Alice: »Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen.«
Grinsekatze: »Oh, das kannst du wohl kaum verhindern. Wir sind hier nämlich alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.«
Alice: »Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin?«
Grinsekatze: »Wenn du es nicht wärest, dann wärest du nicht hier.«
(Carroll Lewis, »Alice im Wunderland«)
Obschon emotional instabile Menschen in unterschiedlichen Lebenskontexten einwandfrei zurechtkommen können, ist ihre innere Welt zwielichtig. Sie leben am selben Ort, aber in einer anderen Erlebenswirklichkeit wie Menschen ohne Borderline. Welche Wirklichkeitssicht nun die »realere« oder weniger ver-rückte ist, liegt im Auge des Betrachters. Denn letztendlich ist das, was man allgemein als Wirklichkeit bezeichnet, eigentlich ein »Hirngespinst«, eine mentale Konstruktion, ein kreatives Produkt unseres Geistes. Es gibt somit keine absolute Wirklichkeit, sondern lediglich unterschiedliche Wahrnehmungen und Sichtweisen der Wirklichkeit. Diese wird wiederum durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, auf die an anderer Stelle im Buch noch ausführlich eingegangen wird (ab S. 90). Als gesichert kann jedoch gelten: Das Verhalten von Menschen mit Borderline einseitig aus der Optik des »normalen«, sprich mehrheitlich geteilten Realitätsverständnisses zu betrachten, wird der Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Phänomens nicht gerecht. Damit der Spagat gelingt, ist ein wechselseitiges Welt- und Wirklichkeitsverständnis erforderlich.
Eine Ärztin oder ein Psychologe kann nicht einfach »aus dem Bauch heraus« Diagnosen erteilen. Um eine Diagnose stellen zu können, muss geprüft werden, ob bestimmte vorgefasste Kriterien (Erscheinungen) erfüllt sind oder nicht. Die beiden wichtigsten Klassifikationssysteme sind das Diagnostische Statistische Manual (DSM; mittlerweile in der fünften überarbeiteten Fassung) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft und das »Internationale Klassifikationssystem der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD; in der zehnten Fassung) der Weltgesundheitsorganisation.
Der impulsive Typ weist nach ICD mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen auf:
1. Deutliche Tendenz, unerwartet oder ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
Erläuterung: Mangelnde Impulskontrolle kann sich in vielerlei Verhaltensweisen ausdrücken, vor allem bei zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Sexualität, im Zusammenhang mit Entscheidungen, mit Substanzmissbrauch oder im Straßenverkehr. Oft sind Emotionen wie Ärger, Feindseligkeit oder Wut mit im Spiel. Grundsätzlich unterscheidet man drei Erscheinungsformen der Impulsivität: Die motorische Impulsivität beschreibt die Tendenz, zu handeln, ohne nachzudenken oder ohne mögliche Konsequenzen abzuwägen. Kognitive Impulsivität meint ein hohes Tempo beim Denken und schnelle Entscheidungen. Die nichtplanende Impulsivität schließlich kommt in Schwierigkeiten mit zukunftsorientierter Problemlösung und beim Planen zum Ausdruck (BARRATT 1993).
FRAUKE »Ich mache keine halben Sachen. Wenn, dann richtig! Das ist mit allem so. Wenn ich Motorrad fahre, dann geht’s ab. Ich berausche mich an der Geschwindigkeit, alles andere ist mir dann egal. Genauso ist es mit dem Geldausgeben: Wenn ich frustriert bin, dann gehe ich shoppen. Mein Kontostand interessiert mich nicht. Ich kaufe dann alles, was mir gefällt, auch wenn ich es bereits im Schrank habe oder die Größe nicht passt.«
2. Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen. Vor allem dann, wenn impulsive Handlungen getadelt oder unterbunden werden
Erläuterung: Impulsive Menschen haben Schwierigkeiten damit, aufkeimende Impulse oder Affektregungen zurückzuhalten oder zu unterdrücken. Versuche führen meist zu einem unberechenbaren Wechsel zwischen angespanntem Zurückhalten und plötzlichen Affekt- und Verhaltensdurchbrüchen (vgl. HERPERTZ, SASS 2002). Ist eine kritische Schwelle überschritten, gibt es »kein Zurück« mehr. Versuche, an die Verstandesebene zu appellieren oder auch sanktionierend einzuwirken, sind meistens zwecklos und tragen schlimmstenfalls dazu bei, die impulsive Reaktion zu verstärken.
