Vom Danken und Staunen
Als ich die Tür öffne, weht das Moskitonetz über meinem Bett im sanften Luftzug, der durchs Fenster strömt. Es ist ein heißer Tag, wie alle Tage im Süden Tansanias. Ich atme tief ein. Afrika! Der Geruch dieses Kontinents, die Geräusche, die Landschaften und das Licht sind mir vertrauter geworden als manche Erinnerung an meine westfälische Heimat. Ich liebe den afrikanischen Himmel und den warmen Indischen Ozean an der Ostküste, wie auch den eisigen Atlantik an Namibias Westküste, wo ich viele Jahre gelebt habe.
Ich schaue aus dem Fenster und genieße die Aussicht, die über Jahre hinweg allmorgendlich das Erste war, was ich sah. Neben den Mangobäumen steht Theklas Hütte. Dort hat die erste benediktinische Ärztin, Schwester Dr. Thekla Stinnesbeck, ab 1927 ihre Patienten empfangen, vor allem Inder, die damals noch in großer Anzahl hier lebten und Vertrauen in die deutsche Ärztin setzten. Von weither kamen die Patienten den beschwerlichen Weg nach Ndanda angereist. Sr. Thekla war eine Visionärin und Pionierin und in vieler Hinsicht ein Vorbild für mich. Wenn Zweifel, Kummer und Einsamkeit mich heimsuchten, habe ich an sie und an andere starke und weise Ordensfrauen gedacht und mir gesagt: Wenn diese Frauen es geschafft haben, dann schaffe ich es auch. Es war nicht immer einfach, aber schließlich habe auch ich – in meinem Hospital in Afrika – unzählige Patienten behandeln und Leben retten dürfen. In der Nähe von Theklas Hütte, einem offenen Pavillon, wiegt sich mein geliebter Bambus im Wind. Das sanfte Schwingen des mächtigen Gewächses, begleitet von changierenden Grüntönen, wird mir fehlen, genauso wie der blühende Jacarandabaum im Hof. Im Garten reihen sich Beete mit farbenfrohen Blumen aneinander, aus denen die Schwestern blühende Sträuße für die Kapelle und unseren Speiseraum – das Refektorium – binden. Zum Namenstag findet jede Schwester ein Sträußchen an ihrem Platz. Ich schaue hinauf auf das Makonde-Plateau. Etwas entfernt schlängelt sich ein roter Lehmweg durch die satte Landschaft des Südens. Wenn es ausreichend regnet, haben die Menschen genug zum Essen, so wie in diesem Jahr.
Viele Straßenkilometer in dieser Region sind noch nicht asphaltiert und machen das Reisen beschwerlich. Am Ndanda-Bach haben Mönche vor Jahrzehnten ein kleines Wasserkraftwerk gebaut, das ausreichend Strom für unser Krankenhaus und einige Klostergebäude liefert. Weiter oben, in den Bergen, gibt es eine Quelle mit einem See, wo das sauberste Wasser des südlichen Afrikas sprudelt. Dorthin fahre ich gern, um zu schwimmen, oder an den Indischen Ozean bei Mtwara, wo ich meine wenigen Ferientage am liebsten verbringe. Im kristallklaren Wasser zeigen sich dort bei Ebbe wunderbare Korallenriffe, bunte Pflanzen und Fische und laden zum Schnorcheln ein. Dabei habe ich mir schon manchen Sonnenbrand eingefangen.
In den kleinen Dörfern, die zu Ndanda zählen, wird Landwirtschaft betrieben. Etwa 25 000 Menschen leben hier durch den Anbau von Mais, Reis, Casava und den wenigen Fruchtsorten, die auf diesen Böden gedeihen. Die Hitze Afrikas hat mir oft schwer zugesetzt, und auch nach über vier Jahrzehnten auf diesem Kontinent fehlen mir manchmal die vier Jahreszeiten, wie wir sie aus Europa kennen.
In einem Interview für eine Filmproduktion habe ich kürzlich gesagt: »Ich lebe hier, weil es hier Aufgaben für mich gibt, die ich tagtäglich vor Augen habe. Und nach dem Willen Gottes ist es gut, dort zu sein, wo Hilfe gebraucht wird. Und das ist für mich seit vielen Jahren Afrika.« Das klingt wenig romantisch, aber meine Zuneigung zu Afrika und seinen Menschen ist vielfältig, und es braucht mehr als nur einige Worte, um dies zu beschreiben.
Andere Aufgaben an anderen Orten warten nun auf mich, aber ich habe die Hoffnung, dass mein Wirken hier nach dem Willen Gottes noch lange Früchte tragen wird. Manchmal werde ich gefragt, ob ich ein Rezept für den Erfolg meiner Projekte habe. Dann gebe ich gern eine typische Raphaela-Antwort: »Eine Vision haben, etwas wagen, Hilfe suchen und die Idee umsetzen! So einfach ist das!«
Natürlich kenne ich die Schwierigkeiten, vor denen manch eine Helferin oder ein Helfer zurückschrecken mag. Und mein Rezept ist sicher nicht frei von Nebenwirkungen. Auch mich hat die Arbeit mit meinen Schützlingen jeden Tag neu herausgefordert, und ich muss mir heute immer wieder dieselbe Frage stellen: Was ist der Wille Gottes? Im Lauschen auf mein Herz und auf die Menschen um mich versuche ich es herauszufinden.
Der Heilige Benedikt beginnt seine Regel mit dem Wort: »Höre!« So steht es auch im Mutterhaus von uns Missions-Benediktinerinnen in Tutzing an einem der bunten Kirchenfenster geschrieben: Höre. Es bedeutet das Horchen auf Gottes Wille mitsamt der vollen Bereitschaft des Ge-horchens. Dieses Hören ist grundlegend für meine Spiritualität.
