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E-Book

Hässliches Sehen

AutorBettina Stangneth
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644001138
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ob Lehrer oder Demagogen, Revolutionäre oder Terroristen, Kulturkämpfer oder ganz normale Selfie-Versender - sie alle eint die Hoffnung auf die Kraft der Bilder. Niemand muss nachdenken, wenn er es nicht will. Nur weil jeder Vernunft hat, steht es uns doch frei, ihr nicht zu folgen. Wer wirken will, setzt darum lieber auf die Sinne. Wer etwas ändern will, muss Zeichen setzen. Das Vertrauen in die Bildgewalt ist das Vertrauen auf die Unschuld des Sehens. Ein Bild soll leisten, was Gedanken nicht schaffen: die unmittelbare Erkenntnis. Bilderwelten können zusammenfügen, was kein Denken stiften kann: die Identität einer Gemeinschaft, das Wir. Denn hatte jemals eine Idee dieselbe Wirkung auf die Menschen wie Ideale? Konnte Vernunft je etwas ausrichten gegen Tradition und Kultur? Die Philosophin Bettina Stangneth, die hiermit den letzten Band ihrer Trilogie über das dialogische Denken vorlegt, fordert erneut dazu auf, liebgewordene Vorstellungen zu überprüfen. «Hässliches Sehen» ist ein Essay zur Frage, was eigentlich Sehen heißt.

Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR-Kultur-Sachbuch-Preis; die «New York Times» zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays «Böses Denken» (2015), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) sowie die Bände «Sexkultur» (2021) und «Überforderung» (2022). Stangneth erhielt 2022 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis.

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Leseprobe

Im Angesicht Gottes


Angst macht kindisch, kitschig – man sollte sie deshalb nicht für verlogen halten.

Benjamin Henrichs, deutscher Kritiker und Essayist, Polemik (1975)

Etwas wahrnehmen zu können bedeutet immer zweierlei: Es muss etwas da sein, und wir müssen so beschaffen sein, dass wir dieses Etwas überhaupt bemerken. Wenn uns die entsprechenden Rezeptoren fehlen, können wir uns nicht bewusst werden, dass ein Ding gegenwärtig ist, oder genauer gesagt: Es ist für uns kein Gegenstand, und das nicht einmal dann, wenn es uns gefährlich werden kann. Ein giftiges Gas, das wir nicht riechen können, kann uns dennoch töten. Etwas wahrnehmen zu können bedeutet also immer, dass wir bemerken, wenn es uns berührt, und wie jede Berührung kann es uns angenehm oder unangenehm sein. Das gilt selbstverständlich auch für die Wahrnehmung der Form des Denkens. Ein Wesen, für das Sinnlichkeit und Denken noch in den höchsten Denkformen verknüpft sind, vermag zwar abstrakt zu denken, ist aber im Denken niemals gleichgültig. Das ist der Grund dafür, dass Immanuel Kant sich so viel Mühe gab zu betonen, dass die Vernunft nicht etwa bloß eine Idee ist, sondern ein Faktum, also etwas, von dessen Existenz sich jeder überzeugen kann. Und darum machte Sigmund Freud die «Stimme des Intellekts» für die Weiterentwicklung der Menschen Hoffnung. Diese Verknüpfung einer besonderen Denkform mit dem Wohlgefallen, unsere Präferenz für das Vernünftige, ist tatsächlich immer schon das Maß für alles, was wir über uns und die Welt denken und wie wir uns Gemeinschaft vorstellen. Genau darum sind wir allerdings auch so anfällig für Kurzschlüsse, die sich fatal auswirken können, weil unsere Vorliebe für das Vernünftige die Konsequenzen verstärkt, sodass sich nicht nur ein Gedanke oder eine Vorstellung, sondern gleich der Maßstab des Denkens und der Wahrnehmung verändert.

