1. Vorlesung
Das Herz, das Soma und die Psyche
Psyche und Soma als System
Im Rückblick auf die letzten 25 bis 30 Jahre kann man feststellen, dass unser psychosomatisches Wissen, insbesondere durch neuere Erkenntnisse der Psychophysiologie und der Neurobiologie, enorm zugenommen hat. Es hat sich zudem differenziert und neue Anwendungsfelder erschlossen. Wir fragen heute nicht nur wie früher nach einer möglichen seelischen Verursachung körperlicher Erkrankungen und Störungen, d. h. nicht nur nach der psychogenen Ätiopathogenese, sondern auch nach seelischen Folgen psychosomatischer und organischer Krankheiten, nach ihrer Bewältigung und dem Krankheitsverhalten. Dabei erscheint das Zusammenspiel von körperlichen und seelischen Krankheitsfaktoren heute zwar komplexer, aber viel weniger geheimnisvoll als in früheren Zeiten.
Klären wir zunächst, was der Begriff „Psychosomatik“ bedeutet: Die Psyche, zu deutsch die Seele, meint den Ort des Erlebens – also der mentalen Prozesse. Der Psyche ordnen wir die Affekte und Vorstellungen, das Fühlen und Denken, die Wahrnehmung, das Wissen und die Erinnerung zu. Sie ist nicht direkt greifbar, sondern an ihren Äußerungen erfassbar. Ganz anders ihr Gegenstück – der Körper, griechisch Soma. Er ist der sichtbare Ort der organischen Strukturen und ihrer Funktionen. Der Begriff Psychosomatik beschreibt das Zusammenwirken von Leib und Seele und die Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen.
Heute stellen wir die Psychosomatik in einen größeren Zusammenhang. Wir beziehen das soziale Umfeld des Menschen in die Betrachtung mit ein. Thure von Uexküll2, der bekannteste Psychosomatiker der letzten Jahrzehnte, hat für diese erweiterte Sicht ein bio-psycho-soziales Modell (Abb. 1) entworfen. Er beschreibt die Beziehung zwischen Seele, Körper und Umwelt als einen stufenweisen Problemlösungsprozess, der durch die Wahrnehmung von Lösungsaufgaben, Bewertungen, phantasierten Handlungsentwürfen, Probehandlungen und endgültige Problemlösungen dargestellt wird. Störungen in diesem zirkulären Prozess sind gleichbedeutend mit Krankheit; diese bewirkt Störungen und wird durch Störungen hervorgerufen.
Abb. 1: Der Situationskreis nach v. Uexküll (aus Ermann 2004)
Doch wieso sind Leib und Seele in unserem neuzeitlichen Verständnis eigentlich getrennte Bereiche, so dass wir Modelle brauchen, um das psychosomatische System, welches sie bilden, erfassen zu können? Die Polarisierung zwischen Leib und Seele ist das Ergebnis des kartesianischen Denkens des 17. Jahrhunderts. Es beruht auf Descartes, dem französischen Philosophen und Naturwissenschaftler, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Trennung von Geist (res cogitans) und Materie (res extensa) zur Grundlage seines Weltbildes gemacht und damit das abendländische Denken der Neuzeit tief geprägt hat. Dieses Denken hat das monistische abendländische Menschenbild abgelöst, das die Vorstellung bis dahin beherrschte und dessen Wurzeln bis in die griechische Antike zurückreichten. Es ist übrigens auch verschiedenen Naturmedizinen eigen.
Hippokrates, der berühmte Arzt der antiken Welt, betrachtete Seele und Körper in seiner Philosophie um 400 v. Chr. als Einheit. Allerdings definierte er die Seele als Funktion des Körpers und ordnete sie dem Körperlichen unter. Diese Denktradition taucht in der biologischen Psychiatrie der Neuzeit wieder auf. Sie bestimmte aber bereits das Mittelalter und die Aufklärung mit der Vorstellung, dass die Seele, zumindest aber das Fühlen und Denken, im Gehirn lokalisiert ist. So hat Descartes um 1650 die Zirbeldrüse zum Sitz der Seele und der Emotionen erklärt. Er lehrte, dass sie auch anatomisch das Zentrum des Gehirns bilde und körperliche Funktionen in Gang setzen und beeinflussen könne.
Das limbische System als „psychosomatische Zentrale’’
Die moderne Entwicklung der psychosomatischen Medizin fand ihre Anfänge mit Brucker, einem Chirurgen und Anthropologen, der um 1875 die Hirnregionen rund um den Hirnstamm anatomisch-chirurgisch untersuchte und zu der Vorstellung gelangte, dass in diesem Bereich die wesentlichen Schaltstellen zwischen seelischen und körperlichen Prozessen liegen. Diese Vorstellung wurde nach 1950 weiterentwickelt, als man die Strukturen und Funktionen des limbischen Systems und seiner Verknüpfungen einerseits zum Großhirn, insbesondere zum Frontalhirn, andererseits zu den peripheren Organen ausführlicher untersuchte. So wurden auch die anatomischen und physiologischen Grundlagen dieser Verknüpfungen beschrieben.3 Auf dieser Basis verfügen wir heute über ein relativ präzises Wissen über die Bedeutung des limbischen Systems als dem zentralen Ort der Informationsverarbeitung und Schaltstelle zwischen Körper und Seele, zwischen Psyche und Soma.
