Im Oldtimer zum »Zerbrochnen Krug«
Roadbook 2017
Lanzenkirchen, 2017. Eine niederösterreichische Ortschaft im Hinterland von Wiener Neustadt. Im Grandhotel Niederösterreich mit seinem idyllischen, von einem Kieselweg gesäumten Naturteich begrüßt Bürgermeister Bernhard Karnthaler eine Hundertschaft an Sonntagsausflüglern. Er lobt die Arbeitsplatzbeschaffung in Lanzenkirchen, hebt die beiden Golfplätze der Gemeinde als touristisches Alleinstellungsmerkmal hervor, bedankt sich bei den Betreibern des Hotels für ihre Gastfreundschaft und übergibt schließlich das Mikrofon an »den Herrn Intendanten«. Allerdings nicht, ohne ihm das »obligate Präsenterl« zu überreichen, einen Korb mit Produkten vom eigenen Hof. Der Herr Intendant bedankt sich mit medial-routiniertem Lächeln. Die Hundertschaft applaudiert.
On the Road mit Schriftsteller Christoph Frühwirth
Ein Sonntag am Land, ein Sonntag mit Wolfgang Böck. Zum zwölften Mal richtet der leidenschaftliche Oldtimer-Sammler Böck im Rahmen der von ihm seit 14 Jahren geleiteten Schlossspiele Kobersdorf seine »Oldtimer-Rallye« aus und führt einen Konvoi gleichgesinnter Automobilisten an, die sich die abendliche Vorstellung gemütlich »er-fahren«. 2017, in der Saison des »Zerbrochnen Krugs«, geht es über die Rosalia, eine der wenigen Höhenstraßen des ansonsten brettlebenen Bundeslandes.
Böck setzt zu einem kurzen Rückblick an, den er mit einem pointierten Bonmot ausklingen lässt: »Heut dürfen wir den tausendsten Oldtimer auf unserer Tour begrüßen. Da wir keine Startnummern vergeben, darf sich aber jeder von euch als der tausendste Fahrer fühlen.« Ein Raunen geht durch die Anwesenden, dem befreiendes Lachen folgt. Ein stimmiger Auftakt zu einem Nachmittag im Zeichen automobiler Nostalgie.
Karl Hatzigmoser, der Organisator der Tour, übernimmt und gibt einen kurzen Abriss zum Ablauf. Es gäbe auf der hoteleigenen Terrasse eine kleine Erfrischung »und a bissl was zum Beißen«. Währenddessen erfolge die Ausgabe des Roadbooks, der detaillierten Routenbeschreibung. Außerdem erhalte jeder Fahrer eine eigene Nummerntafel als Andenken. Zu seiner Linken gehe es zum Teich, rechter Hand, am Parkplatz, können die Fahrzeuge besichtigt werden. Wer also flanieren wolle, biege links, wer gustieren wolle, rechts ab. Einige wenige folgen nach dieser Verortung dem Hinweis auf den Teich, das Gros stürmt zum Parkplatz.
»Wo is’ denn dem Herrn Böck sein Auto?«, fragt eine untersetzte Rothaarige.
»Irgendwo wird’s scho sein«, erwidert ihr stämmiger Begleiter.
Der Parkplatz gleicht einem Oldtimer-Museum mit Schwerpunkt angelsächsischer Raum, durchsetzt mit deutschen Fabrikaten. Jaguar reiht sich an Morgan. Dazwischen ein Opel Kadett, ein Mercedes 170. Dann wieder ein bordeauxroter Jaguar 420 neben einem knallroten Ford Mustang. Ein BMW Automatic 2002 steht neben einem Steyr Puch 500. Dann wieder teilen sich, noblesse oblige, ein schwarzer und ein grüner Morgan den Stellplatz. Als Kontrast ein Pinzgauer in Tarnfarbe in direkter Sichtweite zu einem Alfa Romeo Milano. In der Windschutzscheibe eines Opel HELLA steckt eine Juxtafel: »Finger weg! Sonst: Finger weg!«
Wolfgang Böck posiert mit einer jungen Frau vor ihrem gelben 2CV, besser bekannt unter dem volkstümlichen Kosewort Ente. Erinnerungen werden in ihm wach, war doch eine dieser Enten sein erstes Auto. Der Gesichtsausdruck beim Selfie verrät das Déjà-vu: durch die Gegend watscheln, ohne sich Gedanken über Geschwindigkeitsbeschränkungen machen zu müssen – ließ das Cabrio für den schmalen Geldbeutel doch nur gemächliches Fahren zu.
Gemächlich beginnt auch die Fahrt von Lanzenkirchen nach Kobersdorf. Böck steigt in seinen Jaguar MK-2, einen komfortablen Viersitzer, metallicfarben mit roten Ledersitzen. Das Armaturenbrett ist in Mahagoni gearbeitet. Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz, blättere im Roadbook. Beim Kreisverkehr verlassen wir die Ortschaft Richtung Pitten. Wir fahren durch Walpersbach, die Rosaliastraße entlang. Bei einer Tankstelle in Bad Erlach biegen wir links ab und erreichen das angesteuerte Pitten. Hier machen wir aufgrund einer Einbahn eine Ehrenrunde um das Gemeindeamt, halten uns bei der Ortsausfahrt Richtung Bromberg. Ab da geht es bergauf. Eben noch beidseitig flankiert von Kukuruzfeldern, führt die kurvenreiche Strecke nun durch Waldgebiet. Böck deutet mit dem Kopf zu einem im Wald versteckt liegenden Gehöft: »Dort oben wohnt der Murnberger.« – Der Regisseur der Erfolgstrilogie »Brüder«, in der Böck neben Erwin Steinhauer und Andreas Vitásek agiert hat.
