In einem Artikel der Presse vom 24. Juli 1999 wird Grass wie von vielen anderen Rezensenten und Kritikern unter anderem vorgeworfen, dass er in Mein Jahrhundert im großen und ganzen gar nicht befugt sei, über das komplette 20. Jahrhundert zu schreiben, da der erste Satz des Romans „Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen“ in Anbetracht des Geburtsjahres des Autors so ja nicht stimmen könne (7). Somit erteile Grass „dem Leser eine Geschichtslektion, die zumindest was das erste Viertel des Jahrhunderts betrifft, daran krankt, daß er eben nicht ´Jahr für Jahr dabeigewesen´ ist. Deshalb mußte Grass sich hier auf die Recherchedienste eines Zeithistorikers stützen. Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich aus den „ausgewählten Merkwürdigkeiten“ (Die Presse 24.Juli 1999) und dass die „Kostüme der literarischen Strömungen und Moden dieses Jahrhunderts (...) am Kleiderhaken“ bleiben (Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.Juli.1999). Damit ist zum einen die Auswahl der Ereignisse im Bereich von technischen, mediengeschichtlichen und militärischen Geschehnissen am Beginn des Jahrhunderts gemeint, wie die 1901 eröffnete erste Schwebebahn der Welt oder der erste Stapellauf eines U-Bootes im Jahre 1906, sowie bei der zweiten angeführten Kritik die Nichtbeachtung des Naturalismus, Expressionismus oder des Dadaismus. Unverständlicherweise wird nicht berücksichtigt, dass Grass durch seine betriebene Auswahl keineswegs etwas absolut Ungewöhnliches darlegt. Es ist nicht eine Voraussetzung der geschichtlichen Forschung, in der Zeit, über die man schreibt, gelebt zu haben. Des weiteren haben viele Fachwissenschaftler in ihren Forschungsschwerpunkten „Merkwürdigkeiten“ ausgewählt und es gilt zumeist eine multiperspektivische Aufarbeitung der Welt- oder Landesgeschichte als etabliert.
Diese Kritik, die leider des Öfteren zu lesen und zu hören war und ist, entspricht jedoch überhaupt keiner vernünftigen Grund- und Sachlage, da jeder einzelne Wissenschaftler, jeder Literat, jeder Autor, sogar jedes Individuum in der täglichen Kommunikation mit anderen, persönlich wie gesellschaftlich, politische, kulturelle, wissenschaftliche, wirtschaftliche oder triviale wichtig erscheinende Erlebnisse, Erfahrungen und Geschehnisse aus der Gegenwart und der Vergangenheit wiedergibt und damit nie der Anspruch auf eine kollektive Übereinstimmung gelegt werden kann noch explizit angeführt werden möchte. Dies trifft ebenso zu, wie die Tatsache retroperspektivisch über Ereignisse zu berichten, obwohl eine physische Distanz vorliegt. Geschichtsschreibung kann ja nicht nur in der Gegenwart betrieben werden und Wissenschaftler evaluieren Materialien und Quellen der Vergangenheit in ihren Forschungsarbeiten.
Die Ereignisse, die Grass in den Jahren vor seiner Geburt in Mein Jahrhundert schildert, sind für ihn und für viele andere Menschen, sowie für das Verständnis einzelner Bereiche wie Politik, Gesellschaft oder Technologie und ihrer zeitgenössischen Ausprägungen maßgeblich interessante Geschehnisse, die zu einem erweiterten Geschichtsverständnis und zur Darstellung der vergangenen Wahrheit und Wirklichkeit verhelfen. Dass er sich dafür der Hilfe eines zeitgenössischen Historikers bediente, ist ebenso normal wie bei anderen Autoren, die historische Tatsachen wiedergeben möchten und ebenfalls auf Recherchedienste zurückgreifen. Eine fachwissenschaftliche Recherche ist ein unabdingbarer Grundstock für eine sachliche Darstellung der Vergangenheit, wobei es betont sei, dass Grass ja auch keinesfalls die Absicht pflegte, ein Geschichtsbuch im traditionellen Sinne zu schreiben. Verwunderlich ist weiterhin auch die Tatsache, dass so viele andere Autoren den permanenten Versuch unternehmen, Grass vorschreiben zu wollen, was ihrer Ansicht nach von Bedeutung in dem jeweiligen Jahr gewesen wäre und sich keineswegs mit dem gewählten Ausschnitt der Geschichte und Realität zufrieden geben wollen. Monika Shafi berichtet über die kritische Aufnahme des Romans in der Literaturwelt: “This text baffled and disturbed critics both in Germany and America; they called it peculiar, strange or weak, a piece that neither thematically nor formally seemed to fit into Grass´s ouvre. Many of them argued that the idea of portraying the century with a story per year did not work because neither literature´s nor history´s needs were met this way” (39).
Doch man muss der deutschen sowie der amerikanischen Kritik über Mein Jahrhundert widersprechen, denn Grass kann die historischen und die literarischen Bedürfnisse abdecken, was im Folgenden an einer Erzählung exemplarisch unterlegt werden soll.