Noch einmal schaue ich mich in meinem Zimmer um, schiebe das Moskitonetz zur Seite und stelle meine Tasche aufs Bett. Ordensfrauen leben in Bescheidenheit und reisen zumeist mit leichtem Gepäck, zumindest wenn es sich um die persönlichen Dinge und weniger um die bei den Adressaten beliebten Kurierdienste handelt. Aus Richtung Deutschland kommend, war mein Gepäck immer schwer von Medikamenten, Schokolade, Käse, Seife, Teelichtern für unsere Kapelle und anderen Besonderheiten, die es in Tansania nicht gibt. Doch nun bleibt mir nicht viel zum Packen. Mein persönliches Hab und Gut ist überschaubar und auch die Kleiderfrage stellt sich nur begrenzt. Mir genügen zwei schlichte graue Kleider für den täglichen Gebrauch und ein weißes für die Gottesdienste in Afrika sowie ein schwarzes Kleid für Deutschland. Heute gebe ich mein Zimmer auf, das ich weitgehend so verlasse, wie ich es vor acht Jahren vorgefunden habe. Im Kloster Tutzing werde ich dort schlafen, wohin man mich führt. Es gibt keine Wohnung, nicht mal einen Schrank von mir, sondern nur einen Koffer, der im Klosterkeller in Tutzing abgestellt ist. Ich bin weitgehend ohne Besitz, übrigens auch eine Regel Benedikts: Der Mönch darf kein Privateigentum besitzen. Außer einigen Erinnerungsstücken und Souvenirs für Familie und Freunde in Deutschland habe ich nur meinen Laptop, ein paar CDs und Bücher. Beim Ablegen meiner Gelübde vor 50 Jahren habe ich mich für ein Leben in Armut entschieden. Gleichzeitig sind Millionenbeträge durch meine Hände geflossen, so viel, dass ich aus dem Stegreif nicht sagen könnte, um welche Summen es sich im Einzelnen handelte und in welche Medizin- und Bildungsmaßnahmen für die Armen sie geflossen sind. Ich besitze zwei Paar Schuhe, eines davon steht in unserem Mutterhaus, weil ich es in Afrika nicht benötige, warme Winterschuhe, die ich mir 1994 in England kaufen musste. Aber Sandalen sind mir sowieso viel lieber.
Ich habe mich nie als arm empfunden, aber Armut war in meiner Umgebung stets präsent. Bittere Armut, Hunger, Krankheiten, Epidemien, gar Pandemien und allergrößte Not.
Während ich die letzten Gegenstände vom Nachttisch nehme, höre ich Geräusche von Stühle- und Tischerücken und Lachen aus dem Versammlungssaal, wo die Abschiedsfeier für mich und die Willkommensfeier für die neue Priorin, Sr. Terese, vorbereitet wird.
Seit Jahrzehnten lebe ich in Afrika und kann heute nur staunen, was aus meinen Träumen geworden ist. Schon als junges Mädchen wollte ich Ärztin für Afrika werden und den Notleidenden helfen. Damals war Albert Schweitzer mein großes Vorbild. Alle Berichte über sein Hospital und das Lepradorf im heutigen Gabun habe ich begierig aufgesogen. Was der charismatische Mann mit dem üppigen Schnurrbart nicht alles für die Kranken in Lambaréné, in Westafrika, getan hatte! Ich war Teenager, als er den Friedensnobelpreis bekam und sein Bild in allen Zeitungen war. Albert Schweitzer wollte ich nacheifern und Missionsärztin werden! Aber wie? Wenig ermutigend nannte meine Mutter zwei triftige Gründe, warum ich keinesfalls geeignet wäre, Ärztin zu werden: »Ursula, erstens kannst du noch nicht einmal ein Huhn ausnehmen, und zweitens bist du viel zu schüchtern. Du kannst nicht mit den Leuten reden.«
Ich erinnere mich noch gut an ihre Worte aus den späten Fünfzigerjahren, also müssen sie mich – damals hieß ich noch Ursula Händler – nachhaltig beeindruckt haben. Heute kann ich frei von jedem Bedauern sagen: Meine Mutter hatte vollkommen recht! Zum Teil, denn ein Huhn habe ich bis heute nicht ausgenommen, Ärztin für Afrika bin ich aber trotzdem geworden. Und mein einst zurückhaltendes Wesen wandelte sich Schritt für Schritt. Bis zum Ende meines Noviziats und der Ablegung meiner Ordensgelübde traute ich mir bereits einiges zu. An der Seite von Jesus Christus habe ich die notwendige Sicherheit gefunden. Im Kloster war ich meiner Berufung nachgegangen und durfte mein eigenes Charisma in der Gemeinschaft der Schwestern entdecken und erfahren, ganz so, wie es der Heilige Benedikt vorgesehen hat. Damals bekamen Frauen, die Ordensschwestern werden wollten, bei der sogenannten Einkleidung, wenn sie ins Noviziat aufgenommen wurden, einen neuen Namen. Für mich hatte meine Novizenmeisterin den aus dem Hebräischen stammenden Namen »Raphaela« gewählt, was nichts anderes heißt als Rapha-el, Gott heilt (Altes Testament, Buch Tobit). Aus Ursula Händler war Schwester Raphaela geworden.
Wenn ich auf mein reiches Leben zurückschaue, dann wundere ich mich in Dankbarkeit und Staunen, wie viel – durch mich – im Leben von anderen geschehen konnte. Dabei bin ich selber doch so einfach und nicht mal besonders talentiert, schon gar nicht als Führernatur aufgewachsen. Im Gegenteil, ich war ein stilles...