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II. Auseinandersetzung mit sich selbst
Ich verirre mich
im Labyrinth meiner Verzweiflung.
Wo nur ist der Ausweg?
Meine Gedanken suchen den Schuldigen am Tod meines Mannes.
Die Ärzte sind schuld; sie haben die Krankheit nicht rechtzeitig erkannt. Sie sprachen auch nicht deutlich genug vom Risiko der Operation. Wir hätten sonst nicht eingewilligt.
Nein, ich bin schuld: Ich hätte bei den ersten Krankheitsanzeichen auf eine Berufsänderung dringen sollen.
Er selbst war schuld, wage ich sogar zu denken. Er hätte auf seine Gesundheit achten müssen.
Niemand stirbt an einer Krankheit, sondern nur am Willen Gottes, erinnere ich mich.
Also ist Gott schuld: Er hätte den Tod verhindern können. Nicht nur die Kinder und ich, wie viele haben ihn doch um Genesung angefleht. Es wäre ihm leicht gewesen, unsere Bitte zu erfüllen; aber er wollte nicht.
So gab Gott dem Tod die Erlaubnis, den Körper meines Mannes sterben zu lassen – dem Tod, der alle dahinrafft. Gott und der Tod – sinniere ich. Ist der Tod Gottes Diener oder Gottes Feind?
Hat der Herr nicht alles darangesetzt, um den Tod zu vernichten? Ja, gewonnen war schon die entscheidende Schlacht, als Christus aus dem Grab auferstand und der Tod ohnmächtig zusehen musste.
Es wird ein Tag kommen, ein wunderbarer Tag, aus dem es keinen Tod mehr gibt!
Ich schlage 1. Korinther 15 auf und lese:
Der Tod ist verschlungen in den Sieg!
Tod, wo ist dein Stachel?
Hölle, wo ist dein Sieg?
Gott aber sei Dank,
der uns den Sieg gegeben hat
durch unseren Herrn Jesus Christus!
ERNST BARLACH
Jesus betet im Garten Gethsemane:
»Mein Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Leidens kelch an mir vorübergehen! Aber es soll geschehen, was du willst, nicht was ich will!«
MATTHÄUS 26,39
Wie kommt es eigentlich, dass ich nur Ehepaare sehe? Männer gehen mit ihren Frauen in die Kirche – nur ich bin einsam ; Männer kaufen zusammen mit ihren Frauen ein – nur ich bin allein; Väter halten ihre Kinder an der Hand – nur wir haben keinen; Familien fahren zusammen im Auto fort – nur wir nicht!
Ich klage vor Gott und klage an und weiß doch, dass er mir keine Rechenschaft schuldig ist.
In Gedanken sehe ich vor mir einen Wegweiser mit zwei Armen. Nur zwei Möglichkeiten gibt es für mich: Entweder rebelliere ich weiter gegen Gott und werde zerrieben – oder ich sage: »Ja, Vater!« – und komme innerlich zur Ruhe; entweder nähre ich den Groll gegen Gott und werde bitter – oder ich halte ihm vertrauensvoll meine innere Wunde zur Heilung hin.
Es war mir, als bäte Gott mich: »Gib mir dein Ja! Sag ja zu dem Weg, den ich dich führe, auch wenn du ihn noch nicht als richtig erkennen kannst!«
Jesus selbst hat um das Ja gerungen. Nach diesem Kampf konnte er beten:
»Ja, Vater, ja von Herzensgrund,
leg auf, ich will es tragen!«
EKG 62,3
Und Jesus nahm sein Kreuz auf sich und trug‘s nach Golgatha.
So will auch ich mein Kreuz auf mich nehmen und mich ihm anschließen.
Wohin führt dieser Weg? Mir scheint, als ging es noch tiefer ins Dunkle hinein. Werde ich je wieder herauskommen?
DEIN KREUZ. Gott hat das Kreuz vor aller Zeit ausersehen zum Heil der Welt. Durch Christus hat er es gesetzt zum Zeichen für alle Menschen. Er legte es dir auf zur Nachfolge und zur Teilhabe am Schmerz Gottes. Bevor er es dir schickte, hat er dieses Kreuz mit Aufmerksamkeit betrachtet, mit väterlicher Weisheit durchdacht, durchwärmt mit liebendem Herzen, gewogen in gütigen Händen und geprüft, ob es nicht einen Millimeter zu groß oder ein Milligramm zu schwer ist. Gesegnet hat er es mit dem Trost seiner Gegenwart, bedacht mit dem Reichtum seiner Gnade, beschenkt mit seiner erbarmenden Kraft. Dann hat er noch einmal auf dich und deinen Mut geblickt, und so kommt es schließlich zu dir als ein persönlicher Gruß Gottes an dich und als Zeichen seiner tiefen Liebe. (Nach Franz v. Sales)
In Gottes Hand
Du sahest mich, da ich noch gar
Fast nichts und unbereitet war,
Warst selbst mein Meister über mir
Und zogst mich aus der Tief herfür.
Erforsch, Herr, all mein Herz und Mut,
Sieh, ob mein Weg sei recht und gut,
Und führe mich bald himmelan
Den ewgen Weg, die Freudenbahn!
Mehre meinen kleinen Glauben
Und wehr allem, was da will
Dieses Schatzes mich berauben;
Führe mich zum rechten Ziel.
