Prolog
Begegnungen
Die Schläge seines Herzens dröhnen wie Kriegstrommeln in seinen Ohren, so laut, dass sie jedes Geräusch seiner Umgebung übertönen. Seine Tunika ist trotz der Kühle des halbdunklen Eichenwalds schweißnass. Ein verstohlener Blick in die Runde sagt ihm, dass es den Kriegern, die ihn auf seiner Mission begleiten, nicht viel anders geht. Ihre Hände umklammern krampfhaft die Griffe der locker an den Schultergurten hängenden Schwerter, sodass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Die runden Schilde haben sie sich auf den Rücken geschnallt, wie bei jedem Marsch durch unsicheres Gebiet, wo man hinter jedem Baum oder Felsen einen Hinterhalt vermutet. Sie sind nervös und ängstlich, zucken bei jedem Geräusch zusammen. Ihre Köpfe drehen sich hin und her, während sie spähend Ausschau halten. Demetros atmet tief ein und spürt, wie die Angst ihm die Kehle zuschnürt. Ja, die Krieger, die seine Stadtherren zu seinem Schutz abgestellt haben, fürchten sich vor dem, was vor ihnen liegt, genauso wie er selbst. Kein wirklich beruhigender Anblick.
Doch er hat keine Wahl. Die Anweisungen, die er von seinen Herren, den Obersten der Stadt Massalia erhalten hat, sind eindeutig. Genauso eindeutig haben sie klargemacht, dass sie eine Ablehnung seinerseits nicht akzeptieren würden. Sie sähen keine andere Möglichkeit, hatten sie ihm erklärt. Sicher, Massalia sei eine Hafenstadt, doch seit die Karthager den Seeweg durch die Straße von Gibraltar nach Tartessos, dem bis dahin wichtigsten Umschlaghafen für das wertvolle Zinnerz, versperrten, wurde es nötig, die bislang unbeachtet gelassenen Landhandelswege zu erschließen. Die Stadtherren hatten vom griechischen Mutterland den Auftrag erhalten, Kontakt mit den Stämmen aufzunehmen, die im Norden an den wichtigsten Knotenpunkten der Zinnhandelslinien lebten, und sich mit diesen gut zu stellen. ›Was immer es kosten möge!‹ Dieser Satz klingt Demetros immer noch in den Ohren.
Er schüttelt den Kopf. ›Was immer es kosten möge!‹ Und wenn dieses ›was immer‹ nun sein Leben ist? Für die Massalioten, die sich jahrzehntelang ausschließlich auf den Seehandel konzentriert hatten, ist das Gebiet, durch das sie sich seit mehreren Tagen bewegen, völliges Neuland. Besiedelt, wenn man den Erzählungen einzelner Reisender glauben darf, von wilden Stämmen, die nackt kämpfen! Die ihren Feinden die Köpfe abschlagen und als Schmuck in ihren Häusern aufbewahren! Und die Unmengen Wein trinken. Unverdünnt! Was für Barbaren!
Letzteres ist zumindest ein Ansatzpunkt. Und so hat Demetros vor acht Tagen mit fünf von Ochsen gezogenen Wagen voller Weinamphoren die hellen, sauberen Straßen und vor allem die schützenden Mauern Massalias verlassen, um mit eben diesen Barbaren über die Teilnahme an dem über Land und die Flüsse stattfindenden Zinnhandel zu verhandeln. Schon nach zwei Tagen hörten die schönen, ausgefahrenen Wege auf. Von da an ging es weiter über etwas, was kaum den Namen Feldweg verdiente; wenig benutzte Pfade, die oft völlig im Gras verschwanden. Niemandsland! Nein, schlimmer noch, Barbarenland! Ganze zehn Krieger hatten ihm die Stadtherren bewilligt! Zehn Krieger gegen eine unbekannte Zahl von Kopfjägern! Unbewusst wendet Demetros sein Gesicht gen Himmel. Doch selbst die Götter scheinen ihm das Mitleid versagen zu wollen. Dicke Wolken ziehen bedrohlich tief über die Wipfel der riesigen Eichen hinweg. Seinem Schicksal ergeben senkt er den Blick und trottet weiter.
Ein Schrei reißt ihn aus seinem wohligen Selbstmitleid. Blitzschnell dreht Demetros sich um und sieht gerade noch, wie einer seiner Krieger mit einem Pfeil in der Brust zu Boden fällt. Ein weiterer stirbt mit einem Pfeil im Hals, noch ehe er das Schwert ziehen kann. Und dann sind sie da. Zwanzig, dreißig! Von allen Seiten kommen sie!
›Das ist das Ende!‹, durchzuckt es Demetros. Ohnmächtig sieht er, wie noch zwei seiner Kämpfer unter den Lanzenstichen der Angreifer fallen.
Er schließt die Augen.
Die Schreie um ihn herum werden lauter. Kommen näher. Er presst die Augen noch fester zusammen in Erwartung der Schmerzen, die ihn in die ewige Dunkelheit reißen werden. Demetros ist kein mutiger Mann. Er ist fast 50 Jahre alt, klein und etwas beleibt, ein wohlhabender Händler eben, dem man den Wohlstand ansieht, und für den schon die Reise als solche eine unsägliche Strapaze bedeutet. Selbst wenn er seinen Dolch zöge, er hätte keine Chance.
Plötzlich verstummen die Schreie. Demetros wartet, doch nichts passiert. Dann hört er Gemurmel. Ganz vorsichtig öffnet er die Augen.
Um die Wagen herum liegen etwa 15 tote Männer. Sechs davon sind seine eigenen, die anderen gehören zu den Angreifern. Aber wie …?
