Israel und Kirche im einen Gottesbund? Auf der Suche nach einer für beide akzeptablen Verhältnisbestimmung
1. Steht die Kirche vor einem Paradigmenwechsel in ihren Aussagen über das Judentum?
[99] Die (relativ) zahlreichen kirchlichen Stellungnahmen der letzten 30 Jahre über das Verhältnis der Kirche(n) zum Judentum haben einerseits eindeutig alle unbiblischen und zutiefst unchristlichen (Lehr-)Meinungen zurückgewiesen, die das biblische Judentum zur bloßen Vorstufe der Kirche degradiert und das nachbiblische Judentum theologisch ignoriert oder diskriminiert (bzw. kriminalisiert) haben. Andererseits haben gerade diese Stellungnahmen sowie die in ihrem Kontext stehenden Veröffentlichungen die Probleme und Aporien sichtbar werden lassen, die sich angesichts der theologischen „Wiederentdeckung“ des nachbiblischen Judentums auf dem Boden der traditionellen Theologie hinsichtlich der Frage nach dem Selbstverständnis der Kirche(n) ergeben.1
Wenn das „neue“ Denken, das ein für allemal alle Varianten (auch die subtilen und „frommen“!) der kirchlichen Lehre von der Verwerfung Israels positiv überwinden will, zugegebenermaßen etwas pathetisch als „Wende“, „Umdenken“ und „Umkehr“ bezeichnet wird, kommt in der Tat zum Ausdruck, daß sich heute diesbezüglich ein Bruch in der Christentumsgeschichte vollzieht – eben ein Paradigmenwechsel. Wer sich hier a priori und aus welchen Gründen auch immer dem Gedanken eines „Bruchs“ widersetzt, sollte sich bewußtmachen: Die Lebendigkeit des Christentums hat sich nicht zuletzt in ihren kleinen und großen Unterbrechungen, Brüchen und Abbrüchen erwiesen und vollzogen. Derartige Brüche sind durch große Einzelgestalten der Kirchengeschichte, aber auch durch epochale Ereignisse ausgelöst. Einer der ganz tiefen und großen [100] „Brüche“ war die Reformation mit ihrer Abkehr von einer sich verabsolutierenden Institution „Kirche“ und ihrer Rückkehr zum ursprünglichen Gotteswort der Bibel. Ob die Schoa und das Erschrecken über ihre christlichen (Mit-)Wurzeln nun zu einem epochalen Bruch in der Christentumsgeschichte führen, der eine definitive Abkehr vom christlichen Absolutheitsanspruch und eine breit vollzogene Rückkehr zur biblischen Wahrheit von der unaufgebbaren Bindung der Kirche an das jeweils zeitgenössische Judentum bringt, wird sich erst im nächsten Jahrtausend beurteilen lassen.2 In der Sache selbst dürfte kein Zweifel mehr aufkommen: Die „Wiederentdeckung“ der bleibenden theologischen Würde Israels fordert gegenüber der traditionellen Lehre von der Kirche (Ekklesiologie) einen gewaltigen Perspektivenwechsel, den R. Rendtorff treffend so charakterisiert hat:
„Es gilt … zunächst, die Identität Israels unverkürzt festzuhalten. Das theologische Problem kehrt sich damit um: Es geht nicht mehr darum, von der christlichen Theologie aus Israel zu definieren und damit einen Platz für Israel im christlichen Denkgebäude zu finden, sondern vielmehr darum, angesichts des Weiterbestehens des biblischen Israel die Kirche zu definieren, ohne dabei mit den biblisch begründeten, unverändert gültigen Aussagen über Israel in Konflikt zu kommen.“3
Es geht nicht mehr (nur) um eine „christliche Theologie des Judentums“, die ja immer dem Verdacht und der Versuchung ausgesetzt ist, das Judentum mit christlichen Kategorien zu „bewerten“4, und weder der geschichtlichen noch der theologischen Wahrheit entspricht, wonach dem Judentum das Erstgeburtsrecht zukommt. Gefordert sind vielmehr eine Reflexion und eine Begrifflichkeit, in denen einerseits Juden sich als Juden wiederfinden und in denen andererseits die Kirche sowohl das sie vom Judentum Unterscheidende wie das sie mit diesem Verbindende (also ihr sog. Proprium Christianum) festhält.5 Das scheint die Quadratur des Kreises zu sein. Und sie ist es doch nicht, wenn wir uns auf den geforderten und möglichen Perspektivenwechsel einlassen, der bereits dort – sowohl in kirchenamtlichen wie in theologischen Stellungnahmen – begonnen hat, wo Verhältnisbestimmungen mit Hilfe von Begriffen und Metaphern versucht wurden, die der Juden und Christen gemeinsamen biblischen Tradition, dem Tanach bzw. dem Ersten Testament, entstammen. Dieser Ansatz hat immerhin den Vorzug, daß er die Juden und Christen unterschiedlich gemeinsame biblische Wurzel6 zum Ausgangspunkt nimmt und diese Wurzel im Horizont der im Judentum und im Christentum jeweils vielgestaltigen Wachstums- und Wirkungsgeschichte gelten lassen muß. Beide, Judentum und Kirche, sind ja schon in sich selbst derart komplexe Lebenswirklichkeiten, daß zu enge und zu sehr festlegende Begriffe der angestrebten Intention zuwiderlaufen. Daß und wie schwierig die Aufgabe ist, die uns – um der biblischen Gottes-Wahrheit willen – aufgetragen ist, soll zunächst durch eine kurze Problemskizze verdeutlicht werden.