Das limbische System (Abb. 2) hat sich als Zentrale der psychosomatischen Verknüpfungen und Verschaltungen erwiesen. Anatomisch betrachtet, besteht es aus Neuronengruppen, die ringförmig um den Hirnstamm im Zentrum des Gehirns gruppiert sind. In der Nachbarschaft liegt die zentrale Hirnhöhle, der sog. dritte Ventrikel. Die bedeutendsten limbischen Strukturen sind der Hippocampus (Ammonshorn) und der Mandelkern (Nucleus amygdalae). Verschiedene Fasersysteme, die den dritten Ventrikel umspannen, bilden die anatomische Grundlage für die Funktionskreise, die als zentrale Schaltstellen über die Verknüpfung von Wahrnehmungen, Gedächtnis, Emotion und vegetativen Funktionen walten.
Das limbische System ist über doppelläufige Bahnen mit den Hirnarealen verbunden, in denen Denken und Erinnerung lokalisiert sind und die Verarbeitung von Sinneseindrücken stattfindet. Die vorverarbeitete Information wird in den limbischen Strukturen ausgewertet und gefiltert: Emotional Unbedeutendes wird gelöscht, während Bedeutsames zu Affekt- und Triebaktivierungen weiterverarbeitet wird. Diese nehmen Einfluss auf die Zentren im Hirnstamm, von denen vegetative Funktionen gesteuert werden. Außerdem erhält das limbische System über periphere Nerven und das Rückenmark Informationen aus den peripheren Organen, an die es umgekehrt seinerseits auch wieder Informationen zurücksendet.
Abb. 2: Hippocampus und Mandelkern bilden das Zentrum des limbischen Systems. Sie wirken bei der Bildung und Regulierung von Gefühlen mit dem Hypothalamus und der präfrontalen Rinde zusammen (nach Kalin 1994 aus Deneke 1999)
So bildet es die organische Matrix für Verarbeitungsprozesse, bei denen Fühlen, Denken, Erinnern und körperliche Funktionen sich gegenseitig beeinflussen. Mit diesen Kenntnissen bereitet es heute keine Schwierigkeiten mehr, die früher so geheimnisvoll wirkenden Verknüpfungen zwischen psychischen und somatischen Funktionen auf eine empirisch belegte Grundlage zu stellen.
Wenden wir uns vor diesem Hintergrund der Psychosomatik des Herzens zu. Wir betrachten also das Herzorgan und die Psyche als integriertes System. Dabei setzen wir zwei Schwerpunkte: die Wechselwirkung zwischen Erleben und Herzfunktion, und die Einbettung des Herzens in das Erleben. Beginnen wir mit den Bedeutungen des Herzens und den Zuschreibungen an das Herz.
Zur Metaphorik des Herzens
In der Kunst steht das Herz vor allem für die vielfältigen Facetten der Liebe. Sein Herz zu verlieren oder zu verschenken, ist Ausdruck der größten liebevollen Hingebung. Auf diese Weise wird das Herz zum Unterpfand der Liebe. So dichtet schon das Mittelalter:4
„Dû bist beslozzen in mînem herzen
Verlorn ist daz slüzzelîn
Du muost immer drinne sîn.“
Die Qualen der erfüllten und unerfüllten Liebe zeigt die Darstellung der Leidenschaften der Frau Minne aus dem 13. Jahrhundert (Abb. 3).
Abb. 3: Die Leidenschaften der Frau Minne; aus dem 13. Jahrhundert
Und auch Goethe sinnt in seinem ost-westlichen Diwan der Tiefe der Liebe nach:
„Warum gabst du uns die tiefen Blicke unsere Zukunft
ahnungsvoll zu schaun, unsere Liebe,
unserem Erdenglücke wähnend seelig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns Schicksal die Gefühle,
uns einander in das Herz zu sehn,
um durch all die seltenen Gewühle
unser wahr Verhältnis auszuspäh’n?“
In religiösen Darstellungen steht das Herz für die göttliche Liebe. Dabei erscheint das Herz Christi von Dornen umrankt, oft auch als Kraft neuen Lebens, die durch einen Pflanzenspross dargestellt wird, der in einem Herzen wurzelt. In der Darstellung von Tieren erscheint die Liebe Gottes als Herz, das aus dem Leibe gerissen wird. In umgekehrter Bedeutung taucht dieses Motiv auch im Herzopfer der Azteken des alten Mexikos auf, wo die Gunst der Götter durch das Geschenk des Wertvollsten, des Herzens, gesichert werden soll.
Das Herz wird auch als Symbol der menschlichen Liebe zur Natur verwendet. So thematisiert Goethe in Ganymed:
„Wie im Morgenglanze
du rings mich anglühst, Frühling geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne
sich an mein Herze drängt deiner ewigen Wärme heilig Gefühl ...“
Auch für Veränderung und Abschied wird das Symbol des Herzens benutzt, so bei Horaz im 1. Jahrhundert v. Chr.:
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