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Heimatfront

Der Untergang der heilen Welt - Deutschland im Ersten Weltkrieg

AutorSven Felix Kellerhoff
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783838756219
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR

Die Materialschlachten und das Massensterben an den Fronten des Ersten Weltkriegs sind vielfach dokumentiert. Frauen, Kinder und alte Menschen erlebten die 'Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts' jedoch zu Hause. Sven Felix Kellerhoff gibt ihnen jetzt, hundert Jahre nach Kriegsbeginn, eine Stimme. Anhand von Tagebüchern, Heimatchroniken, Akten und Briefen schildert er ihr Leben, Denken und Fühlen im 'Großen Krieg' daheim - zum Beispiel in Viersen am Niederrhein und im ostpreußischen Landkreis Lötzen, in der Garnisonsstadt Hildesheim, der Universitätsstadt Freiburg im Breisgau, in der Residenzstadt München und natürlich in der Hauptstadt des Reiches, Berlin.

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HEIMATFRONT


»Wie viele Stimmen haben für diesen Herbst den Frieden prophezeit, wie oft hörte man sagen: Es ist ja unmöglich, einen vierten Kriegswinter zu überstehen – und nun denkt kein Mensch mehr an Frieden, und jeder macht sich auf den Kriegswinter gefasst.«

Aus dem Tagebuch von Charlotte Herder,

Freiburg, 6. Oktober 1917

GENAU 1563 TAGE. Eine überschaubare Zeit, die doch unendlich lang sein kann. 1563 Tage dauerte der Erste Weltkrieg für Deutschland, von der Mobilmachung im kraftstrotzenden wilhelminischen Kaiserreich am 1. August 1914 bis zur Unterzeichnung des Waffenstillstandes durch Vertreter der eben erst ausgerufenen demokratischen Republik am 11. November 1918. In diesen gerade einmal viereinviertel Jahren veränderte sich das Antlitz Mitteleuropas total. Fast zehn Millionen Soldaten kostete der Konflikt das Leben, außerdem mindestens fünf Millionen Zivilisten. Wie hoch die Zahl der dauerhaft Versehrten war, wurde nie erhoben – die geläufige Angabe von 20 Millionen Verwundeten ist nur ein grober Anhaltspunkt, weil darunter sowohl leicht- wie schwerstverletzte Männer fielen, psychische Schäden aber oft nicht registriert wurden.

Die politischen Folgen dieses massenhaften Tötens und Sterbens sind bekannt. Oft wird der erste moderne Großkrieg in Europa nach einer Formulierung des US-Diplomaten George F. Kennan als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Das ist durchaus zutreffend, denn ohne den Konflikt von 1914 bis 1918 hätte das 20. Jahrhundert einen radikal anderen Verlauf genommen. Auch den Schrecken des Graben- und Stellungskampfes, des industrialisierten Maschinenkrieges, haben Bücher wie Im Westen nichts Neues oder In Stahlgewittern schon früh eindringlich im kulturellen Bewusstsein verankert; beide Titel sind Teil des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen. Lange verdrängt waren die Ereignisse an der Ost- und der Südfront, an denen ebenfalls in vorher unvorstellbarem Maße getötet und gestorben wurde; inzwischen werden diese Aspekte des Ersten Weltkrieges etwas stärker wahrgenommen.

Dagegen wird bis heute kaum beschrieben, wie die Menschen daheim den Ersten Weltkrieg erlebten, in den Städten und Dörfern zwischen Schleswig und Oberbayern, zwischen Breisgau und Ostpreußen. Wie nahmen Frauen und Kinder, die Alten und die Millionen Männer zwischen 18 und 60 Jahren, die aus verschiedensten Gründen nicht an die Front einberufen worden waren, die Kämpfe wahr? Welche Rolle spielte der Krieg in ihrem Alltag? Wie veränderte sich ihr Leben?