Weil sich unsere Vernunft ganz anders anfühlt als das übliche Durcheinander von Begierden, Wünschen und Vorstellungen, kommt einem eine Instanz, die sich ebenso unvermittelt wie unbestechlich äußert, selbstverständlich fremd vor. Und weil die Vernunft uns zwar zur Ordnung, aber meist gegen unsere Natur ruft, liegt es auch nahe, sie sich nicht nur als das Andere der Natur, sondern sogar als übernatürlich vorzustellen. So ist es alles andere als ein Zufall, wenn in unterschiedlichsten Teilen der Welt ein Gedanke entsteht, der Menschen für sich einnahm wie kaum ein anderer. Und es kann auch nicht verwundern, dass diese Lieblingsvorstellung der Menschen große Ähnlichkeit mit der Vernunft aufweist, nämlich ein Gott, der uns alle immer sieht, vor dem sich keine Verfehlung verbergen lässt, der seine Forderungen kategorisch erhebt und dem wir unbedingt gefallen wollen, weil sich das Versagen vor seinen Ansprüchen unangenehm anfühlt.

Wir haben uns daran gewöhnt, Religion als das zu verstehen, was vor der Wissenschaft entstand und sie dann auch gleich überspringt, um alle Vernunft zu übersteigen. Kant sprach unverblümt vom «Opium des Gewissens», und ihm hätte die Variation von Karl Marx zweifellos gut gefallen, zumal Kant selber alles versuchte, um das Volk von süßlichen Nebelschwaden zu befreien. Beide wussten natürlich nur zu gut, dass sich Menschen umso schwerer aufklären lassen, je lieber sie ihre Droge oder die Macht und das Geld, die man durch sie erringen kann, gewonnen haben. Aber nur weil die Wissenschaft sich in der Geschichte immer erst mühsam gegen Religionen behaupten musste, sodass wir uns Aufklärung gar nicht anders vorstellen können denn als Emanzipation der Vernunft vom religiösen Denken, heißt das nicht, dass Religionen als Normgemeinschaften je ohne Vernunft hätten entstehen, geschweige denn zu Weltreligionen hätten werden können. Schon das ist ein Indiz für die Probleme, die durch Anschaulichkeit entstehen können. Sind sie erst einmal da, ist also die Vernunfterfahrung mit der Gottesidee verknüpft, fällt es offensichtlich nicht nur schwer, diese Verknüpfung wieder zu lösen, sondern es kann sogar unmöglich werden, das zu erkennen, was dabei womit verknüpft ist. Frühe Religionen bestehen noch aus dem Versuch, sich die Natur gewogen zu machen und durch Rituale und andere Magie die Naturkräfte zu bannen, denen man sich so schutzlos ausgeliefert fühlt. Schon das war immer auch ein gutes Geschäft für die Magier, die sich als unverzichtbare Helfer anzubieten wussten, denn da Flüsse und Seen, der Wind und der Regen, ja überhaupt alles so gnadenlos scheint, entlohnt man gern jemanden, der offenbar mehr Einfluss hat.

Spätestens mit der Sesshaftigkeit entsteht auch die Vorstellung eines Gottes, der sich für die Menschen interessiert und nicht mehr durch Bestechung, sondern vielmehr durch eine gottgefällige Lebensweise zu gewinnen ist. An die Stelle des launenhaften Gottes, der sich an Glück und Elend der Menschen gleichermaßen ergötzen kann, tritt der gebietende Gott mit dem langfristigen Interesse an der Erziehung des Menschen nach seinem Bilde, der dafür zum unbestechlichen Buchhalter menschlicher Verfehlungen wird. Je nach Weltregion entstehen unterschiedliche Vorstellungen, wie das geschieht. Aber ob durch das Wiegen der Seele, die Bilanz im Sündenregister oder die Prüfung des Gehorsams – keine Tat bleibt unbemerkt, noch jeder Gedanke, jede Absicht zählt, weil dieser Gott alles sieht. Keiner möchte in Gottes Augen hässlich sein. Schon diese Furcht reicht aus, um alle Rituale zu heiligen, die sich in einer konkreten Gemeinschaft ausbilden. Noch die albernste Observanz, vom drastischen Kult bis zum lieblichen Dekor, hat den Rang einer Bewährungsprobe, die zu bestehen jedes Opfer wert ist, weil es immer um alles geht, wenn der Richter so allgegenwärtig ist wie die eigene Vernunft. Es ist natürlich besonders trostlos, aber der Kampf der Rationalität gegen die Irrationalität durch all die Folterkeller, die Scheiterhaufen und das Schlachtengemetzel beruht aus der Sicht der Erkenntnistheorie auf einer einfachen Verwechslung. Vom eigenen Erkenntnisvermögen befremdet, schuf sich der Mensch einen allsehenden Gott und ernährte das dazugehörige Personal, nur weil das leichter zu ertragen ist als die Vorstellung, dass jeder Mensch Missetäter, Fahnder und Richter in einer Person ist. Die Vernunft soll ganz die Stimme Gottes sein, und sollte der Mensch sie dennoch aus einer anderen Ecke hören, dann kostet ihn das seinen Platz im Paradies. Wie fremd muss Menschen ihre Vernunft gewesen sein, dass die Vorstellung, als unmündiges Kind im göttlichen Garten zu leben, das ein allmächtiger Gott adoptiert hat, attraktiver war, als mehr über die Vernunfterfahrung herauszufinden? Wobei man einräumen muss, dass noch der strengste Gott immerhin den Rest einer Hoffnung lässt, dass er gelegentlich vielleicht doch mal eine Verfehlung übersieht, weil anderes seine Aufmerksamkeit mehr beanspruchen könnte als die eine oder andere lässliche Sünde. Mag die eigene Vernunft auch gnadenlos sein, so weiß der Mensch seine Schwächen doch genug zu schätzen, um auch sie wenigstens gelegentlich für göttlich zu halten.