MANNE »Ich bin schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten, aber ich bezeichne mich nicht als Schläger. Ich habe früh gelernt, auf mich allein gestellt zu sein. Ich war ein Draufgänger und habe viel Scheiße gebaut, als ich jünger war. Heute bin ich gemäßigter, aber ich weiß, dass ich diese andere Seite auch in mir habe. Wenn mir jemand blöd kommt, dann brennen bei mir alle Sicherungen durch. Ich denke dann nicht, sondern ich agiere. Wer sich einmischt oder sich mir in den Weg stellt, wird mit verdroschen.«
3. Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
Erläuterung: Vielleicht die auffälligste der Gefühlsstörungen ist das häufige Erleben von heftiger und oft unangemessener Wut bzw. Schwierigkeiten, diese Wut zu kontrollieren. Dabei kann es zu Provokationen, extremem Sarkasmus, anhaltender Verbitterung oder verbalen Ausbrüchen kommen. Dies begünstigt die Entstehung von Konflikten, Ärgerausbrüchen und oftmals auch fremdschädigenden Verhaltensweisen, über heftige Streitereien mit Beschimpfungen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen. Die Wut bricht häufig dann aus, wenn eine nahestehende Person als vernachlässigend, verweigernd, nicht fürsorglich oder zurückweisend erlebt wird.
FRAUKE »Wenn ich wütend bin, dann schreie ich und sage gemeine und verletzende Dinge. Manchmal verliere ich auch völlig die Kontrolle, bin wie weggetreten und tue Dinge, die gegen meine eigenen Werte und Moralvorstellungen gehen. Woher diese Wut kommt, weiß ich nicht so genau. Ganz sicher aber bricht sie aus, wenn Erwartungen an mich herangetragen werden, die ich nicht erfüllen kann oder wenn zu viele Vorwürfe und Beschuldigungen von außen kommen. Wenn mich beispielsweise abends um fünf jemand anruft und mich fragt, ob ich um neun mit ins Kino gehe, dann kann ich diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten. Meine Gefühlsschwankungen sind derart unvorhersehbar, dass ich nicht lange im Voraus planen kann. Macht man mir jedoch Druck oder – so wie letztens – wirft mir jemand vor, den anderen den Abend verderben zu wollen, dann flippe ich völlig aus.«
4. Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
Erläuterung: Impulsive Menschen haben oft erhebliche motivationale Probleme und Defizite in der Fähigkeit zum Belohnungsaufschub. Ihr Verhalten ist primär auf unmittelbare Befriedigung ausgerichtet, Frustrationen und Belohnungsaufschub können sie dagegen nur schwer ertragen und führen schnell zu Langweile und dazu, dass sie das Interesse an den Dingen verlieren. Auch mangelnde Zukunftsorientierung und fehlende Lebensplanung können Probleme einer impulsiven Persönlichkeit darstellen. Diese Eigenschaften erschweren wiederum den Aufbau einer stabilen Selbstidentität und stabiler Beziehungen.
MANNE »Langweile macht mich irre. Das war schon immer so. Als Kind habe ich alles ausprobiert. Ich hatte alle Sportvereine durch, hielt es nie länger als ein paar Wochen aus. Mit sechzehn wollte ich den Segelflugschein machen. Anfangs war ich total begeistert. Aber dann, nach wenigen Flugstunden, war ich von dem Theoriekram und dem klugscheißerischen Fluglehrer mehr als angeödet. Das geht mir eigentlich mit allem so: Schule, Ausbildung, Freundin. Ich brauch’...