Obwohl nur zwei kleine Randgebiete Deutschlands – zwischen Vogesen und Oberrhein im Westen sowie südlich und östlich von Königsberg im Osten – von den Kampfhandlungen überhaupt direkt betroffen waren und der Großteil der Gefechte französisches und belgisches, österreichisches und italienisches, am meisten aber polnisches und russisches Gebiet verwüstete, gab es eine Heimatfront. Der Krieg wurde hier ebenso geführt wie in den Schützengräben, nur mit anderen Methoden. Als Waffen dienten nicht Schrapnellgranaten und Maschinengewehre, sondern Kriegsanleihen und Propagandaplakate; das Leben wurde nicht bestimmt von monatelanger Langeweile in den Schützengräben und den kurzen, aber im wörtlichen Sinne lebensgefährlichen Angriffen der Gegner auf die eigenen Stellungen oder eigenen Attacken auf feindliche Befestigungen. In Deutschland bestand die größte Herausforderung spätestens ab dem Winter 1915/16 vielmehr im Kampf um das tägliche Brot. Um Positionen in den Schlangen vor Butterhandlungen oder Fleischereien rangen hungrige, oft verzweifelte Mütter und Kinder kaum weniger verbittert als ihre Männer, Brüder, Söhne oder Väter. Im Hungerwinter 1916/17 starben Hunderttausende Deutsche an Unterernährung; noch viel mehr entkamen diesem Schicksal nur um Haaresbreite.

Das Wort Heimatfront selbst etablierte sich erst in diesen viereinhalb Jahren. In der sechsten Auflage von Meyers Enzyklopädie, erschienen 1906 bis 1909, war es noch nicht gelistet; in der politischen Publizistik der frühen 1920er-Jahre dagegen taucht der Begriff häufig auf. Ähnliches gilt übrigens für das englische und das italienische Pendant. Obwohl diese Entente-Staaten anders als Deutschland nicht unter einer effizienten Seeblockade litten, sondern in großem Umfang Lebensmittel und Rohstoffe aus Übersee importieren konnten, setzten sich 1914 bis 1918 auch bei ihnen die Wortschöpfungen home front und fronte interno durch. Im Französischen dagegen gab es keine Entsprechung. Das überrascht nur auf den ersten Blick. Weil der zwar flächenmäßig relativ kleine, ökonomisch aber äußerst wichtige Nordosten des Landes rund vier Jahre lang von deutschen Truppen besetzt war, fand der Krieg aus französischer Perspektive wesentlich auf eigenem Territorium statt – also in der Heimat. Für eine Trennung zwischen Front und Heimatfront war entsprechend kein Raum.

Die grundsätzlichen sozialen Entwicklungen in Deutschland zwischen 1914 und 1918 sind schon vor Jahrzehnten substanziell beschrieben worden. Jürgen Kocka beleuchtete sie 1973 in seiner methodisch bahnbrechenden Arbeit Klassengesellschaft im Krieg, einem der Marksteine in der Differenzierung der klassischen Geschichts- zur historischen Sozialwissenschaft. Drei Jahrzehnte später bilanzierte Kockas langjähriger Bielefelder Kollege Hans-Ulrich Wehler die Ergebnisse dieser Unterdisziplin im vierten Band seiner gewaltigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte. Doch beide Arbeiten, Standardwerke bis heute, berührten eine entscheidende Frage nur am Rande: Wie fühlte sich der Krieg in der Heimat an?