Nun ist die Weltgeschichte natürlich mehr als das, was der Erkenntnistheoriker in einem ihrer Phänomene wiedererkennt. Selbstverständlich ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass reine Glaubensgemeinschaften immer die absolute Ausnahme waren, also sehr viel mehr zusammenkommen muss als nur ein Bekenntnis, um ein dauerhaftes Miteinander zu begründen. Der glückliche Standort mit seinen Ressourcen, die Wetter- und Wirtschaftslage, aber auch das Unglück von Seuchen und anderen Unplanbarkeiten bilden einflussreiche Faktoren für den Erhalt einer Gruppe, die immer auch eine Überlebensgemeinschaft sein muss, wenn der Einzelne bereit sein soll, für diese Bindung etwas zu geben. Dennoch lohnt es sich, noch ein wenig bei der erkenntnisphilosophischen Perspektive auf die Religion zu bleiben. Denn es geht doch um die Frage, warum insbesondere monotheistische Religionen über lange Zeit so erfolgreich waren, ein Wir zu begründen, also menschliche Gemeinschaft zusammenzuhalten, und das über viele Veränderungen hinweg. Diese Frage ist schon darum nicht beliebig, weil der Einfluss der Weltreligionen so schnell zurückgeht, dass es sogar die Endzeitpropheten überfordert. Extremistische Erscheinungen können durch Lautstärke und Inszenierung viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und auch dazu verleiten, auf ein Wiedererstarken der Religionen zu schließen. Aber Radikalisierung ist seit je ein Phänomen von Restgruppen, die um ihre Bedeutung fürchten, weil sich die Mehrheit der Menschen längst anderem zugewandt hat. Der Schaden, den diese Restgruppen anrichten, kann erschreckend sein, aber die Menschen werden weder Paris abreißen, nur weil einigen bewaffneten Menschen die Lebensweise moderner Städter nicht passt, noch gerät ein Rechtsstaat allein durch angestrengte Reanimation eines Germanenkults ins Wanken. Die Mehrheit der Menschen ist längst woanders, und die Gotteshäuser werden nicht nur in Europa jedes Jahr leerer. Noch nicht einmal der Lebensraum hält noch zusammen, wenn ein Bewerbungsgespräch per Webcam und eine Bahnfahrkarte reichen, um einen Besseren zu finden.

Das, was man beispielsweise Verweltlichung oder Individualisierung nennt, kann sich sehr angenehm anfühlen, wenn man zu denen gehört, die vor neuen Wegen nicht mehr Angst haben als vor den alten. Und tatsächlich könnte man die alten Rituale je nach Gusto vergessen oder einfach nur darum weiterpflegen, weil man das Dekor alle Jahre wieder so schön findet, und es ansonsten einfach bei Lebensabschnittsgemeinschaften belassen, wären da nicht zwei Dinge: Wir sind mit Problemen konfrontiert, die sich...

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