Vorbei an der Backhendlstation Stupfenreith führt der Weg durch Bromberg. Die Ortschaft beherbergt einen Traktoroldtimerhof. Am Stickelberg, einer Anhöhe mit traumhaftem Panoramablick über die Weite des Rosaliengebirges, hält Böck den Wagen an. Die Kolonne, die er anführt, hat sich im Nichts verflüchtigt. Es ist eine Stunde vergangen seit Beginn der Tour. Die Hälfte der 70 ausgeschilderten Fahrkilometer ist absolviert. Böck flucht laut vor sich hin. Im Wageninneren ist es, Ende Juli, stickig heiß. Das Anführen einer Kolonne von Wagen mit unterschiedlich antriebsstarken Motoren kostet Nerven, eine enorme Konzentrationsanstrengung. Es ist 17:00 Uhr am Nachmittag. Noch drei Stunden bis zur Aufführung. Eine kräftezehrende Bühnenperformance als Dorfrichter Adam liegt vor Böck.
Er wuzelt sich eine Zigarette, während wir auf die anderen Fahrer warten, bläst den Rauch durchs schräg gestellte Seitenfenster. Dann fixiert er mich unvermittelt: »Ich bin selber schuld.« Das allerdings sagt er schon wieder mehr für sich. Jammern ist das Seine nicht. Organisator Hatzigmoser tritt ans Auto. Böck kurbelt das Fenster herunter. Er schüttelt den Kopf: »Karl, heuer hast es wirklich gut g’meint. Nächstes Jahr: halbe Strecke – ich hab schließlich noch a Hack’n.« Und setzt nach: »Okay?« Die ersten Autos tauchen in unserem Windschatten auf. Langsam schließt die Kolonne auf. Die Fahrt geht weiter.
Blick in den Rückspiegel. Zwei Monate zuvor im Mai, in der Messehalle beim Prater, einem hellen, von Sonnenlicht gefluteten Mehrzweckraum. Sichtbeton. Holz. Glas. Das mit dem Boden abschließende Panoramafenster gibt den Blick frei auf eine der riesigen Ausstellungshallen am Messegelände. Hier finden die Proben zu »Der zerbrochne Krug« von Heinrich von Kleist statt.
Kleist, zu seinen Lebzeiten (1777–1811) ein am Unverständnis der Umwelt Gescheiterter. Mit 34 Jahren schied er »mit unaussprechlicher Heiterkeit« aus dem Leben, »weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt«. Die Nachwelt feiert ihn neben Shakespeare und Molière als Komödiendichter von Weltrang. In den kommenden sechs Wochen setzen sich Wolfgang Böck und sein Team mit den fein ziselierten Worten des Sprachjongleurs auseinander. Seine Kriminalkomödie »Der zerbrochne Krug« dreht und windet sich um einen alternden Glatzkopf mit Klumpfuß und stattlicher Leibesfülle, einen Dorfrichter mit biblischem Vornamen: Adam. Einen typischen Vertreter der Vitalkomik: verfressen, versoffen, geil bis zur Lächerlichkeit. Mir kommt spontan der einstige Skandalfilm »Das große Fressen« in den Sinn.
Schlossspiele Kobersdorf: Adam in »Der zerbrochne Krug« (2017)
Die Handlung des Stückes ist schnell erklärt, in den Worten des Richters selbst, der seinem Schreiber Licht einen nächtlichen Traum anvertraut:
Mir träumt’, es hätt ein Kläger mich ergriffen
Und schleppte vor den Richtstuhl mich; und ich,
Ich säße gleichwohl auf dem Richtstuhl dort,
Und schält’ und hunzt’ und schlingelte mich herunter,
Und judicirt den Hals ins Eisen mir.
Vorarlberger Landestheater: Ruprecht in »Der zerbrochne Krug« (1977)
Ein Krug ist zerbrochen. Ein Krug, der seiner Besitzerin die Welt bedeutet. Was zur Anklage kommt, ist nichts weniger als der zweite Sündenfall der Menschheit. In der pointierten Umkehrung des Situationskomikers Kleist sieht die Schlange Adam sich konfrontiert mit Eve, einer Unschuld vom Lande. Das ehrbare Bauernmädchen und der durchtriebene Lustmolch. Weltgericht in einem Dorf, dessen Name den ganzen Sprachwitz Heinrich von Kleists auf den Punkt bringt: Huisum. Was so viel heißt wie: »Ei, ich bin’s!« Doch statt Selbstanzeige zu erstatten und reumütig den Tathergang aufzuklären, redet sich dieser Adam um Kopf und Kragen. Wissend, dass das Objekt seiner nächtlichen Begierde, Eve, machtlos gegenüber seiner in den Grenzen des Ortes grenzenlosen Macht ist. Er bietet alle...