Wenn er, zum Beispiel, für das Jahr 1906 von dem ersten Stapellauf eines deutschen U-Bootes erzählt und in dieser Geschichte folgendes schreibt: „Bedauerlicherweise hat mein Erfinder, Sir Arthur, vergessen zu berichten, daß ich als junger Leutnant in Kiel dabei gewesen bin, als am 4. August 1906 auf der Germaniawerft unser erstes seetaugliches Boot mit dem Werftkran auf Wasser gesetzt wurde, streng abgeschirmt, weil geheim“ (Mein Jahrhundert 27), so ist der Zusammenhang zwischen Literatur- und Geschichtsschreibung eindeutig zu erkennen. Historische Tatsachen werden mit Hilfe einer prosaischen Erzählweise von der Erzählperspektive eines Ich-Erzählers objektiv dargestellt. Es findet also eine Vermischung zweier geisteswissenschaftlicher Disziplinen statt, deren Ergebnis eine neu entwickelte Form der Überlieferung ausmacht. Somit sollten den vielen Kritikern, u.a. Ira Panic in ihrer Rezension über Grass´ Roman, entschieden widersprochen werden, wenn sie Mein Jahrhundert als „eine harmlose, nett anzusehende Sammlung zusammenhangloser, mehr oder weniger geglückter Kürzestgeschichten“ betrachten (1). Heinz-Peter Preusser gibt hierzu die absolut passende Antwort in seinem Aufsatz „Erinnerung, Fiktion und Geschichte. Über die Transformation des Erlebten ins kulturelle Gedächtnis: Walser – Wilkomirski – Grass.“ In diesem bespricht der Autor unter anderem Ein springender Brunnen (1998) von Martin Walser und Günter Grass´ Im Krebsgang (2002), in denen er Erinnerungen als Wahrheitsaussagen oder reine Produkte der künstlerischen Phantasie analysiert. Unter dem Teilpunkt „Geschichten und Geschichte“ werden dabei sehr interessante Ergebnisse gefunden, die außer in Walsers Buch und Im Krebsgang durchaus auch in Mein Jahrhundert zu finden sind. Walser, der ebenso wie Grass wegen seiner unkonventionellen Schreibweise und seiner Abhebung von den gesellschaftlichen Forderungen und Normen oft vorschnell kritisiert wird, schreibt in seinem Buch einen für das Verständnis von Grass´ Jahrhundertroman wichtigen Satz: „In der Vergangenheit, die alle zusammen haben, kann man herumgehen wie in einem Museum. Die eigene Vergangenheit ist nicht begehbar“ (9-10). Preusser erweitert nun diese Aussage und rundet ihren Inhalt ab, in dem er fordert, dass die eigene Vergangenheit erzählt werden muss: „Es müssen einzelne Geschichten sein, die Erzählungen, die dasjenige ergänzen und kontrastieren, was als allgemeine Geschichte nur im Singular vorkommt“ und legt indirekt Grass´ Intention vor, ein Buch zu schreiben, das subjektiv und autobiographisch ist und zugleich objektive Tatsachen enthält (487). Preusser schreibt weiter „In der dichotomen Konstruktion fällt einerseits die sprichwörtliche Objektivität auf, in der vergegenwärtigt wird, was allen präsent ist oder gesellschaftliches Wissen über eine Zeit sein soll. Andererseits ist dem Einzelnen gerade nicht verfügbar, was seinen individuierten Anteil am Ganzen der Vergangenheit ausmacht“ (488). Diese Aussage erklärt und verteidigt Grass´ Schreibweise und kann entscheidende Impulse für eine rechtmäßige Anerkennung der geleisteten Arbeit des Autors geben. Grass verbindet in Mein Jahrhundert nämlich durch objektive Beschreibungen vergangener Ereignisse, der historischen Faktenwiedergabe, die stets nachprüfbar ist und einer wissenschaftlichen Untersuchung jederzeit stand halten kann, und der subjektiven, oft autobiographischen Gedankenstruktur, eben ungemein einfallsreiche Historie und literarische Personen- und Handlungssysteme, in dem er eigene Lebenserfahrungen subjektiv bzw. Erfahrungen anderer intersubjektiv oder objektiv schildert. Dadurch stellt er Geschichte durch Geschichten dar, um sein eigenes Leben zu verstehen und wichtige Lebenseinschnitte aus der Retrospektive zu verarbeiten.
Das Ziel des Romans ist dabei die angesprochene Darlegung der eigenen Vergangenheit und deren Offenbarung und Verarbeitung durch kurz gefasste Geschichten, die außer der kollektiven Wissensbereicherung bzw. des bereits allgemein vorhandenen, die kleinen persönlich-individuellen Nuancen auszuarbeiten, deren Wichtigkeit oft nur vom Einzelnen verstehbar ist. Der Einzelne hingegen weiß des Öfteren auch nicht seine Stellung im Gesamtsystem. Somit ist jeder Protagonist in Grass´ Einzelgeschichten nur von seiner eigenen, individuellen Rolle eingenommen, nur über seine eigenen Gedanken, Erlebnisse und Werte kann er berichten, da er als kleiner Teil eines großen Ganzen keineswegs die Möglichkeit besitzt, alles für die gesamte Gesellschaft wissenswertes zu ergreifen bzw. zu ergreifen. Der Protagonist ist sich ebenso wie der Autor nicht völlig bewusst, in welchem Verhältnis sein eigenes Leben zu gesamtgesellschaftlichen Denk- und Wissenskategorien steht. Grass kann die Vergangenheit aller deutschen Bürger mit seiner interpersonellen...