Auf dem hohen Grat des Altruismus
Geprägt wurde der Begriff Altruismus im Jahre 1830 von dem französischen Philosophen Auguste Comte, der ihn von vivre pour autrui (»leben für andere«) ableitete. Als Mittel gegen den Egoismus, nur für sich selbst zu leben, wurde der Altruismus zu einer neuen gesellschaftlichen Doktrin, gegründet auf Humanismus statt auf Religion. Nicht religiös motivierten Menschen bot er einen ethischen Kodex, der von Dogmen frei war.
Wer aus der reinsten Form von Altruismus heraus handelt, strebt nicht nach gesellschaftlicher Zustimmung oder Anerkennung, und er will sich nicht besser in der eigenen Haut fühlen. Wenn eine Frau sieht, wie ein ihr völlig unbekanntes Kind vor ein Auto läuft, denkt sie nicht: Dieses Kind zu retten, macht mich zu einem guten Menschen. Sie rennt einfach auf die Straße, ergreift das Kind und setzt dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel. Anschließend rühmt sie sich wahrscheinlich nicht besonders, sondern denkt: Ich habe getan, was ich tun musste. Jeder andere hätte genauso gehandelt. Sie ist erleichtert, weil das Kind am Leben und unverletzt ist. Wie dieses Beispiel demonstriert, ist Altruismus ein Schritt über gewöhnlichen Großmut hinaus; er bringt ein Selbstopfer oder eine Gefahr für Leib und Leben mit sich.
Man schrieb 2007, als der Bauarbeiter Wesley Autrey in Manhattan auf die Gleise der U-Bahn sprang, um Cameron Hollopeter zu retten, einen Filmstudenten, der einen epileptischen Anfall hatte und vom Bahnsteig gestürzt war. Als Autrey einen Zug kommen sah, sprang er hinunter und wollte Hollopeter aus dem Weg ziehen, aber dazu war keine Zeit mehr. Deshalb warf er sich in dem keinen halben Meter tiefen Entwässerungsgraben zwischen den Gleisen über den Gestürzten. Während er diesen nach unten drückte, raste der Zug so dicht an ihm vorbei, dass er ihn an der Wollmütze streifte. An sich selbst dachte Autrey dabei nicht, er spürte nur den unmittelbaren Impuls, einem Mitmenschen das Leben zu retten.
Über die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die Autrey daraufhin zuteilwurden, war er verblüfft. Zu einem Reporter der New York Times sagte er: »Ich habe nicht das Gefühl, etwas Spektakuläres getan zu haben; ich habe bloß jemanden gesehen, der Hilfe brauchte. Da habe ich getan, was ich für richtig hielt.«[3]
Ich sehe diese Geschichte als Beispiel für reinen Altruismus. Wir alle haben altruistische Impulse, handeln jedoch nicht immer danach. Zweifellos haben auch andere Leute auf dem Bahnsteig gesehen, wie Hollopeter zusammenbrach. Sie haben die Notwendigkeit zu helfen erkannt, aber auch begriffen, dass sie dabei ums Leben kommen könnten. Altruismus ereignet sich, wenn unser Impuls zu dienen sich über unsere Angst und unseren Selbsterhaltungstrieb hinwegsetzt. Glücklicherweise hat Autrey sich so geschickt verhalten, dass er ein Leben retten und dabei selbst überleben konnte.
Auf der ganzen Welt handeln Menschen täglich aus einem unmittelbaren Altruismus heraus, um sich gegenseitig zu unterstützen. Wie der anonyme chinesische Demonstrant, der sich entschlossen den zum Tian’anmen-Platz fahrenden Panzern in den Weg stellte. Wie die Ärzte in Afrika, die mit viel Mut an Ebola Erkrankte behandelt haben. Wie jene Einwohner von Paris, die nach den Terroranschlägen im November 2015 ihre Türen öffneten, um Schutzsuchende einzulassen. Wie die dreitausend tapferen syrischen Freiwilligen, die sich nach der Bombardierung von Wohnvierteln um die Überlebenden kümmerten.[4] Wie Adel Termos, der am Tag vor den Pariser Anschlägen in Beirut einen Selbstmordattentäter daran hinderte, sich in einer überfüllten Moschee in die Luft zu sprengen.[5] Als Termos dafür sorgte, dass die Bombe abseits der Menge detonierte, verlor er sein Leben, rettete jedoch das Leben zahlloser anderer. Wie Ricky John Best, Taliesin Myrddin Namkai-Meche und Micah David-Cole Fletcher, die im Mai 2017 furchtlos einschritten, als zwei jugendliche Mädchen in einem Zug in Portland aus rassistischen Gründen angegriffen wurden.[6] Ricky und Taliesin verloren dabei das Leben, Micah hat überlebt. Während Taliesin verblutete, sagte er diese Worte: »Sagt allen in diesem Zug, dass ich sie liebe.« Ich finde, in unserer konfliktreichen Welt ist es wichtig, solche Geschichten zu hören, um sich den Glauben an die Schönheit und Kraft des menschlichen Herzens zu bewahren und sich daran zu erinnern, welch eine natürliche Regung der Altruismus ist.
Ist das Selbst selbstsüchtig oder selbstlos?
