Warum wir eine globale Ethik brauchen
Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht
Wir leben heute in einer globalisierten Welt. Was auf der anderen Seite der Erde geschieht, hat Auswirkungen auf uns. Wirtschaft, Politik, Erziehung und Kultur finden in einem globalen Maßstab statt. Unsere Ethik und Moral braucht ebenfalls eine Globalisierung. Eine neue globale Ordnung verlangt nach einer neuen globalen Ethik. Sie ist der Schlüssel zum Umgang mit den Problemen unserer Zeit.
Weltweit sind wir mit Klimawandel, Terrorismus und Kriegen zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen konfrontiert. Fanatismus, Diskriminierung, Spaltung, Gewalt, Wirtschaftskrisen, Umweltzerstörung – das betrifft uns alle. Wir müssen all dieses Leid tief betrachten, um gute Entscheidungen zu treffen und uns weise zu verhalten. Als Menschen mit unterschiedlichen Traditionen müssen wir uns zusammen an einen Tisch setzen, um die Ursachen des globalen Leidens zu finden. Wenn wir aus einer Perspektive der Klarheit, Ruhe und des Friedens tief sehen, erkennen wir die Ursachen, können diese entwurzeln und verwandeln und so einen Ausweg finden.
Ein globales Angebot
Wir Menschen leben in sehr unterschiedlichen Kulturen und Nationen, mit eigenen Werten, Verhaltensweisen und Kriterien, was ethisches Handeln betrifft. Wir brauchen unsere gesamte kollektive Weisheit, um global geltende ethische Normen zu entwickeln. Unter Einbeziehung aller Völker und Traditionen können wir eine globale Ethik erschaffen, die auf gegenseitigem Respekt gründet.
Auch heute noch ist die Religion für viele Menschen die Basis ihrer Ethik. Aus der Überzeugung, es gäbe ein göttliches Wesen, das darüber entscheidet, was richtig und was falsch ist, gehen Gläubige davon aus, dass sie, ungeachtet ihrer eigenen Wahrnehmung, nur den Regeln dieser religiösen Tradition folgen müssen, um richtig zu handeln. Andere Menschen folgen einem wissenschaftlichen oder utilitaristischen Ansatz und betrachten nur die logischen Konsequenzen ihres Handelns. Der buddhistische Beitrag zu einer globalen Ethik unterscheidet sich von beiden Ansätzen. Er gründet in einer Wahrnehmung und einem Verständnis der Welt, die Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht als ihre Voraussetzungen haben. Ausgangspunkt ist ein Gewahrsein für die Nichtdualität von Subjekt und Objekt, eine Bewusstheit für die Verbundenheit aller Dinge. Ein solcher Weg kann von allen Menschen akzeptiert werden, jeder kann ihn beschreiten, ob man nun an einen Gott glaubt oder nicht. Es ist ein Weg, der praktiziert werden will, und wenn Sie das tun, werden Sie sehen, dass er Ihnen größere Freiheit schenkt.
Buddhistische Ethik im Alltag anwenden
Während des Vietnamkriegs haben wir den Begriff Engagierter Buddhismus geschaffen. Viele von uns haben während des Kriegs als Mönche, Nonnen und Laien Sitz- und Gehmeditation praktiziert. Dabei hörten wir die Bomben fallen und die Schreie der verwundeten Kinder und Erwachsenen. Meditieren bedeutet auch wahrnehmen, was geschieht. In unserem Umfeld geschah Leid an vielen Menschen, und ihr Leben wurde zerstört. Wir nahmen all das wahr, und uns bewegte der Wunsch, etwas zu tun, um das Leid in uns und um uns herum zu lindern. Wir wollten für andere da sein und gleichzeitig Sitz- und Gehmeditation praktizieren. Denn sie gaben uns die innere Stabilität und den Frieden, die wir brauchten, um den Tempel zu verlassen, Hilfe zu leisten und Leid zu lindern. Achtsam gingen wir Seite an Seite mit dem Leid an die Orte, wo die Menschen im Bombenhagel um ihr Leben liefen. Wir praktizierten achtsames Atmen, während wir uns um die durch Gewehrschüsse oder Bombeneinschläge verwundeten Kinder kümmerten. Ohne unsere Achtsamkeitsübungen hätten wir uns dabei selbst verloren, wären schnell ausgebrannt gewesen und hätten niemandem helfen können.
Aus dieser schwierigen Situation heraus entstand Engagierter Buddhismus. Es ist nicht einfach ein Buddhismus, der soziale Probleme einbezieht. Engagierter Buddhismus bedeutet, dass wir Achtsamkeit praktizieren, wo immer wir sind, was immer wir tun und wann immer wir es tun. Wenn wir allein sind, wenn wir gehen, sitzen, unseren Tee trinken oder das Frühstück zubereiten. Auf diese Weise praktizieren wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere: Wir bewahren und stärken unsere Kräfte, um anderen wirklich helfen und mit allem Leben verbunden sein zu können. Engagierter Buddhismus ist also nicht nur Selbsthilfe. Er ermöglicht uns, dass wir uns dem Glück aller Wesen stärker verpflichtet fühlen.
