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E-Book

Griechische Kulturgeschichte, Band 1

Vollständige Ausgabe

AutorJacob Burckhardt
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl450 Seiten
ISBN9783849606312
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Burckhardts Werk gehört auch heute noch zu den absoluten Klassikern der Kulturgeschichte und ist ein unerschöpfliches Referenzwerk. Dies ist Band 1 mit folgendem Inhalt: Inhalt: - Einleitung - Erster Abschnitt. Die Griechen und ihr Mythus - Zweiter Abschnitt. Staat und Nation I. Die Polis II. Die Polis in ihrer historischen Entwicklung III. Objektive Betrachtung der Staatsformen IV. Die Einheit der griechischen Nation

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Leseprobe

I. Die Polis


 


 Per me si va nella città dolente.

 

 Dante inf.

 

Erörterungen von Uranfängen sind sonst nicht Sache dieses Buches, doch mögen einige Bemerkungen gestattet sein über Tatsachen, welche der Bildung aller PoleisA1 weit vorangehen und das Leben der Nation und ihrer Stämme betreffen.

 

Die Frage, wo und wie ein Volk beginnt, bleibt dunkel, wie alle Anfänge. Indes scheinen die sozialen Grundlagen des griechischen Lebens, die Familie, die Ehe und das Eigentumsrecht schon in der vorhellenischen Zeit vorhanden gewesen zu sein, spätestens, als Hellenen und Gräco-Italiker noch Ein Volk bildeten. Ein organisiertes größeres Volkstum setzen sie deshalb nicht mit Notwendigkeit voraus; dagegen müssen sie das Werk (oder der Ausdruck) einer Urreligion sein, die dem Kultus der Väter und Ahnen sowie dem des Herdes eine zentrale Stellung einräumte. Durch diesen ist die Familie zusammengehalten, in der wir uns deshalb mindestens ebenso sehr eine religiöse als eine natürliche Vereinigung zu denken haben. Der Ahnenkult ist es auch, der die Monogamie bedingt, die, wie aus den umständlichen Trauungszeremonien und aus der schweren Ahndung des Ehebruchs hervorgeht, auf griechischem Boden von Anfang an vorhanden ist. Und ebenso steht das Recht des Eigentums an Grund und Boden mit der Verehrung des Herdes und der Gräber in ursächlichem Zusammenhang. Während die Tataren ein Eigentumsrecht nur für die Herden kennen, die Germanen den Boden jährlich neu teilen, haben die Gräco-Italiker von der frühesten Zeit an das besondere Grundeigentum, freilich nicht für das Individuum, wohl aber für die Familie. Der Herd lehrte nach Diodor (V, 68) den Menschen den Häuserbau, und zwar waren die Häuser ursprünglich getrennt; es gab keine Scheidemauern. Im Grundstück befand sich das Familiengrab und deshalb – nicht etwa nur zur Sicherung der herrschenden Kaste bei Landteilungen siegreicher Eroberer – waren die Grundstücke unveräußerlich. Auch das Erbrecht knüpft an die durch den Totenkultus bedingte Erbpflicht an. Im Grunde erbt die Habe den Sohn; die Töchter erben anfangs nicht mit. Zur Sicherung der Totenopfer aber werden Erbtöchter mit den nächsten Verwandten vermählt und ist – zwar erst, seit das Volkstum einigermaßen staatlich konstituiert ist – die Adoption gestattet. Einen großen Umfang muß die väterliche Gewalt gehabt haben. Daß sie, wie auch das Eigentums- und Erbrecht in eine der Entstehung der Polis weit voranliegende Zeit zurückgehen muß, läßt sich aus der sichern Erwägung schließen, daß die Polis in diesen Dingen anders würde verfügt haben, wenn sie schon vorhanden gewesen wäre.

 

In der historischen Zeit dagegen ist das Genos, d.h. die Geschlechtsgemeinschaft im alten Sinne, nur noch als Überrest bekannt und in seiner Urgestalt nirgends mehr vorhanden. Es tritt noch als Erinnerung auf, als Bewußtsein gemeinsamer Abstammung und in gemeinschaftlichem Gräberkultus, indem das Grab der einzige Gemeinbesitz ist; in seiner echten Wohnenschaft aber hat es kein Mensch der geschichtlichen Zeit mehr beisammen gesehen. Schon wie man sich das Verhältnis der jüngern Linien zur Stammlinie zu denken habe, bleibt fraglich und ebenso, wie die Geschlechtsgemeinschaft durch das Hinzutreten der Sklaven und Lohnarbeiter (pelatai, thtes) modifiziert worden sei. Unvorstellbar aber und gänzlich hypothetisch ist das Verhältnis von Geschlechtern und Stämmen. Die Frage, ob sich Geschlechter zu Phratrien, Phratrien zu Phylen, Phylen zu Stämmen zusammengetan haben, oder ob umgekehrt der Stamm das Prius sei, welches in Phylen, Phratrien und Geschlechter auseinanderging, ob es sich um Unterabteilung oder um Zusammenschluß handelt, ist für uns nicht zu beantworten1.

 

Dagegen ragt wie ein Felszahn des Urgebirges aus spätern Alluvionen, so aus den politischen Entwicklungen und Erlebnissen der Griechen ein Stück grauen Altertums empor: Die Phylen. Der spätere, sehr verschiedene Gebrauch der Sache und des Wortes hat hier, wie so oft, das Verständnis des Ursprünglichen erschwert.