Kehren wir einen Moment zu der Frau zurück, die ein Kind davor rettet, überfahren zu werden. Wenn sie anschließend denkt: Weil ich das getan habe, bin ich ein guter Mensch, macht diese selbstgefällige Anwandlung dann den Altruismus ihres Handelns zunichte? Nach den strengsten Definitionen dieses Begriffs darf das Ego weder vor noch nach der Handlung beteiligt sein. Altruismus wird charakterisiert als Akt der Selbstlosigkeit zum Wohle anderer, sowohl frei von jeglicher Erwartung einer äußeren Belohnung (wie etwa Dankbarkeit oder eine Gegenleistung) als auch frei von inneren Belohnungen wie einem gesteigerten Selbstwertgefühl oder besserer emotionaler Gesundheit. Reine Altruisten haben, um den Zen-Meister Shunryu Suzuki zu zitieren, »keine Gewinnabsichten« – sie gewinnen durch ihr segensreiches Handeln nichts. Sie sind von Grund auf uneigennützig.
Große spirituelle Persönlichkeiten und manche von Natur aus mitfühlenden Personen besitzen solch ein grenzenloses Herz, das offen dafür ist, in allen Umständen zu dienen. Dann ist keine Unterscheidung zwischen dem Selbst und den anderen vorhanden, nur unvoreingenommene Güte allen gegenüber. Die meisten von uns sind jedoch ganz normale Menschen, und es ist sehr menschlich, Befriedigung zu empfinden, wenn wir anderen helfen.
Die Frage, ob reiner Altruismus überhaupt existiert, wird von Psychologen und Philosophen kontrovers diskutiert. Nach der Theorie des psychologischen Egoismus sind keine karitative Handlung und kein Opfer vollkommen altruistisch, weil wir zumindest von einem schwachen Gefühl der persönlichen Befriedigung motiviert sind oder weil unser Ego sich ein bisschen gestärkt fühlt, nachdem wir anderen geholfen haben. Demzufolge gibt es in der realen Welt der menschlichen Psyche und des menschlichen Verhaltens keinen reinen Altruismus.
Der Buddhismus nimmt eine radikalere Position ein; er sagt, dass Altruismus und das mit ihm verwandte Mitgefühl völlig frei vom Ego – von dem kleinen Selbst – sein kann. Altruismus kann spontan und bedingungslos als Reaktion auf das Leiden von anderen entstehen wie im Falle von Wesley Autrey. Zudem behauptet der Buddhismus, eine selbstlose Sorge für das Wohlergehen anderer gehöre zu unserer wahren Natur. Durch kontemplative Praxis und ethische Lebensführung könnten wir uns daher dem Sog des Egoismus entziehen und an den Ort in unserem Inneren heimkehren, wo wir alle Wesen lieben und gleichermaßen schätzen, ein Ort, an dem wir furchtlos und vorurteilsfrei danach streben, das Leiden der Wesen zu beenden.
Thich Nhat Hanh schreibt: »Wenn die linke Hand verletzt wird, kümmert die rechte sich sofort darum. Sie hält nicht inne, um zu sagen: ›Ich kümmere mich jetzt um dich. Du profitierst von meinem Mitgefühl.‹ Die rechte Hand weiß sehr gut, dass die linke Hand auch die rechte Hand ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen den beiden.«[7] Diese Art Altruismus ist nicht-referenziell, was bedeutet, dass er keine parteiische Haltung gegenüber Familienmitgliedern, Freunden und anderen Mitgliedern einer Gruppe, der wir angehören, einnimmt.
Ein Gedicht von Joseph Bruchac vermittelt diesen tiefen, demütigen Wunsch, für alle Wesen gleichermaßen zu sorgen:
Birdfoots Opa
Bestimmt hielt der Alte
unseren Wagen zwei Dutzend Male an,
um auszusteigen und mit den Händen
die kleinen Kröten einzusammeln,
die, von unseren Scheinwerfern geblendet,
umherhüpften wie lebendige Regentropfen.
Der Regen fiel
als feiner Nebel um seine weißen Haare
und ich sagte immer wieder:
Du kannst sie nicht alle retten,
finde dich damit ab und steig wieder ein,
wir müssen doch wo hin.
Doch er stand knietief im Sommergras
am Straßenrand, die ledrigen Hände voll
nassem braunem Leben,
lächelte nur und sagte:
Die müssen auch
wo hin.[8]
Dieser Großvater ist ein gutes Beispiel für einen lebenden Bodhisattva, wie man im Buddhismus jemanden nennt, der großherzig alle Wesen vom Leiden errettet. Er hält immer wieder an, um die Kröten zu retten, obwohl er dafür auf die regennasse, dunkle Straße hinaus muss. Lächelnd scheint er zu erleben, was Buddhisten als »altruistische Freude« bezeichnen, die Freude am Glück von anderen.
Altruistische Freude gilt als wahrhaft förderliche Eigenschaft des Geistes. In diesem Sinne stimmt der Buddhismus mit der westlichen Psychologie darin überein, dass es gut für uns ist, Freude über das Glück von anderen zu empfinden. Ich weiß, dass ich mich mental wie körperlich besser fühle, wenn ich etwas Gutes für andere tue, obgleich es nicht das ist, was mich motiviert. Neuere sozialpsychologische Studien lassen darauf schließen, dass es eine Quelle von Glück und Zufriedenheit darstellt, wenn wir weniger ichbezogen und dafür großzügiger sind. Laut einer solchen Studie haben ganz kleine Kinder, selbst unter Zweijährige, ein stärkeres Gefühl des Wohlbefindens, wenn sie Leckereien verteilen als wenn sie welche empfangen.[9] In einer anderen...