PAUL GERHARDT
Manche Freunde haben ihren Kondolenzbriefen den gleichen Spruch beigelegt. Beim Öffnen der Briefe fällt er mir immer wieder in die Hände:
Mein Vater,
ich verstehe dich nicht,
aber ich vertraue dir!
Den Satz: »ich verstehe dich nicht« kann ich voll bejahen. Aber kann ich in Gott noch meinen Vater sehen? Oft können Kinder das Handeln ihres Vaters nicht begreifen – dennoch ist und bleibt er ihr Vater; die Kindschaft wird dadurch nicht aufgelöst.
»Mein Vater«, spreche ich, »wenn ich dich auch nicht verstehe, bleibe ich doch dein Kind! Aber mein Vertrauen zu dir ist zerbrochen, denn du hast unsere Gebete um Genesung nicht erhört. Du siehst, die Fundamente meines Lebens sind erschüttert. Worauf soll ich jetzt bauen, wenn nicht auf dich? Mein Vater, schenke mir doch wieder neues Vertrauen zu dir!«
Eine bohrende Frage beherrscht mein Denken: »Warum gerade ich?« Als ich es wage, sie gegenüber jemandem auszusprechen, werde ich korrigiert: »Ein Christ fragt nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wozu?« Aber hat nicht auch Jesus geschrien: »Mein Gott, warum …?«
In mir sitzt die Angst, aus dem Bereich seiner Güte hinausgestoßen zu sein in die Verlassenheit: Gott straft mich! Ich quäle mich ab in dem dunklen Gefängnis der Verzweiflung. Doch plötzlich habe ich den Schlüssel in der Hand, er passt ins Schloss, die Gefängnistür springt auf! Heißt es nicht: »Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden haben!« (Jesaja. 53,5)?
Nicht eine Bestrafte bin ich, sondern eine Befreite; denn Christus hat meine Strafe auf sich genommen, weil er mich lieb hat.
Also nicht bestraft, vielmehr geliebt! Geliebt von Gott!
Doch welches Ziel hat er, wenn er mir dieses Leid zufügt? Bei Jesaja 48,10 finde ich einen Hinweis:
»Geprüft habe ich dich im Glutofen des Leides!« spricht Gott.
Er ist der Schmelzende und zugleich der Goldschmied. Er schmilzt das Edelmetall im Tiegel und bestimmt den Hitzegrad, bis es von aller Schlacke gereinigt ist. Geduldig wartet er, bis das brodelnde Metall sich beruhigt und die Oberfläche so glatt ist, dass sie sein Antlitz widerspiegelt. Erst danach kann der Goldschmied das reine Gold oder Silber nach seinem Plan zu einer Kostbarkeit formen. Rohes Erz wird verwandelt in ein Kunstwerk!
Ich ahne noch nicht, dass ich diese schmerzhafte Prozedur erleiden muss, um als Veränderte ein neues Land zu betreten; denn angenommenes Leid trägt viel zu unserer Verwandlung bei.
HANNA NAGEL: HIOB
Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich 32 Jahre alt war. Wir hatten vier gesunde Kinder, wohnten in einem Haus mit einem großen Garten, ich war vital und voller Zukunftshoffnung. Da wünschte ich mir als krönenden Abschluss unserer Kinderschar Zwillinge! Schon ein Jahr später hatte ich rechts und links je einen sechs Pfund schweren, neugeborenen Buben im Arm! Ich schaute in das erstaunte Gesicht meines Mannes und neckte ihn: »Jetzt brauch‘ ich erst einmal Zeit, um mein Glück zu ordnen!« Die ganze Nacht lag ich wach und dachte über die aufregende Tatsache nach, dass Gottes Segen handgreiflich über unserer Familie liegt: Da war die Liebe meines Mannes, seine berufliche Aufgabe, die auch mich bereicherte, und jetzt vor allem fünf Söhne und dazwischen eine Tochter, Lebenserfüllung und so viel Bewahrung, freundliche Führung und Hilfe in all den Jahren! Ich nahm Gottes Segen fast wie selbstverständlich an, als stünde er mir zu.
Knapp drei Jahre später war mein ganzes Glück zerbrochen. Und jetzt? Wo ist nun Gottes Güte? Verdunkelt war sie mir durch Trennungsschmerz und Verlassenheit.
Da stieg aus der Tiefe in mir ein unbekannter Drang auf, finster, wie angeboren – eine satanische Macht: »Sage Gott ab und stirb!«
Wer spricht so? Ich kenne doch diesen Satz!
Es war Hiobs Frau. Sie war verzweifelt. Durch einen Orkan hatte sie auf einen Schlag alle ihre Kinder verloren. Kurz vorher waren sie arme Leute geworden. Ihr Mann konnte ihr in ihrem Leid keine Stütze sein. Er saß schwerkrank als ein Ausgestoßener auf einem Aschehaufen und schabte sich mit einer Tonscherbe die juckenden Eiterbeulen. Was hatte sie jetzt noch vom Leben? Gott hatte diesen Zerbruch zugelassen. So sagte sie zu ihrem Mann: »Hältst du jetzt immer noch an deinem Glauben fest? Sage Gott ab und stirb!«
Der Schwergeprüfte dachte an all die schönen Jahre, da Gott ihn mit einer großen Familie, Viehherden, Ansehen und Erfolg gesegnet hatte. Gleichzeitig litt er an seinem erbärmlichen Zustand. Hatte Gott sich gegen ihn gewandt? Dann konnte er ja mit gutem Gewissen Gott absagen. Hiob stand jetzt vor einer...