Dann sieht er sie. Sie stehen da, auf ihre fast mannshohen Schilde gestützt, unterhalten sich in kehligen Lauten oder sehen ihn einfach nur an. Einer kniet neben einem von Demetros’ Männern, der verletzt auf dem Boden liegt.
Demetros schreckt zusammen, als ein großer – wirklich großer! – Krieger der Fremden auf ihn zutritt. Der sieht die Angst in Demetros’ Augen und hebt schnell die Hand zu einer beruhigenden Geste. Demetros schaut ihn verständnislos an, dann begreift er: Die toten Angreifer sind in schmutzige, zum Teil zerrissene Hemden gekleidet. Ihre Waffen sind grobe, selbst gebaute Lanzen, Steinschleudern. Hier und da liegen vereinzelt Pfeilköcher und Bogen herum. Die Krieger, die hier vor ihm stehen, tragen dagegen wertvolle Schwerter und Dolche, Waffen für den Kampf Mann gegen Mann. Ihre Kleidung ist grellbunt, wirkt gepflegt und sauber. Den Kopf des Kriegers, der jetzt direkt vor Demetros steht, bedeckt ein metallener Helm mit seitlich angesetzten großen Hörnern. Und seine Augen sehen Demetros keineswegs unfreundlich an.
Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen. »Danke!«, sagt er, in dem er auf die am Boden liegenden Räuber zeigt. Dann legt er seine Hand auf die Brust. »Demetros«, sagt er.
Sein Gegenüber zeigt auch auf die toten Männer und sagt dabei ein Wort, das bei Demetros nur als Gurgeln ankommt, dessen Tonfall jedoch keinen Zweifel an der mangelnden Wertschätzung gegenüber den toten Gegnern lässt. Dann legt er ebenfalls die Hand auf die Brust. »Bolg.«
»Bolg«, wiederholt Demetros.
Der andere nickt. Dann hebt er den rechten Arm und deutet einen Kreis an, der sowohl Demetros als auch seine umstehenden Krieger einschließt. Dann deutet er in die Richtung, in die Demetros’ Reise weitergegangen wäre. Noch einmal zeigt er auf alle Männer, dieses Mal schließt er auch die Wagen mit den Weinamphoren ein. Jetzt hat Demetros verstanden. Die einsame Reise seiner kleinen Gruppe hat ein Ende gefunden. Die fremden Krieger werden sie leiten. Demetros macht erst die umfassende Bewegung des Anführers, zeigt dann auch in die Richtung, hebt fragend die Schultern und kehrt die Handflächen nach oben. »Wohin?«
Sein Gegenüber versteht. Er wiederholt die Bewegung und sagt dann ein Wort, das in Demetros Ohren so ähnlich klingt wie Kelti …
Fragen über Fragen
Ob die ersten Begegnungen griechischer Händler mit den Kelten tatsächlich so verlaufen sind, sei einmal dahingestellt. Belegt ist jedoch der Name des Volkes … Oder doch nicht …?
Historisch berichtet wird über die Kelten relativ spät. Um 700 v. Chr. spricht der griechische Dichter Hesiod von den »Hyperboreern«, dem »unbekannten Volk jenseits des Nordwinds« (womit er vermutlich die Alpen meint). Um 450 v. Chr., ca. 90 Jahre nach der fiktiven Begegnung von Demetros, dem Händler aus Massalia – dem heutigen Marseille – und Bolg, dem keltischen Krieger, berichtete der griechische Reisende und Geschichtsschreiber Herodot als Erster von den Kelten, die hinter den Säulen des Herkules (der Meeresenge von Gibraltar) leben. Zu diesem Zeitpunkt waren die Kelten für den externen Beobachter (in diesem Fall Herodot) also bereits als Volk erkennbar, das sich offensichtlich auch selbst so bezeichnete. Und wenn es das tat, dann sicher nicht erst ab dem Tag, an dem Herodot bei ihnen auftauchte. Stellt sich die Frage: Ab wann nannten sie sich »Kelten«?
Die Kelten hatten keine Schrift und haben daher ihre Geschichte nicht schriftlich niedergelegt. Schriftliche Berichte über Begegnungen mit Kelten sind von den griechischen und römischen Autoren Herodot und Plinius dem Älteren überliefert. Allerdings fließen die Erkenntnisse anderer Wissenschaften, wie Archäologie, Linguistik und vergleichende Völkerkunde in unser Wissen über die Kelten ein. Daraus ergeben sich Theorien mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad – mit allen Defiziten.
Wissen wir denn, ob uns die Archäologie ziemlich viel oder eher relativ wenig über die Lebensweise dieses Volkes eröffnet hat? Wie viel wurde von Grabräubern und Schatzjägern zum Teil unwiederbringlich zerstört?
Und verursacht nicht der Drang, alles zu systematisieren, Zeitepochen und Kulturkreisen zuzuordnen, ebenfalls Verständnisprobleme und Irrtümer? Schulbücher sprechen von Stein-, Bronze- und Eisenzeit und geben dazu ungefähre Jahreszahlen an. Aber: Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation ist ein fließender Prozess. Es gibt kaum einen Teil dieses Prozesses, der nicht mit den anderen Elementen interagiert. Wenn ich am Knoten eines Netzes ziehe, bewegt sich nicht nur dieser Knoten, sondern alle angrenzenden ebenfalls. Je stärker der Zug, also je einschneidender das historische Ereignis, desto weitreichender die Folgen. Natürlich kann ich aus einem Zeitstrahl ein Stück herausschneiden und ihm einen Namen geben. Aber ist das – außerhalb von Gliederungsschemen für Museen und Kapitelunterteilungen von Lehr- und Sachbüchern – wirklich...