster 'Languages of Emotion' der FU Berlin und folgte 2015 demRuf auf eine Professur an die renommierte Universität Bergen in Norwegen.

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Leseprobe

Wie ruft Musik Emotionen hervor?


Im Jahre 1930 ordnete die Oberin der »School Sisters of Notre Dame« an, dass jede neue Nonne ihrer Kongregation vor Ablegen ihres Gelübdes eine Seite über die eigene Lebensgeschichte einzureichen habe. Hunderte von Nonnen schrieben daraufhin in den folgenden Jahren ihre Lebensgeschichte auf, sie waren im Durchschnitt 22 Jahre alt. Sieben Jahrzehnte später analysierte Deborah Danner 180 dieser Lebensgeschichten. Sie zählte, wie viele positive bzw. negative Erlebnisse beschrieben wurden und wie viele positive und negative Emotionswörter dafür benutzt wurden. Danner interessierte sich dafür, ob das Sterbealter der Nonnen, die besonders viele positive Erlebnisse beschrieben hatten, sich vom Sterbealter derjenigen unterschied, die besonders wenige positive Erlebnisse beschrieben hatten. Mögliche Unterschiede konnten ja nicht an den äußeren Lebensbedingungen liegen, denn diese waren für alle Nonnen sehr ähnlich. Auch ihre Lebensweisen waren fast gleich: Die Nonnen aßen gemeinsam, hatten ähnliche Tagesabläufe, und weder Alkohol noch Zigaretten standen bei ihnen besonders hoch im Kurs … Deborah Danner fand, dass die Nonnen, die im Alter von Anfang zwanzig besonders viele positive Erlebnisse beschrieben hatten, deutlich länger lebten als diejenigen, die nur wenige positive Erlebnisse beschrieben – im Durchschnitt zehn Jahre länger.1

Die Ergebnisse dieser Studie zeigen erstaunlich deutlich, dass eine positivere Einstellung zum Leben und eine damit verbundene positivere Stimmung dazu führt, dass wir länger leben. Wenn wir mit Musik unsere Stimmung positiv beeinflussen, tragen wir also dazu bei, dass wir länger leben – jeder Hasskommentar hingegen kostet einen Tag Lebenszeit.

Die heilsamen Wirkungen von Musik haben mit Emotionen zu tun. Musik kann positive Emotionen hervorrufen und diese können unserer Gesundheit förderlich sein. Die stärksten Heilkräfte hat unser Körper selbst – niemand kann unseren Körper besser heilen als er selbst. Ärzte und Medikamente können ihn bei der Selbstheilung nur unterstützen. Negative Emotionen stören Heilung und Regeneration, positive helfen der natürlichen Selbstheilung dabei, sich zu entfalten.

Wie ruft Musik eigentlich Emotionen hervor? Wie entstehen Emotionen überhaupt? Die meisten Leser/-innen kennen wenigstens eine Antwort auf diese Frage. Das Spektrum an Antworten ist tatsächlich erstaunlich breit. Das Verständnis davon, wie Musik Emotionen hervorrufen kann, kann uns helfen, unsere Gefühle und Stimmungen allgemein besser zu verstehen und die Good Vibrations von Musik heilsam wirken zu lassen – darum geht es in diesem Kapitel.

Weniger negative Bewertungen machen unser Leben positiver


Als junger Musikstudent war ich einst auf dem Weg von der Musikhochschule zu einem Konzert der Bremer Philharmoniker, als ich auf dem Domplatz Christian Tetzlaff umherirren sah. Er war der Solist des Abends und es war zehn Minuten vor Konzertbeginn. Ich bot ihm an, ihn zum Eingang des Konzerthauses zu bringen, was er gerne annahm. Auf dem Weg erzählte er mir, er sei von Hamburg aus in den Zug nach Hannover statt nach Bremen eingestiegen und dann von Hannover aus mit einem Taxi gekommen. Allein diese Vorstellung liefert mir ideales Material für Albträume. Nachdem er sich in aller Eile hatte umziehen müssen, stand er, ohne auch nur eine Minute Zeit zum Einspielen gehabt zu haben, wenig später auf dem Podium für das Violinkonzert von Beethoven. Ich erinnere mich heute noch daran, wie blitzsauber er die Oktaven spielte, mit denen das Konzert beginnt, und wie verblüfft ich darüber war, wie locker und sicher er das Konzert spielte – der Stress vor dem Konzert war ihm nicht im Geringsten anzumerken. Diese Aufführung in Kombination mit dem Wissen um die Hintergründe machte dieses Konzert für mich zu einem der denkwürdigsten, die ich jemals gehört habe. Genau dieselbe Musik ohne dieses Wissen hätte für mich ganz anders geklungen und bei mir andere Emotionen hervorgerufen.