2. Ein ungeeignetes Modell: die Rede von den zwei Heilswegen
[101] In den letzten Jahren begegnet in der Diskussion über eine christlich-jüdische Verhältnisbestimmung wiederholt die Metapher von Judentum und Kirche als zwei unterschiedlichen Heilswegen. Auf den ersten Blick scheint dies eine gut biblische und rabbinische Metapher zu sein, in der sich die beiden unterschiedlichen Brennpunkte jüdischer Existenz („die Tora als Weg zum Heil“) und christlicher Existenz („Jesus Christus als Weg zum Heil“) treffend benennen lassen. Zugleich konnotiert diese Metapher die Geschichtsdimension von Judentum und Kirche, insbesondere ihr Unterwegssein im Dienste des Gottesreichs. Und überdies könnte die Metapher festhalten, daß es so etwas wie einen je spezifischen jüdischen und christlichen „way of life“ gibt. In diesem Sinn verwendet z.B. das 1979 veröffentlichte Arbeitspapier „Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs“ des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken die Wegmetaphorik:
„Im gegenseitigen Sich-Befragen [von Juden und Christen] kann sich … durchaus ein Stück Anerkennung der Heilsbedeutung des anderen Weges aussprechen. Juden können anerkennen, daß Jesus für die Christen zum Weg geworden ist, um Israels Gott zu finden. Sie werden aber ihre Wertschätzung des christlichen Weges davon abhängig machen, daß der Glaube der Christen, das Heil werde ihnen durch den aus den Juden kommenden Messias Gottes geschenkt, ihre Verpflichtung zum Handeln im Dienst von Gerechtigkeit und Frieden nicht mindert, sondern einlöst. Christen verstehen Jesus als Erfüllung von Gesetz und Verheißung nur dann, wenn sie ihm ,um des Himmelreiches willen‘ nachfolgen und dabei auf sein Wort hören: ,Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt‘ (Mt 7,21)“.7
Die so verstandene Wegmetapher kann gut das Juden und Christen verbindende Lebenskonzept als „Gehen in den Geboten“ der Gottes- und der Nächstenliebe8 in Erinnerung rufen und insbesondere die Christen vor der unbiblischen Versuchung bewahren, ihren Gottesglauben zu spiritualisieren. Aber das Zitat läßt bereits erkennen, daß die so gebrauchte Metapher wenig hilfreich ist, das jeweils Spezifische in Judentum und Christentum auszudrücken.
Gerade dies versucht eine Redeweise, die dezidiert von zwei unterschiedlichen, getrennten „Heilswegen“ spricht. Vereinfacht gesagt, liegt diesem Denkmodell die Vorstellung zugrunde, daß sich seit Jesus der eine Weg des Heils, auf dem Gott bis dahin Israel inmitten der Völkerwelt führte, in zwei Wege gabelte, auf denen nun nach Gottes Willen Juden und Christen getrennt bis zum Ende der Geschichte gehen und zum Heil gelangen sollen.
Wer an die aggressive Gefährlichkeit des christlichen Absolutheitsanspruchs in der zweitausendjährigen christlich-jüdischen Geschichte [102] denkt, mag dieses Zwei-Wege-Modell als einen echten produktiven Neuanfang werten. Und nicht nur Juden, die ein theologisches Gespräch zwischen Juden und Christen prinzipiell ablehnen, werden sich in einer solchen separativen Zwei-Wege-Lehre am ehesten wiederfinden können. Zumindest als eine Standortbestimmung, die in der derzeitigen geschichtlichen Situation angemessen ist, kann ich sie mir auch bei engagierten Teilnehmern am jüdisch-christlichen Gespräch vorstellen.9 Dennoch halte ich die in der Zwei-Heilswege-Metapher sich aussprechende Verhältnisbestimmung aus zwei Gründen für ungeeignet und unbiblisch:
1. Der Tanach / das Erste Testament entwirft eine vielgestaltige Vision, nach der Israel zum Segen für die Völker werden soll und die Völker umgekehrt für Israel zu Segensbringern werden sollen. Der Gott Israels, der der Gott der ganzen Schöpfung ist, will sein universales Reich der Gerechtigkeit und des Friedens gerade in einem von Ihm inspirierten Zusammenleben und -wirken von Israel und „den Völkern“ kommen lassen. Dies ist zumindest ein unübersehbarer Strang in der biblischen Überlieferung selbst, der es nicht erlaubt, Israel und die Völker in nicht...