Für ganz Deutschland lässt sich eine solche Frage schlechterdings nicht in nur einem Buch beantworten – man muss zwangsläufig auswählen. In meinem 2011 erschienenen Band Berlin im Krieg über die Reichshauptstadt zwischen 1939 und 1945 habe ich mich regional bewusst stark konzentriert. Für den Ersten Weltkrieg kam eine solche regionale Beschränkung nie infrage. Studien zu einzelnen Orten, oft aktengestützt, gibt es durchaus. So wenig wie diese hätte auch eine lokale Untersuchung die leitende Fragestellung beantworten können, wie die Situation in Deutschland insgesamt war. Aber wie wählt man die Orte aus, die man genauer betrachtet? Und welche Quellen legt man einer solchen Arbeit zugrunde? Die scheinbar unterschiedlichen Probleme erwiesen sich als untrennbar miteinander verbunden. So viele Quellen inzwischen auch ediert oder in anderer Form zugänglich sind – repräsentativ sind nur wenige von ihnen. In der Konzeptionsphase dieses Buches wurde mir daher klar, dass ich außer auf Zeitungsartikel aus deutschen und internationalen Blättern vor allem auf ausgewählte Selbstzeugnisse zurückgreifen musste.

Zwei Orte standen von vornherein fest: Die Reichshauptstadt Berlin war unverzichtbar, ebenso die bayerische Residenzstadt München. Hier konzentrierte sich 1914 bis 1918 das politische Geschehen, erreichte die Revolution in den letzten Kriegstagen ihren ersten Höhepunkt. An Quellen herrscht für beide Städte kein Mangel: Hinsichtlich Berlins sind etwa das brillante Kriegstagebuch des zu Unrecht nur noch als Namensgeber eines Journalistenpreises in der Öffentlichkeit präsenten Chefredakteurs des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, sowie die Aufzeichnungen der expressionistischen Künstlerin Käthe Kollwitz zu nennen. Ergänzend kamen die Stimmungsberichte des Berliner Polizeipräsidenten hinzu, das Tagebuch der Fürstin Blücher, einer gebürtigen Britin, und weitere Zeugnisse. Für München stellen die bis 1917 überlieferten Tagebücher des Anarchisten und Bohemiens Erich Mühsam die wichtigste Quelle. Für die letzten Monate des Krieges sind die reflektierten Aufzeichnungen des Gymnasiallehrers Josef Hofmiller ausschlaggebend, außerdem die Memoiren der großbürgerlichen Frauenrechtlerin Constanze Hallgarten.

Welche Regionen jenseits Berlins und Münchens sollten und mussten einbezogen werden, um ein Bild von »Deutschland im Ersten Weltkrieg« zeichnen zu können? Ich entschied mich für Freiburg im Breisgau, das Hauptziel der im Ersten Weltkrieg noch recht seltenen und ineffizienten Luftangriffe. Charlotte Herder, die Ehefrau des Verlegers Hermann Herder, hat das Leben dort in ihrem weitgehend vergessenen Kriegstagebuch beschrieben. Außerdem wählte ich die Garnisonsstadt Hildesheim, zu der es nicht nur die detaillierte, zeitnah entstandene Heimatchronik von Adolf Vogeler gibt, sondern auch das aus gewissermaßen externer Perspektive geschriebene Tagebuch von Annie Dröege, der britischen Ehefrau eines Deutschbriten, der 1914 bis 1917 als »feindlicher Ausländer« interniert war, obwohl seine Familienverhältnisse nicht anders als bei Kaiser Wilhelm II. waren: deutscher Vater und britische Mutter mit Lebensmittelpunkt auf dem ererbten Besitz in Deutschland.

1914 lebte nur ein gutes Drittel aller Deutschen in Groß- und Mittelstädten, die Mehrheit aber in Kleinstädten und auf dem Land. Auch diese Regionen sollten vertreten sein. Ich entschied mich daher einerseits für das Dreistädtegebiet Viersen – Dülken – Süchteln am Niederrhein in Grenznähe zu den 1914 bis 1918 neutralen Niederlanden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens hatte Peter Stern, Oberbürgermeister von Viersen, schon bald nach dem Krieg eine materialreiche, wenngleich sehr nüchterne Broschüre über Kriegszeit und Kriegswirtschaft in Viersen veröffentlicht. Zweitens hat das...

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