Unsere Gedanken bzw. unsere Bewertungen beeinflussen unsere Emotionen also stark. Wenn wir über unsere Gefühle sprechen, meinen wir häufig, dass sie keinem bewussten Einfluss unterliegen, sondern wir ihnen machtlos ausgeliefert seien. Das ist ein Irrtum. Auch wenn diese Sichtweise für einige neu ist: Die Ursache eines Gefühls liegt nie einfach in einem Ereignis oder Objekt, sondern in unserem Gehirn. Gefühle kommen uns vor wie etwas, das ausgelöst wird und in uns auftaucht, ohne dass wir weiteren Einfluss darauf hätten. Wir lernen von klein auf, dass auf bestimmte Ereignisse bestimmte Gefühle folgen, und halten diese Ereignisse dann irrigerweise für die Ursache dieser Gefühle (dieser Fehlschluss wird in der Logik auch als »post hoc ergo propter hoc« bezeichnet). Zum Beispiel hören wir einen schönen Geigenton und fühlen daraufhin Vergnügen – das Vergnügen kommt jedoch weder aus der Geige noch aus dem Ohr, sondern entsteht in unserem Gehirn. Dabei folgt dieses Vergnügen auf den Geigenton hin keiner einfachen Gesetzmäßigkeit (wie etwa »wenn schöner Geigenton, dann vergnügliches Gefühl«), sondern oft in scheinbar völlig undurchschaubarer Weise. Wenn wir gerade einschlafen wollen und der Nachbar schon wieder laute Geigenmusik auflegt, reagieren wir auf denselben schönen Geigenton plötzlich ärgerlich. Die unterschiedlichen emotionalen Reaktionen auf denselben Geigenton rühren daher, dass unser Gehirn ihn in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich bewertet – unser Gehirn entscheidet, ob uns derselbe Geigenton Vergnügen oder Missvergnügen bereitet.

Bei meinem Erlebnis des Konzerts mit Christian Tetzlaff führte mein Wissen um die Situation zu besonders positiven Emotionen. Andererseits können uns auch die schönsten Geigentöne völlig kaltlassen, wenn uns Hintergrundwissen fehlt. Als Joshua Bell 2007 mit Baseballkappe in einer U-Bahn-Station in Washington, D.C., fast 45 Minuten lang exquisite Kompositionen für Violine solo auf seiner »Gibson ex Huberman«-Stradivari zum Besten gab, blieben von über tausend vorbeilaufenden Personen lediglich sieben für mehr als eine Minute stehen.2 Kaum jemand war also von den Geigentönen so angetan, dass es sich gelohnt hätte, stehen zu bleiben. Nur 27 Personen warfen Geld in den Violinkasten, insgesamt 32 Dollar. Bei einem normalen Konzert verdient Bell pro Minute 1000 Dollar. Der Grund für diese eklatante Diskrepanz ist, dass es für die meisten Menschen eine rechte Situation und Zeit für die Bach-Chaconne gibt, und dies war morgens um acht in der U-Bahn-Station nur für sehr wenige der Fall. Die schönen Empfindungen beim Hören schöner Geigenmusik entstehen eben im Gehirn – und selbst fabelhaft gute Musik wird, wenn sie zur Situation unpassend ist, als eher störend bewertet und löst negative Empfindungen aus. Manchmal sind wir glücklich, eine bestimmte Musik zu hören, und manchmal sind wir glücklich, wenn genau dieselbe Musik aufhört. Hätten die Passanten in der U-Bahn gewusst, dass sie eine einzigartige Musikdarbietung der Sonderklasse hören konnten (gratis!), wären ihre Bewertungen und damit ihre Empfindungen ganz anders ausgefallen.

Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Emotionen, die durch Musik hervorgerufen werden, sondern für Emotionen allgemein. Selbst bei Schmerz oder Hunger produziert unser Gehirn Empfindungen, nicht unsere Organe. Stellen wir uns einen Tubaspieler vor, dem sein Instrument auf den Fuß fällt. Er fühlt daraufhin Schmerz im Zeh. Das Schmerzgefühl kommt jedoch nicht aus dem Zeh, sondern entsteht in seinem Gehirn, und zwar mitnichten als quasi mechanische Konsequenz: Wenn dem Tubaspieler erst der Bügel der Posaune seines Nachbarspielers mitten ins Auge fährt und ihm daraufhin die Tuba aus der Hand und auf den Fuß fällt, wird der Schmerz im Zeh kaum noch zusätzlich zum Schmerz im Auge wahrgenommen. Auch wenn dem nächsten Tubaspieler dann dessen Tuba vor Lachen aus der Hand auf den Fuß fällt, tut es dem weniger weh, als wenn er in deprimierter Stimmung gewesen wäre und ihm zusätzlich zu allem Unglück auf der Welt nun auch noch die dumme Tuba auf den Fuß fällt. Und beide Tubaspieler spüren überhaupt keine Schmerzen mehr, wenn ich sie mit dem Satz ablenke: »Tuba – der Dickdarm des Orchesters.«

Schmerz und andere negative Gefühle einerseits und positive Gefühle andererseits funktionieren im Gehirn ähnlich einer Balkenwaage: Wer es schafft, bei negativen Gefühlen und Stimmungen durch einen positiven Gedanken ein paar Botenstoffe des Gehirns (»Neurotransmitter«) in die positive Waagschale zu werfen, hat weniger Kummer. Ähnlich wie Lachen kann angenehme Musik genau diese Botenstoffe freisetzen. (Achtung: Natürlich sind akute Schmerzgefühle wichtige Warnsignale des Gehirns, die uns motivieren sollen, unseren Körper zu schützen.)

In seinem Buch Das Publikum macht die Musik berichtet Sven Müller, dass das Konzertpublikum bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem die Komposition und die gefühlten Effekte bewertet habe, weniger die Qualität der Aufführung durch die Musiker. Die Uraufführung von Beethovens 9. Sinfonie 1824 in der Wiener Akademie wurde überwiegend von Laien und fast ohne Probe gespielt. Während diese Aufführung bei Publikum und Presse damals enthusiastische Begeisterung hervorrief, würden viele heutige Beethoven-Freunde bei einer ähnlichen Aufführung vor Ärger mit den Zähnen knirschen oder empört den Saal verlassen. Technische Perfektion war für die Zuhörer/-innen des frühen 19. Jahrhunderts weniger wichtig, solange man die Komposition nur hinreichend erkennen...

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