 

Die Bevölkerung dorischer Staaten pflegte aus drei Phylen oder Stämmen zu bestehen: Pamphyler, Dymanen und Hylleer. Pamphylos und Dyman waren Söhne des Königs Aigimios und Enkel des Doros gewesen, Hyllos aber der Sohn des Herakles, welcher einst dem Aigimios beim Kampfe gegen die Lapithen geholfen hatte; dieser dritte Bestandteil muß hier der irgendwie bevorzugte gewesen sein, indem er die Anführer hergab, die Herakliden, unter welchen die Dorer ihre berühmte, staatenbildende Wanderung ins Werk setzten.

 

In Attika und wahrscheinlich auch in anderen ionischen Staaten2 waren der Phylen vier: Geleontes, Argadeis, Aigikoreis und Hopletes, deren Namensheroen als die Söhne des Ion galten, mochte man auch einige Mühe haben, aus der Pluralform der Phylennamen die Singularform zu ermitteln3. Schon das Altertum glaubte aus diesen Namen verschiedene Lebensweisen herauszuhören: etwa Grundbesitzer, Gewerbsleute, Hirten und einen ritterlichen Adel. Allein in der historischen Zeit enthielt jede Phyle zusammen Eupatriden und gewöhnliche Bürger jeder Gattung4, auch wären Beschäftigungen oder Kasten, wie jene, selbst wenn man sie sich in Griechenland überhaupt denken könnte, nicht wohl koordinabel gewesen zu gleichmäßiger Berechtigung im Staate; die Phylen wurden nämlich Wahlkörper, und nach Solons Verfassung stellte in Athen jede hundert Mitglieder in den Rat. Die Namen waren wohl uralt und allmählich – was immer sie bedeutet haben mögen – undeutsam geworden, bis das Volk, das sie seit so vielen Generationen im Munde führte, sie so weit umgebildet hatte, daß sie wieder an etwas Deutliches anklangen. Ebenso verhält es sich wohl auch auf der dorischen Seite mit dem Namen der Pamphyler, den man sich sehr wird hüten müssen etwa durch Mischvolk, Alamannen übersetzen zu wollen. Ob in den frühen Anfängen des Stammesleben die Phylen sich nach Wohnplätzen schieden, ist nicht zu ermitteln; später wohnte jedenfalls Alles durcheinander, und es genügte, daß jeder wisse, zu welcher Phyle er gehöre. Noch die Namen der bei Marathon gefallenen Athener waren auf den Steinpfeilern des großen Grabhügels nach Phylen verzeichnet, und zwar nach den neuen Phylen, welche Kleisthenes an die Stelle der alten gesetzt hatte.

 

Soll man nun sagen: Dorer seien ursprünglich in drei, Ionier in vier Phylen eingeteilt worden? oder eher: jene seien durch Zusammentreten von drei, diese von vier Stämmen gebildet worden, entstanden? Vielleicht verzichten wir am besten auf beide Ausdrucksweisen und erkennen an, daß wir vor einem Urformen bildenden Mysterium stehen. Ein feuriger Verschmelzungsprozeß, für uns unvorstellbar, bringt ein Volkstum zu Stande, welches dann in seinen Einzelstaaten sich fast regelmäßig in jenerA2 seiner Urform ausspricht. Vielleicht entgeht man dem Irrtum am ehesten durch eine Anleihe bei der Ausdrucksweise des Mythus: Klotho spann den Lebensfaden der Dorer aus drei, den der Ionier aus vier Fäden.

 

Daß ursprünglich eher die Herkunft als die Beschäftigung die Phylen ausmachte, läßt sich einigermaßen schon aus solchen Beispielen schließen, da bei spätern Gründungen Phylen künstlich gebildet wurden. Die zehn Phylen von Thurioi enthielten die verschiedenen Landsmannschaften dieser so stark gemischten Kolonie; in dem zerütteten Kyrene bildete der aus Griechenland herberufene Ordner Demonax (vor 530) drei Phylen aus den tatsächlichen Hauptbestandteilen der Bevölkerung: den Theräern, den Peloponnesiern samt Kretern und den übrigen Inselleuten. Namen der Phylen verschiedener anderer Städte, wo sie uns außer jenen genannten überliefert werden, ergeben nichts Sicheres über den UrsprungA3, indem sie von Göttern, Heroen, Örtlichkeiten usw. entnommen sind.

 

Rom aber besaß vielleicht in seinen drei ursprünglichen Tribus eine sehr viel ältere ErinnerungA4, als es selbst wußte, nämlich an das ursprüngliche gräco-italische Zusammenleben, in welcher Gegend dasselbe auch zu denken sein mag. Über die Namen Ramnes, Tities und Luceres ist man insoweit einig, daß dieselben zwar in der Überlieferung erst die sogenannten romulischen Ritterzenturien bezeichnen, ursprünglich aber die Tribusnamen gewesen seien. Freilich hatte in Rom eine entgegengesetzte Sage das Übergewicht, wonach es sich um drei erst längere Zeit nach Gründung der Stadt zusammengekommene Volksteile gehandelt hätte: um Latiner, Sabiner und etwa Etrusker; nur Dionysios von Halikarnaß, als geborener Grieche, sah das Richtige, daß nämlich alle drei Tribus ursprünglich seien, und daß die Spätergekommenen, Sabiner und wer es sonst gewesen, in die schon bestehenden Tribus nachträglich seinen mitverteilt worden. Der dritte Stamm, die Luceres, ist so ursprünglich als die beiden andern; in uralten Zeiten, als das Volk vielleicht noch lange nicht in Italien war, sind die drei zusammen in eins geschmolzen, auch hier etwa wie bei den Dorern zwei Gleiche und ein Ungleiches, welches ein stärkeres oder ein schwächeres gewesen sein kann.

 

Die ganze spätere Neueinteilung der Phylen möge hier übergangen werden. Daß Kleisthenes für Attika aus den vieren zehn machte, konnte eine dringend gewordene Ausgleichung sein, indem etwa die vier alten, welche noch...

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