Engagierter Buddhismus ist ein Buddhismus, der direkt mit dem Leben zu tun hat. Das drückt sich auch in der Figur des Bodhisattva aus. Eine oder ein Bodhisattva ist ein Wesen, dessen einziges Ansinnen es ist, durch sein Handeln Leid zu lindern. Durch die Einsicht, dass wir mit allen anderen Wesen auf das Tiefste verbunden sind – wir nennen das Intersein –, wissen wir, dass wir selbst weniger leiden, wenn andere Menschen weniger leiden. Und wenn wir selbst weniger leiden, leiden auch andere Menschen weniger.
So wie wir den Begriff Engagierter Buddhismus verwenden, sprechen wir inzwischen auch oft von Angewandtem Buddhismus. Das Wort Anwendung wird oft in der Wissenschaft verwendet, und wir benutzen es, weil wir deutlich machen wollen, dass unser Verständnis der Wirklichkeit zur Klärung beitragen kann und dass es um einen Weg geht, jede Situation zu transformieren. Im Buddhismus gibt es etwas, das immer und unter allen Umständen genutzt werden kann, um eine Situation zu beleuchten und bei der Lösung eines Problems zu helfen. Es gibt einen Weg, wie man in jeder Situation Mitgefühl und Verstehen walten lassen kann, um Leiden zu mindern. Das ist die Essenz des Angewandten Buddhismus.
Die Grundlage einer buddhistischen Ethik
Die Grundlage einer buddhistischen Ethik ist Achtsamkeit. Was bedeutet achtsam sein? Es bedeutet zunächst, dass wir innehalten und das tief betrachten, was im gegenwärtigen Moment geschieht. Dadurch können wir das Leiden in uns und außerhalb von uns erkennen. Wir können uns im konzentrierten tiefen Schauen üben, um die Ursachen dieses Leidens zu erkennen. Das Leiden selbst müssen wir verstehen, denn nur dann wissen wir, was wir unternehmen müssen, es zu lindern. Wir können dabei auch die Einsicht anderer nutzen, die Achtsamkeit unserer Sangha zum Beispiel – der größeren Gemeinschaft der Praktizierenden –, um unsere Erkenntnisse mit anderen zu teilen und um herauszufinden, welches Handeln zu einer Transformation dieses Leidens führen kann. Kollektive Einsicht ermöglicht uns, den für alle segensreichen Pfad zu erkennen, der zur Beendigung des Leidens führt, und zwar nicht nur für den Einzelnen, sondern für uns alle.
Der tugendhafte Pfad
Im Vietnamesischen übersetzen wir Ethik als dao duc, den tugendhaften Pfad. Duc bedeutet Tugend im Sinne von Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit, Integrität und Verständnis. Das Wort ist kurz, doch es hat viele Bedeutungen: Versöhnlichkeit, Mitgefühl, Toleranz und Menschlichkeit – alles gute Qualitäten, die jeder Mensch braucht. Der Pfad sollte uns die Art tugendhaften Verhaltens ermöglichen, die uns zu nachhaltiger Veränderung verhilft, damit wir andere unterstützen können, ein glückliches Leben zu führen. Haben wir die Eigenschaften eines tugendhaften Menschen, dann verursachen wir anderen kein Leid. Diese Art Tugend bietet uns eine Richtschnur für ein Verhalten, das anderen oder uns selbst kein Leiden bringt.
Eines der vietnamesischen Wörter für Ethik ist luong li. Das bedeutet mitmenschliches Verhalten. Luong bedeutet die Moral von Menschen, und li bezeichnet die grundlegenden Prinzipien, die zu richtigem Verhalten und richtigem Handeln führen. Wenn wir die Begriffe zusammenfügen, ergibt sich eine weitere Bedeutung dao li luong thuong, und das meint ein moralisches Verhalten, dem jeder und jede zustimmen kann. Thuong bedeutet üblich, gebräuchlich, etwas, das jeder annehmen kann, etwas, über das Konsens besteht. Die Moral ist in gewissem Sinne etwas Beständiges, sie ändert sich nicht von Tag zu Tag. Wir sprechen also von einer dauerhaften Moral, von grundlegenden Prinzipien, auf die wir uns einigen und die zu mehr Verstehen und Akzeptanz führen.
Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht
Der Buddha war bereits bei seiner ersten Belehrung, die er seinen ersten Schülern gab, sehr klar und praxisbezogen in Bezug darauf, wie wir unsere individuellen als auch gemeinschaftlichen Probleme umzuwandeln vermögen. Er konzentrierte sich darauf, wie wir die Lehren im alltäglichen Leben umsetzen können. Das ist Ethik. Die Praxis, das sich in etwas Üben, ist dabei zentral, denn dadurch entstehen Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht. Diese drei Energien sind die Grundlage aller buddhistischen Praxis und buddhistischen Ethik. Wir können nicht über Ethik sprechen, ohne von diesen drei Energien zu sprechen. Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht helfen uns, einen Pfad zu schaffen, der zu Frieden und Glück, Transformation und Heilung führt. Es ist sehr wichtig, dass wir Ethik nicht als etwas Abstraktes auffassen, sondern als etwas Lebenspraktisches. Unsere Einsicht leitet und hilft uns, Mitgefühl, Verstehen, Harmonie und Frieden für uns und die Welt aufzubringen.
Kürzlich fragte mich ein christlicher Theologe bei einem Interview, das er mit mir führte, ob und wie es überhaupt möglich sei, so etwas wie eine globale Spiritualität zu schaffen. Er schien zwischen Spirituellem und Ethischem als zwei verschiedenen Bereichen zu unterscheiden. Doch nach meinem Verständnis...